In seinem lesenswerten Buch Erkenne die Welt, Eine Geschichte der Philosophie, Band 1, Antike und Mittelalter hat mich Richard David Precht auf einen sehr interessanten Aspekt der griechischen Antike aufmerksam gemacht. Er beschreibt die Bedeutung von Mythen für die damaligen Bewohner Griechenlands als »religiöse Geschichten, Erzählungen und Erklärungen. In den Mythen finden die Menschen ihren tagtäglichen Halt im Leben […] Die Dichter, so scheint es, sind ihre wichtigsten Autoritäten« und weiter:
»Was mit Thales, Anaximander und Anaximenes beginnt, ist nicht die Ersetzung des Mythos durch den Logos. Wohl aber tritt der Logos allmählich zum mythischen Denken als eine zweite Denkform hinzu. […] Offensichtlich stößt die rationale Erklärung in eine große Lücke.«
Die griechische Philosophie beginnt also diesen kulturellen und religiösen Narrativen etwas »rationaleres« gegenüberzustellen, das Logos. Dieser Versuch die Welt durch geistiges Hinterfragen, logische Schlussfolgerung und auch Beobachtung und Experiment zu erkunden ist die wesentliche Triebkraft für die weitere gesellschaftliche und technologische Entwicklung der Menschheit. Sie findet ihren vorläufigen Höhepunkt in der Aufklärung im 17. Jahrhundert.
Anaximander |
Die Denker und Philosophen (und später die Naturwissenschafter) bleiben aber eine Avant-Garde; im wesentlichen ein elitärer Kreis weniger Männer, die hinreichend Mittel und Zeit haben (oder diese von Adeligen oder Kirche bekommen) um neue Gedankenwelten zu erkunden. Sie streiten in ihren Kreisen über Erkenntnis, Philosophie, Naturgesetze und die Frage wie und wohin sich die Gesellschaft entwickeln soll. Dieses Gedankengut ist weder in der griechischen Antike noch in der europäischen Aufklärung Allgemeingut, noch wird es von einer Allgemeinheit entwickelt oder diskutiert.
Allerdings haben diese Zirkel direkt oder indirekt durchaus Einfluss. Schließlich zählen die Denker zur gesellschaftlichen Elite (oder beeinflussen diese unmittelbar). So »diffundieren« neue Gedanken und Erkenntnissem langsam aber stetig in die Breite der Gesellschaft und definieren letztlich neue gesellschaftliche Realitäten. Denken wir an die politischen Folgen der Aufklärung in Frankreich oder die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens nach der Neuzeit. Der stetige Aufstieg der Demokratie, die Abschaffung der Sklaverei, die Rechte der Frauen, der Marxismus und die sozialdemokratischen Bewegungen waren durchwegs von wenigen Intellektuellen geführt, allerdings mit einer zunehmenden Breite an gesellschaftlicher Involvierung.
Spätestens ab dem 20. Jahrhundert scheint mir, war es das Bestreben vieler Intellektueller eben diese Beschäftigung mit Philosophie, Naturwissenschaft und Politik von elitären Zirkeln in die Breite der Gesellschaft zu bringen und damit den Diskurs auf eine gesamtgesellschaftliche Basis zu stellen. Anders macht Demokratie als System auch nicht viel Sinn. Nicht zuletzt haben viele Technik-Optimisten auch das Internet als eine mögliche Antwort auf die Frage wie eine Integration aller Bevölkerungsschichten, eigentlich der ganzen Menschheit, in einen gemeinsamen konstruktiven Diskurs geschehen könnte.
Kurz gesagt, man hat versucht Logos zum Allgemeingut zu machen. Die Mythen, die (wenn auch in moderner Form) immer noch den Alltag der Menschen bestimmten, sollten in engere Grenzen verwiesen werden. Viele intellektuelle Bewegungen (vor allem der Linken) strebten das wohl an, nicht zuletzt der Sozialismus. Was sonst soll Chancengleichheit in einer Demokratie bedeuten? Diese kann nicht ausschließlich auf kommerziellen Erfolg ausgerichtet sein – das wäre eine seltsame Idee von Demokratie. Wie soll Demokratie funktionieren, wenn nur eine kleine Elite die wesentlichen Themen versteht und diskutiert, der Rest aber darüber abstimmen und vor allen Dingen die Folgen tragen soll?
Im vorigen Jahrhundert schien der Erfolg zum Greifen nahe. Das Projekt der Demokratisierung des Logos könnte gelingen, so dachten viele. Es gab zunehmend allgemeine Schulbildung, Sozialsysteme, öffentliche Bibliotheken (wie auch das Internet), zunehmender Wohlstand und damit Zeit um nachzudenken – jedenfalls in den Industriestaaten.
