Donnerstag, 15. Dezember 2011

Auf beiden Augen blind durch die Wirtschaftskrise?


Ist Ihnen schon aufgefallen, dass in der derzeitigen Krise jeder selbsternannte oder durch Organisationen wie Universitäten scheinbar legitimierte Wirtschaftsexperte eine klare, aber jeweils zu den anderen diametral entgegengesetzte Meinung hat? Wir hören von Eurobonds, sie seien die Rettung sowie der Untergang Europas. Die Schuldenbremse ist eine unbedingte Notwendigkeit sowie ein Untergang des Systems usw.

Den wenigsten scheint aber das wesentlichste aufzufallen – wie absurd nämlich die gesamte Diskussion ist. Wir haben selbst nach 2008 nicht begriffen, dass wir nicht in irgendeiner Wirtschaftskrise sondern wohl vielmehr in einer Wirtschaftssystemkrise stecken. Einer Krise, von deren Ursachen einige seit langem bekannt sind. Der Tatsache etwa, dass exponentielles Wachstums auf begrenztem Raum prinzipiell an ein Ende gerät. Der Tatsache, dass wir unseren Lebensstandard auf nicht erneuerbaren Ressourcen aufbauen, aber auch ganz fundamentalen psychologischen Fakten:

Arabisches Astrolab aus dem
13. Jahrhundert.
Banken-Skandale sind nicht alleine auf moralische Schwächen der Beteiligten zurückzuführen. Dieses System der Finanzmärkte, das wir entworfen (oder wenigstens zugelassen) haben, zieht einerseits Menschen bestimmter charakterlicher "Eignung" an. Das ist für sich genommen schon ein Rezept für Probleme. Wir wissen aber aus der Psychologie (z.B. Kahneman et al), dass das Verhalten von Menschen sehr stark vom Entwurf des Systems, vom Umfeld, dem sie ausgesetzt sind, abhängig ist. Mit anderen Worten, man kann Umgebungen schaffen, in denen sich die meisten Menschen moralisch verhalten. Andererseits kann man aber ebenso Systeme schaffen, die negatives Verhalten stimulieren. Letzteres ist uns hervorragend gelungen. Das hören wir aber gar nicht so gerne, denn damit können wir nicht die ganze Schuld einfach auf ein paar obszöne Investment-Banker abschieben. Vielmehr müssten wir zur Kenntnis nehmen, dass wir als Bürger einen nicht geringen Anteil daran haben, dass diese Systeme sich so entwickelt haben. Wer war nicht gierig nach hohen Zinsversprechungen oder immer billigeren Konsumprodukten? Wen hat es wirklich interessiert, solange der BMW in der Garage steht, wer die Zeche für unser Verhalten bezahlen wird?

Natürlich haben die Wirtschaftsexperten dieser Entwicklung Vorschub geleistet. Beispielsweise  durch die Forderung nach Privatisierung und Marktliberalisierung um jeden Preis. Denn liberalisierte, von Regulatorien und Eingriffen verschonte Märkte sind ja wesentlich besser geeignet Betriebe, Banken und Finanzplätze zu betreiben als der Staat – so in etwa hat man uns die Notwendigkeiten erklärt. Jetzt dürfen wir alle kräftig in die Tasche greifen um genau diese effizienten Märkte und die Segelyachten der Investmentbanker vor dem Untergang zu bewahren.

Die derzeitige Situation stellt sich ungefähr so dar, als würde man ernsthaft Astrologen zuhören, die einer interessierten Öffentlichkeit die Entstehung des Universums, oder die Prinzipien der dunklen Materie erklären wollen. Astrologie ist eine Pseudowissenschaft, oder deutlicher gesagt, völliger Unsinn. Das ist jedem aufgeklärten Menschen klar. Daher taugt sie bestenfalls noch als Jahrmarktsattraktion oder Rubrik in Gratiszeitungen für intellektuelle Asketen. Drei Astrologen, die sich über die Fundamente kosmologischer Konzepte streiten, würden wir nicht einmal wahr-, geschweige denn ernst nehmen. Deren Wunsch auf die Titelseite von Scientific American zu kommen, wäre eine Lachnummer. Die Diskussionen der immer gleichen "Wirtschaftsexperten" nehmen aber Titelseiten auf Tageszeitungen ein, die sich selbst seriös nennen. Genau dieselben Experten, die die bisherige Krise weder vorhergesagt noch verstanden haben, verdienen auch weiterhin gute Beraterhonorare für Politiker und Banken und Agenturen aller Art.

