Montag, 4. Februar 2019

Wo sind die Konservativen, wenn man sie braucht? 

Verhaltensänderungen in komplexen Systeme können im wesentliche auf zwei Arten erfolgen: evolutionär oder revolutionär. Ist der Druck auf das System eher schwach, oder baut sich graduell auf, so ist die Veränderung in den meisten Fällen eine evolutionäre, sie erfolgen in kleinen Schritten ausgehend vom aktuellen Zustand. In Organisationen nennt man dies Prozesse kontinuierlicher Verbesserung.

Schwieriger ist die Situation, wenn der Druck auf ein System sehr groß ist, oder so empfunden wird, und erforderliche Veränderungen weitreichend sind. Ein gutes Beispiel hierfür sind die notwendigen Transformationen unseres globalen Wirtschafts- und Finanzsystems. Aber auch in vermeintlich kleineren Problemfeldern, wie der Ablöse alter IT-Systeme, beobachten wir ähnliche Herausforderungen. Diese Beispiele haben gemeinsam, dass es sich um große Veränderungen in gewachsenen, und vor allem komplexen Systeme handelt.

Wir nennen Systeme komplex, wenn sich deren Verhalten aus der Interaktion sehr vieler Komponenten ergibt und diese Komponenten sich in Folge der Interaktion auch noch verändern können. Das gesamte Verhalten eines solchen Systems ist nicht aus der Beobachtung einzelner Komponenten ableitbar – es ist also nicht reduzierbar. Die Vorhersagbarkeit ist begrenzt und das zukünftige Verhalten stark von der Vergangenheit des Systems und vielfältigen Kontextfaktoren abhängig. Komplexe Systeme können längere Phasen hoher Stabilität zeigen, in denen Eingriffe nahezu keine Wirkung zeigen, dann aber zu schwer vorhersagbaren Zeitpunkten kippen. Die Effekte von Eingriffen in das System sind also kaum abschätzbar.

In der (politischen und Management-) Praxis erleben wir bei der Notwendigkeit solche Systeme zu transformieren in den letzten Jahrzehnten weitgehenden Stillstand. Einer der Gründe ist, dass politisch Progressive (oder Innovatoren in Unternehmen) weitreichende, schnelle Änderungen und Modernisierungen, oder gar die vollständige Ablöse des aktuellen Systems, fordern und dafür aus ihrer Sicht gute Gründe nennen. Vermeintlich Konservativen gehen diese Vorschläge zu schnell und zu weit, sie fürchten Veränderungen in etablierten und noch funktionalen Strukturen. Die Gegenreaktion ist oft überproportional. Das bemerkenswerte an dieser Situation ist aus meiner Sicht, dass beide Gruppen falsch liegen.

Progressive glauben grobe Nachteile des aktuellen Zustandes erkannt zu haben und meinen diese Altlasten möglichst schnell beseitigen zu müssen und – was noch wichtiger ist – auch zu können. Sie haben einen Plan und eine konkrete Vision, wie die Welt nach ihren Veränderungen besser sein wird. Revolution oder jedenfalls schnelle Transformation gesellschaftlicher Systeme scheint ihnen daher die bessere, ja sogar die notwendige Wahl zu sein. Revolutionäre unterschätzen dabei in aller Regel die Komplexität des Systems selbst sowie des Kontexts in das das abzulösende System eingebunden ist. 