Aber dann geschah etwas, mit dem viele nicht gerechnet, und was viele Intellektuelle bis heute nicht durchdrungen haben: Die Komplexität der Welt nimmt – und dies ist wichtig: durch die Schuld der Eliten – in ungeheurem Maße zu. Globalisierung der Wirtschaft, verrückte Finanzprodukte, einer außer jeder Vernunft geratenen Finanzindustrie (ja, die Eliten gehen sogar so weit, die besten Köpfe der besten Universitäten dazu zu verwenden immer komplexere finanzielle Scheinwelten zu konstruieren, die schließlich jeden vernünftigen Bezug zur Realität verlieren), Vernetzung und Digitalisierung aller Lebensbereiche – das Internet.
Erinnern wir uns nur an die späten 1990er Jahre. Niemand hatte im Grunde eine Vorstellung, was das Internet tatsächlich leisten könnte. Es war uns allenfalls klar, dass es sich um eine ungeheure Erfindung handelt. Jeder der skeptisch über die möglichen Konsequenzen nachdachte, wurde als Fortschritts- und Demokratiefeind bezeichnet. Wir, die Eliten wussten natürlich auch nicht wo es hingeht, aber wir haben alle mit großer Arroganz davon überzeugt, dass wir schneller dort sein sollten. Wer ist schon gegen Zukunft, gegen Fortschritt, gegen Demokratie, gegen freie Meinungsäußerung, gegen Frieden gar!
(Natürlich trifft dies nicht nur auf das Internet, sondern auf viele andere technisch/gesellschaftliche Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts zu. Allerdings war keine andere so schnell und flächendeckend disruptiv, so dass eine langsame und vernünftige Auseinandersetzung mit den Folgen noch in einem gewissen Maß möglich gewesen ist.)
Und gerade zu diesem Zeitpunkt des vermeintlichen Triumphes, der Durchdringung aller gesellschaftlichen Schichten mit »Logos«, so scheint es, haben wir in unserer Ungeschicklichkeit die Welt in Komplexität explodieren lassen. Und mit »wir« meine ich eben diese Eliten, die sich Vernunft, Rationalität und Wissenschaft und letztlich die Erklärung der Welt auf die Fahnen geschrieben haben.
»Die Geister die ich rief, werd ich nun nicht mehr los.«
Wir haben stets den Eindruck verbreiteten alles im Griff zu haben und den Weg zu kennen. In Wahrheit haben wir keine Ahnung wo wir die Gesellschaft hinführen. Wir haben noch nicht einmal die Größe diese Unkenntnis und die Ver(w)irrung zuzugeben. Anders ausgedrückt: die Eliten selbst haben sich zunehmend unkritisch in ihre eigenen Mythen verliebt (Wirtschaftswachstum, Trickle Down Effekt und andere »neoliberale« Ideen, Leistungs-, Informationsgesellschaft, modernes Finanzdienstleistungen, Transparenz, Innovation, Big Data, etc.) und vergessen diesen im griechischen Sinne ein Logos gegenüberzustellen.
Nun stehen die Menschen wieder vor dem Unverständnis nur haben sie intuitiv begriffen, dass diesmal nicht »die Natur« daran Schuld ist (höhere Gewalt, sozusagen), sondern die vermeintlichen Eliten, die jahrelang behauptet haben rational und mit Weitsicht zu handeln. Es stellt sich heraus, der Kaiser trägt keine Kleider, nur die Arroganz vor sich her. Und nun wundern sich die Eliten, dass die »breite Masse« der Politik und den Intellektuellen kein Wort mehr glaubt?
Was manche als postfaktisch bezeichnen ist die enttäuschte Abwendung vom Logos und eine Rückkehr zu Mythen. Das bemerkenswerteste an dieser Situation ist, dass die neuerliche Zuwendung zu Mythen gerade von den Eliten ausgegangen ist. Erst dieses massive intellektuelle Versagen hat der postfaktischen Gesellschaft – also den neuen Mythen der Rechten und Populisten – Kraft verliehen.
Mythen geben in einer modernen, komplexen Welt kurzfristig Halt und vermeintliche Orientierung, bieten aber keinerlei Lösungskompetenz. Der Faden ist, so will es mir scheinen, gerissen. Gerade in einer Zeit, wo wir Bildung, Vernetzung und geradezu universalen Zugriff auf das Wissen der Welt haben, will dieses Wissen niemand mehr haben. Ein Treppenwitz der Geschichte.
Postscriptum
Es ist bedrückend zuzusehen, dass es immer noch einen sehr, sehr kleinen Teil der Bevölkerung gibt, der noch ernsthaft über die Welt nachdenkt – aber die Welt hört längst nicht mehr zu. Es ist geradezu gespenstisch diese Gespräche zu verfolgen. Ein winziger Kreis diskutiert Themen von höchster Relevanz in bemerkenswerter Tiefe, legt den katastrophalen Zustand der Welt offen, bieten Anhaltspunkte an denen man weiterarbeiten müsste. Und man weiß gleichzeitig, dass dies niemand, aber absolut niemand in der »echten« Welt auch nur im Ansatz bemerkt.
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