Im Grunde aber ist jeder der beteiligten Experten und Politiker ahnungslos, und niemand versteht mehr wirklich was dieses System gerade mit uns macht. Und zumindest hinter verschlossenen Türen geben das auch die meisten zu, wie das der deutsche Publizist Frank Schirrmacher so eindrucksvoll im "Alternativlos" Gespräch darstellt.

Und dieses Unwissen ist ihnen nicht unmittelbar vorzuwerfen, im Gegenteil. Denn das ist eine klare Konsequenz und gleichzeitig das dritte Problem: Wir haben Systeme von Systemen entworfen, oder deren Entstehung zugelassen (z.B. Handel von Wertpapieren im Millisekundentakt, oder komplexe Derivate), die auf der Basis von Theorien dieser Wirtschaftsastrologen beruhen. Viele ihrer Annahmen sind aber, wie sich jetzt drastisch herausstellt, nicht nur fundamental falsch, sondern führen auch noch zu viel zu komplexen Abhängigkeiten als dass sind irgendjemand noch begreifen, oder gar das Verhalten der Systeme abschätzen könnte. Zu allem Überfluss sind sie nicht nur komplex sondern auch noch fragil, d.h. im Ernstfall kollabieren nicht einzelne Investment-Banken – damit könnten die Meisten wohl recht gut leben – sondern es droht das Versagen unseres gesamten Wirtschaftssystems.


Man kann den Verantwortlichen also nicht wirklich vorwerfen, das heutige System nicht zu verstehen. Sehr wohl aber, es zugelassen zu haben, dass ein derartiges System sich etabliert. Eine Wirtschaftswissenschaft, die etwas Wert wäre, hätte diese Probleme frühzeitig erkannt. Als wäre das nicht schlimm genug, legen wir unser Schicksal wieder und wieder in die Hände derselben Quacksalber.
"Let us remember that economists are evaluated on how intelligent they sound, not on a scientific measure of their knowledge of reality.", Nassim Taleb, Fooled by Randomness
Die Frage, die sich in Folge dieser Krisen aufdrängt, und vereinzelt auch diskutiert wird ist, ob Wirtschaftswissenschaft letztlich eine Pseudowissenschaft ist. Dies kann man, denke ich, trotz der derzeitigen Situation verneinen. Es gibt meiner Ansicht nach eine Vielzahl an Wichtigtuern und Quacksalbert gerade unter den Wirtschaftswissenschaftern. Es gibt immerhin auch Forscher wie Kahnemann oder Fehr. Die Wirtschaftswissenschaft ist aber heute vermutlich auf einem Stand wo die Medizin Ende des ausgehenden 19. Jahrhunderts, oder die Physik des 18. Jahrhunderts war. Eine erfolgversprechede Disziplin aber auch eine, die noch ziemlich am Anfang steht, und deren vorläufigen Erkenntnissen man mit entsprechen großer Skepsis zu begegnen sind. 

Denn es sind viele der wichtigsten Fragen noch unbeantwortet und heutige Systeme werden mit offensichtlich auf Basis mangelhafter Konzepte betrieben. Wie kann man es für vertretbar halten Systeme zu installieren, die commons nicht berücksichtigen, also mit anderen Worten ein Wirtschaftssystem das nicht das Funktionieren ökologischer Systeme zur Grundlage hat? Oder ein System, das an allen Ecken auf unbegrenztem (exponentiellem) Wachstum aufbaut?  Das erscheint ähnlich gescheit zu sein, wie eine Physik, die Schwerkraft für unphysikalisch erklärt, weil sie nicht ins gewünschte Bild passt. Oder eine Medizin, die Menschen nicht für tot erklärt, weil ewiges Leben Teil der eigenen Ideologie ist.  

Niemand käme auf die Idee auf die Expertise eines Physiker des 18. Jahrhunderts zurückzugreifen um Navigationssysteme des 21. Jahrhunderts zu optimieren. Ebensowenig würden wir einen Arzt des 19. Jahrhunderts einen Hirntumor operieren lassen. Den Wichtigtuern unter den Wirtschaftswissenschaftern aber glauben wir, dass sie Probleme lösen können, die sie weder angemessen verstanden noch beschrieben haben. Dabei verwenden sie Modelle, deren Status eher auf dem Niveau eines Astrolabs, als einer Kosmologie des 21. Jahrhunderts beruhen.

Willkommen im Mittelalter.  

Sonntag, 27. November 2011

Abfahrt: 22. Jahrhundert, Ankunft: Steinzeit?