Dazu zählen zunächst emotionale und psychologische Faktoren, wie die Verankerung der Menschen in Kulturen und geschichtlichen Zusammenhängen. Das führt dann bei schnellen Reformen immer wieder zu enttäuschenden Rückschlägen, wo das System am Ende schlechter da steht als zuvor. Denken wir an die schnellen Reformen, begonnen unter Atatürk in der Türkei oder um die iranische Revolution. Weiters gibt es fast immer äußere Abhängigkeiten oder notwendige Interaktionen mit anderen Entitäten. Anders gesagt: ein System ist selten alleine, sonder fast immer Teil anderer Systeme. Es gibt ein wichtiges Wechselspiel zwischen Individuum und Kultur, das in modernen Gesellschaften gewaltfrei und konstruktiv ablaufen sollte.
»Kulturen haben die Aufgabe, die individuelle Verhaltensvielfalt zu verringern. Während das einzelne Gehirnaufgrund seiner außergewöhnlichen Vernetzungsdichte im Prinzip eine hohe Fähigkeit zur Erzeugung überraschend neuer Muster besitzt, sind Kulturen notwendigerweise eher bewahrend. Die Kultur stabilisiert die Individuen.«, Peter Kruse, next practice. Erfolgreiches Management von Instabilität 
An dieser Stelle ist mir aber ein anderes, perfideres Problem, nämlich um die Frage, welche Funktion(en) das neue System überhaupt haben soll. In aller Regel möchte man bestimmte Eigenschaften des alten Systems, wenn auch in neuer Form, weiterführen. Soll ein Gesundheitssystem, das zu teuer und ineffizient ist, durch ein neues ersetzt werden, so muss dieses neue (und hoffentlich bessere) System immer noch viele Funktionen des alten ausführen. Viele Unternehmen scheitern sogar an der Ablöse alter IT-Systeme, oder sind gezwungen enorme Summen  dafür zu investieren. Und dies, obwohl es sich doch eigentlich »nur« um Computer – und daher um vermeintlich deterministische Funktionalität handelt. Auch in diesem Fall ist es aber so, dass die Computersysteme Teil eines größeren Ganzen sind: es gibt Fachabteilungen, Kunden, Programmierer, Betriebsmannschaften, Hardware, externe Komponenten, Management mit strategischen Erwartungen. Ein abzulösendes Softwaresystem ist daher das Ergebnis komplexer Interaktionen all dieser Teilsysteme über Jahrzehnte. Kein Teil, auch nicht ein Stück Software, kann ohne diesen historischen und organisatorischen Kontext verstanden werden.

Selbst wenn in der Vergangenheit sehr sauber und konsequent gearbeitet wurde (was in der Praxis selten der Fall ist) ist die bestehende Funktionalität nicht hinreichend und schon gar nicht vollständig dokumentiert.

Es wäre eine interessante theoretische Frage zu klären, ob es überhaupt hilfreich wäre, wenn alles vollständig dokumentiert ist. Denn der Umfang solcher Systeme ist so groß, dass kaum jemand aus einer vollständigen Dokumentation schlau werden würde. Die Zeit, die notwendig wäre, die Dokumentation zu lesen und zu verstehen würde jedes Konstruktionsteam wohl schon theoretisch überfordern.

Anders gesagt, die aktuelle Funktionalität liegt nicht explizit, sondern vielmehr in großen Teilen tacit (also still, implizit) vor. Das alte System erledigt eine Menge von Dingen, die selbst diejenigen, die täglich damit zu tun haben, nicht strukturiert niederschreiben könnten. Die Funktionalität des Gesamtsystems ist eine Kombination aus Software, Mitarbeitern, organisatorischen Strukturen, baulichen Strukturen, Maschinen, Dokumentation, externen Einflüssen usw. Dasselbe trifft auf jedes andere komplexe System zu: Gesundheitssysteme, Finanzsysteme, die Aufrechterhaltung elementarer Infrastruktur einer Stadt wie Wasser-, Stromversorgung usw.

Sind wir bei von uns geschaffenen Systemen schon nicht in der Lage deren aktuelle Funktionalität hinreichend zu verstehen, so trifft dies selbstverständlich in noch stärkerem Maße auch auf natürliche Systeme wie Ökosysteme zu. Trotz jahrhundertelanger kompetenter biologischer Forschung, kratzen wir oft nur an der Oberfläche des Verständnisses komplexer biologischer und ökologischer Zusammenhänge.
Theodore Roosevelt und John Muir im Yosemite Nationalpark

Diese Erkenntnis wäre daher die eigentliche Stärke konservativer Positionen und Politik. Man erkennt das etwa daran, dass es Konservative und nicht »Progressive« in den USA waren, die Nationalparks begründeten. Der Wissenschafter John Muir zählt  gemeinsam mit dem späteren republikanischen (!) Präsidenten Theodore Roosevelt zu den Begründern der moderenen Idee der US-Nationalparks. Das Bewahren und der vorsichtige Umgang mit natürlicher Systeme ist eine im Kern konservative Position, ja man könnte sagen die wesentlichste konservative Idee. So müsste selbstverständlich auch Klimaschutz ein Kern-Anliegen jedes Konservativen sein.

