Mittwoch, 16. Mai 2012

Wer wächst, steht still. Wer still steht, verliert.

Eine Reihe von überraschenden Umfragen geistert immer wieder durch die Medien: Seit Jahrzehnten werden Menschen in verschiedenen Nationen nach ihrem Wohlbefinden befragt. Sehr häufig liest man, dass sich das Empfinden der Befragten über die Zeit nur wenig ändert. Eine häufige Interpretation dieser Ergebnisse kommt nicht unerwartet: materieller Wohlstand hat offenbar wenig Einfluss auf das Wohlbefinden. (Dies wurde auch als Easterlin Paradox bezeichnet.) Obwohl unsere Wirtschaft wie verrückt gewachsen ist, obwohl nach der allgemeinen Ansicht unser Wohlstand in den westlichen Ländern in diesen Jahrzehnten enorm zugenommen hat – hat sich unsere Gefühlslage nur unwesentlich verändert. Manche behaupten gar, dass das Wohlbefinden in einigen Industrienationen sowie bei Frauen sogar zurückgegangen ist. 

"If, instead of looking at happiness across nations at a given time, we look within a nation at different times, we find the same story. In the last forty years, the per capita income of Americans (adjusted for inflation) has more than doubled. The percentage of homes with dishwashers has increased from 9 percent to 50 percent. The percentage of homes with clothes dryers has increased from 20 percent to 70 percent. The percentage of homes with air-conditioning has increased from 15 percent to 73 percent. Does this mean we have more happy people? Not at all. Even more striking, in Japan, per capita wealth has increased by a factor of five in the last forty years, again with no measurable increase in the level of individual happiness.", Barry Schwartz, The Paradox of Choice

Man könnte sich jetzt näher mit der Frage auseinandersetzen, wie "Glück" und "Wohlbefinden" zu definieren und dann auch noch über Jahrzehnte konsistent zu messen sind. Hier drängen sich viele Fragen auf: ist das Empfinden der einen Person die sich als Sehr Glücklich beschreibt tatsächlich gleich mit der einer anderen die sich ebenfalls Sehr Glücklich fühlt? Was bedeutet gleich in diesem Zusammenhang? Und wie verhält es sich über die Jahrzehnte? Ist es überhaupt zulässig diese Vergleiche anzustellen? Aber lassen wir diese Problematik einmal beiseite, und nehmen wir als Arbeitshypothese an, dass diese Befragung tatsächlich wissenschaftlich sauber ist. Selbst unter dieser Annahme aber, erscheinen mir die üblichen Erklärungen fragwürdig. 

Ich habe vielmehr die Vermutung, dass bei der Interpretation dieses Experimentes, beziehungsweise der Umfragen, eine wesentliche menschliche Eigenschaft gerne außer Acht gelassen wird. Nach meinem psychologischen Verständnis darf man Menschen bei solchen Fragen nicht als autonome Agenten betrachten, die nach irgendwelchen objektiven Kriterien ihre Situation beurteilen. Wir sind vielmehr soziale Lebewesen und vergleichen unsere eigene Situation stetig mit der Situation der Personen um uns herum, aber auch mit unserer eigenen Situation in der Vergangenheit und der (wahrscheinlichen) Zukunft. Solange wir das Gefühl haben vergleichsweise gut dazustehen und verglichen mit unserer Vergangenheit einen Fortschritt zu machen und eine positive Perspektive für die Zukunft zu haben (was auch immer das objektiv bedeuten mag, hier sind subjektive Gefühle das entscheidende) fühlen wir uns gut, glücklich, zufrieden. Solange es immer "aufwärts" geht, zumindest aber nicht abwärts, vor allem im Vergleich mit unsren Nachbarn, fühlen wir uns wohl. Bleiben wir aber auf den selben Stand (auf dem wir eben noch zufrieden waren) stehen, alle um uns herum können sich aber mehr Luxus leisten, werden wir unzufrieden.

Die Psychologie scheint in diesem Punkt recht klar zu sein: wenn Sie Menschen Geld anbieten, bevorzugen die meisten Teilnehmer 50€, wenn die anderen Teilnehmer 30€ bekommen als 70€, wenn die anderen 100€ bekommen. Sie geben sich also mit einer objektiv niedrigeren Summe zufrieden, wenn sie relativ gesehen besser abschneiden.

Was bedeutet das für die "Glücksumfragen"? Aus meiner Sicht vor allem, dass die Interpretation, dass der Zuwachs an Wohlstand keinen Enfluss hat, zu einfach gedacht ist. Der Zuwachs an sich spielt vielleicht keine wesentliche Rolle, aber unsere relative Position im Spiel und der Ausblick den wir haben. In den letzten Jahrzehten rasen wir aufwärts. Diejenigen die auf dem Lebensstandard der 80er Jahre geblieben sind, fühlen sich als Verlierer. Insofern bedeutet dies unter den derzeitigen Bedingungen: wer mitwächst, bleibt stehen. Wer stehen bleibt, verliert. 

Stimmt meine These, so bedeutet dies auf der anderen Seite aber auch, dass Gesellschaften, die mehr und mehr (ökonomisch) polarisiert werden, nur zu einem leeren Rennen der Menschen, mit vielen Verlierern führen. Insofern scheint sich wieder zu bestätigen, dass das Wohlbefinden aller in egalitäreren Gesellschaften höher sein müsste als das in stark polarisierten. Genau das scheint auch der Fall zu sein.

Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)