Kürzlich habe ich wieder einmal einen Beitrag gehört, in es um die langfristigen Notwendigkeit ging die Erde zu verlassen, um das Überleben der Menschheit an anderen Stelle im Universum sicherzustellen. Die Argumentation ist auf den (aller)ersten Blick stimmig. Das Überleben der Menschheit ist auf der Erde zweifellos bedroht. Die Apologeten der (futuristischen) Raumfahrt denken zwar zumeist weniger an die nachfliegenden Probleme wie unmittelbar bevorstehende Umweltkatastrophen oder die Tatsache, dass wir offenbar nicht in der Lage sind ein sinnvolles und funktionierendes globales Wirtschafts- und Finanzsystem auf die Beine zu stellen. Man denkt eher an Asteroiden, die die Erde zerstören könnten, oder weist ganz allgemein darauf hin, dass noch jede Spezies über kurz oder lang ausgestorben ist. Das stimmt im Prinzip auch und daraus folgt dann nur konsequent, dass wir uns langfristig auf den Exodus vorbereiten sollten. So die verkürzte Argumentationslinie.

Die Idee, Menschen in ein Raumschiff zu setzen und zu anderen Welten segeln zu lassen, hat natürlich durch Star Trek und Co einen sehr romantisch-abenteuerlichen Touch bekommen und lässt sich entsprechend auch medial gut vermarkten. Damit lassen sich milliardenschwere Projekte, der sonst von eher nüchternen Erwägungen, militärischen oder wissenschaftlichen Interessen getriebene Raumfahrt, auch leichter dem Bürger verkaufen. Extraterrestrische Kolonialisierungsbestrebungen interessieren mich zwar im Detail nicht besonders, können aber doch als schöne Metapher dienen. Sie zeigt, wie ich kurz darlegen möchte, wie abhängig wir Menschen von der Funktionsweise einer ungeheuren Vielfalt an Systemen auf der Erde sind.

Überlegen wir uns zunächst einmal ganz oberflächlich, was notwendig wäre um ein solches Raumschiff erfolgreich starten zu lassen. Das fundamentalste Problem dieses Unterfangens liegt wohl darin, dass die nächsten Planeten (die möglicherweise Leben ähnlich dem der Erde zulassen würden) weit entfernt sind. Sie sind tatsächlich sehr weit entfernt. Selbst mit ungeheuer schnellen Raumschiffen ist die Reise eine Frage von zumindest Jahrhunderten vermutlich von deutlich längeren Zeiträumen. An dieser Stelle werden manchmal Generationen-Raumschiffe ins Spiel gebracht, also Raumschiffe auf denen viele Generationen von Menschen über einen längeren Zeitraum leben können. Es wird als geboren, gestorben, aber was ebenso wesentlich ist: alle benötigten Ressourcen müssen mitgenommen oder im Raumschiff hergestellt werden können. Das betrifft z.B. Lebensmittel, Wasser und Luft. Hier ist ein perfekter Kreislauf und Recycling aller Substanzen über Jahrhunderte vonnöten. Schon dies ist eine kaum zu bewältigende Aufgabe. (Auch die Frage wie mit medizinischen und technischen Problemen umgegangen werden soll ist nicht trivial.) 

Nehmen wir aus Spass am Gedankenexperiment einmal an, dass diese banalen technischen Probleme lösbar wären, wird es erst richtig interessant (und auch weniger fantastisch). Denn dieses extreme Beispiel legt viel fundamentalere Probleme offen. Selbst wenn das Raumschiff einen Planeten wie die Erde findet stellt sich die Frage wie, beziehungsweise auf welchem Niveau menschlicher Entwicklung dieser besiedelt werden kann. Das Raumschiff selbst ist natürlich Hightech. Aber wie soll dieser Standard gehalten werden? Wieviele Menschen können transportiert werden? Einige Dutzend? Hundert? Tausend? Wohl kaum mehr. Ist dies ausreichend um das Wissen der Menschheit darzustellen? Man könnte argumentieren, dass die Computertechnik so weit fortgeschritten ist, dass das gesamte Wissen in intelligenten Systemen oder mit Robotern repräsentiert ist. Dann stellt sich aber die nächste Frage: wie werden diese Systeme gewartet? In der Geschichte der Menschheit gab es keine einzige Technologie die ohne Wartung, Ersatzteile und Wissen wie die Wartung zu erfolgen hat ausgekommen wäre. Im Gegenteil, je technologisch fortschrittlicher die Geräte sind, desto komplexer ist in aller Regel auch die Wartung (und die Materialien, die dafür benötigt werden). 