So gesehen ist es eigentlich verrückt, wie sich die Welt der Begriffe und politischen Leitlinien in den letzten Jahrzehnten verdreht haben. Denn dieser Kern, diese wesentliche Erkenntnis konservativen Denkens, dass es nämlich nicht sehr weise ist, massiv und schnell in bestehende Systeme einzugreifen, ist verloren gegangen. Visionäre Systeme am Papier zu erfinden und revolutionär umzusetzen ist so gut wie niemals eine gute Idee, denn eine schnelle und starke Abweichung vom Status Quo birgt prinzipbedingt erhebliche Gefahren und Risiken, und vor allem unerwartete Seiteneffekte. Dies sehen wir deutlich am Beispiel des Klimawandels. Die meisten Menschen, die sich konservativ nennen, müsste man heute eher Reaktionäre oder Opportunisten nennen.

Daher ist in vielen Fällen ein evolutionärer Zugang, stetige Transformation und Verbesserung, die bessere Option. Allerdings setzt dies, wie eben gesagt, eine stetige Transformation voraus, nicht langen Stillstand und dann den Versuch einer Transformation, denn das vereint die Nachteile evolutionärer und revolutionärer Prozesse. 

Dies ist aber die Politik die wir derzeit beobachten. Progressiven geht alles zu langsam und sie wollen sich nicht auf viele kleine und mühsame Schritte, und vor allem nicht auf den schwierigen Dialog einlassen, in der Furcht das Ziel aus den Augen zu verlieren oder von ihresgleichen als Verräter bezeichnet zu werden. Wer versucht in der Mitte einer breiten gesellschaftlichen Debatte zu stehen, wird aus progressiver Sicht häufig als rechter Agitator abgewertet. Ein schlimmer Irrtum.

Konservative auf der anderen Seite, haben einerseits oftmals ihre intellektuellen Wurzeln verloren und werden aus lauter Angst vor zu schneller Veränderung zu Reaktionären. In Summe führt dies entweder zu Stillstand, oder zu unüberlegten und unausgereiften Reformen. Wenn eine Seite einmal politisch zum Zug kommt, so werden Reformen mit wenig qualifiziertem Personal so schnell und schlampig aufgesetzt, dass sie beim nächsten Regierungswechsel einfach wieder rückgängig gemacht werden können. Obamas Gesundheitsreform ist ein perfektes Beispiel dafür: ohne die fundamentalen Probleme des US-Gesundheitssystem schrittweise anzugehen (beispielsweise die dramatischen Kosten, die aus systemischer Fehlentwicklung aus dem Einfluss privater Konzerne entspringt), wurde auf ein verdrehtes Fundament ein vermeintlich progressiver Aufsatz angeschraubt.

Statt ernsthafter und harter aber konstruktiver Auseinandersetzung zwischen Konservativen und Progressiven erleben wir eine hin- und her Politik, wo je nach politischer Gruppierung gerade mal für ein paar Jahre die eine oder andere Interessensgruppe bedient wird, oder es werden aus schnellen opportunistischen Ideen heraus langfristige Schäden angerichtet. Die Brexit-Abstimmung in Großbritannien ist ein Beispiel dafür.  Dabei geht es mir gar nicht um die Brexit-Idee an und für sich, sondern um die verheerend verlaufende Diskussion und die schlechte Vorbereitung.

Unsere Zukunft gerät bei solchem Dilettantismus konsequent unter die Räder.

Postskriptum: Ein fundamentaler Nachteil evolutionärer Prozesse ist allerdings, dass radikale Änderungen in aller Regel nicht möglich sind. Die Notwendigkeit radikaler Änderungen ist aber gerade die Folge mangelnder Evolution in der Vergangenheit. Stillstand ist in der Moderne fast immer Rückschritt. Ist transformative Änderung tatsächlich notwendig, kann es die erfolgsversprechendste Variante sein (wenn auch sehr schwierig konsequent umzusetzen), die alte Struktur am Leben zu halten und daneben mehrere neue Strukturen aufzubauen um zu testen, welche dieser neuen Strukturen sich als tragfähig erweist und dann letztlich die alte aussterben lassen. Kein einfacher und oft teuerer Prozess.

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Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)