Dienstag, 29. Dezember 2020

Das Versagen der Effizienten

Eine der wichtigsten Fragen, die wir aktuell viel zu wenig diskutieren: Warum sind viele der  Organisationen (WHO, Ministerien, Rechtssystem, Universitäten/Forschung...) so verheerend schlecht im Umgang mit den existentiellen Problemen der Zeit?

Ein Aspekt dürfte im Alter der Organisation liegen: Alter bedeutet häufig Versteinerung. Strukturen und Hierarchien werden dominant, verknöchern und sind zu kaum einer Flexibilität mehr fähig. Diejenigen im System haben keinerlei Interesse Risiko einzugehen, business as usual aber (und nur darin sind wir richtig gut) führt die anderen in die Krise.

Dies ist ein Problem, vor allem auch gepaart mit der Tatsache, dass sich Prozesse in modernen Gesellschaften evolutionär ändern –was an und für sich eine gute Sache ist – aber alte Zöpfe fast nie angegriffen werden. Persönliche Risikovermeidung der Führungskräfte führt zu Risikomaximierung der Allgemeinheit. Die Folge ist ein Schichtenbau an Komplexität, wo das Neue fast nie das Alte ablöst. Wir beobachten archäologische Schichten über Schichten an neuen Prozessen, die mit alten und älteren Prozessen, Prozeduren, Strukturen interagieren. Irgendwann wird jede Veränderung nahezu eine Unmöglichkeit. Seiteneffekte sind nicht mehr greifbar, Ziele kaum erkennbar.

Der Hauptpunkt aber ist, dass wir mit Transparenz, Effizienzsteigerungen und Digitalisierung (TED) eine Menge Schaden angerichtet haben, ohne dies zu wollen. Wir haben nicht verstanden, dass diese Maßnahmen ein zweischneidiges Schwert sind. Die eine Schneide haben wir betrachtet und beworben: Verhindern von Korruption, Beschleunigung von Prozessen, Streamlinen, Offenheit von Organisationen, Klarheit von Entscheidungen, (kurzfristig) niedriger Kosten usw. 

Die zweite Schneide haben wir übersehen: Diese TED-Maßnahmen sind vergleichbar mit einem Kompressor in der Audio-Technik: ein solcher Filter drückt Wellenformen bildlich gesprochen zusammen. Laute Anteile werden leiser, die leisen werden lauter.

Die Schwächsten in unseren Organisationen haben wir etwas angehoben, den Missbrauch Einzelner etwas reduziert und das Mittelmäßige optimiert – soweit nach Plan. Was wir nicht bedacht haben ist, dass wir auch alles Exzeptionelle kaputt gemacht haben. Der Herausragende kommt nicht aus einem Standard-Prozess, kommt niemals aus einer Effizienzmaßnahme. 

Der hervorragende Denker und Macher(!) wird durch Transparenz nicht besser, sondern schlechter. In der Regel wesentlich schlechter. In Zeiten von Krisen, in Zeiten wo fundamentales, kritisches, übergreifendes, unkonventionelles Denken und aktives Handeln dringend benötigt wird, erkennen wir die Nutzlosigkeit der Strukturen und Personen in den Strukturen, die wir über die letzten Jahrzehnte »optimiert« haben. Erkennen wir, dass sie viel mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften. Ja, wir bekommen einen neuen Pass in drei Tagen statt zwei Wochen. Das ist gut für die KPIs der Management-Berater und das Selbst-Marketing der Minister. Kein nennenswertes Problem der Welt wird dadurch besser. Wenn es darauf ankommt, wenn das inkompetente Handeln richtige Schäden für Generationen anrichtet – wie jetzt in Pandemie- und Klimakrisen-Zeiten – versagen wir. 

Mit anderen Worten: wir haben unsere Systeme mit großem Engagement für das falsche Problem optimiert.

Wenn wir als Menschheit eine Zukunft haben, dann liegt diese nicht in TED-Zombie-Mitarbeitern sondern in Strukturen, die ein gewisses Maß an Effizienz, Transparenz und Digitalisierung haben, aber keinesfalls zu viel. Die Unangenehmen, die Unangepassten, die außerhalb des Prozesses agieren, die Selbstorganisation, Flexibilität und Eigeninitiative zum Prinzip haben, machen den Unterschied.

Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)