Man mag einwenden, dass es schon heute Open Hardware Bewegungen gibt. Es wird alles mögliche im Do It Yourself Stil gebaut – vom Traktor bis zum Computerchip-Design. Allerdings vermute ich, dass selbst die energischsten DIY-Fans nicht das Erz für den Stahl des Traktors abbauen oder das Eisen schmelzen und formen. Auch die Werkzeuge wie Bohrmaschinen, Schraubenzieher usw. werden wohl im Baumarkt gekauft. Nun bin ich ziemlich sicher, dass es auf dem Raumschiff, beziehungsweise auf dem neuen Planeten (sofern es dort nicht schon intelligente Lebensformen gibt) keine Baumärkte gibt. Es stellt sich also ganz konkret die Frage: was ist die kleinste Einheit an Menschen, Wissensspeichern (Büchern...) und Basis-Materialien die ausreichen um eine Gesellschaft heutiger Komplexität zu bootstrapen. Was ist die kleinste Menge an Menschen die ausreicht um ein selbstorganisierendes System zu ermöglichen, dass in der Lage ist, Technologie heutiger Komplexität am Laufen zu halten. Genauer gesagt kann man nicht von einer stabilen Gesellschaft sprechen, wenn diese nicht in der Lage ist die notwendigen Werkzeuge und Systeme auch von Grund auf neu zu bauen. Letzteres ist natürlich noch einen Schritt komplexer. Dies betrifft die Weitergabe von wissenschaftlichem und technologischem und anderem praktischen Wissen, sowie der Erstellung komplexer Organisationsstrukturen die in der Lage sind diese komplexen Systeme zu betreiben. Denn, wie Andy Clark in "Being There" so treffend beschreibt, menschliches Wissen ist heute im wesentlichen externalisiert, also abgebildet in Strukturen wie Firmen, Staaten oder Universitäten, weil kein Individuum mehr in der Lage ist komplexere Unterfangen alleine zu meistern oder auch nur zu überblicken. 

Meine Vermutung ist, dass dafür bei weitem mehr als ein paar hundert, oder gar ein paar tausend Menschen notwendig sind. Ich würde auf zumindest auf einige Millionen tippen. Vergessen wir nicht, dass zur Herstellung der technologischen Basis einer modernen Zivilisation Wissen und Arbeitsleistung benötigt wird, die vom Betreiben einer Mine über die Produktion von Kunststoffen, den Anbau von Kartoffeln, das Management größerer Organisationen bis zur Programmierung von Betriebssystemen reicht. Und von der Mine bis zum fertigen Computer sind viele Arbeitsschritte höchst unterschiedlicher Fähigkeiten nötig. Auch sollte man sicherzustellen, dass eine gewisse Resilienz, also Widerstandsfähigkeit gegen Krisen gewährleistet ist. Man sollte das Wissen wesentlicher Schritte also nicht von einzelnen Personen (oder meinetwegen Robotern) abhängig machen.

Da der Gesamtprozess der Produktion einzelner Industriegüter hochgradig komplex ist, gibt es keine Einzelperson mehr, die in der Lage ist, den Prozess als ganzes zu überblicken. Roboter oder technische Systeme fallen, wie gesagt, als Basis aus, da sie selbst der Wartung und technischen Erneuerung bedürfen. Wir sind also nicht nur von Materialien und Wissens-Datenbanken, sondern auch von Strukturen, die in der Lage sind aus dem Wissen operativen Nutzen zu ziehen abhängig. Einen Computer auseinanderzunehmen und im Prinzip zu wissen wie er funktioniert reicht bei weitem nicht aus um einen neuen zu bauen. Wir benötigen die notwendigen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Strukturen sowie Bildungs-Einrichtungen um das System am Laufen zu halten. Ich denke, schon diese stark vereinfachte Überlegung macht klar, dass ein solches Raumschiff, sofern es jemals abgeschickt werden würde, wenn Überhaupt in der Lage wäre eine Gesellschaft auf Niveau der Antike zu gründen.

Ich denke, dies sind keine guten Grundlage für so manchen Raumfahrt-Optimisten. Die meisten Ideen, die ich in diesem Kontext bisher gehört habe, waren auch in etwa auf dem Niveau von Transhumanisten wie Kurzweil. Wobei man das Wort Niveau hier nicht wirklich passend ist. Was bedeutet diese Überlegung aber für weniger extreme Zeiträume und das Leben auf der Erde – also sagen wir für das 21. Jahrhundert?

Ich denke, dieses Gedankenspiel zeigt auch (abseits von interstellaren Kollonisationsphantasien), wie enorm abhängig und potentiell fragil unsere heutige Gesellschaft geworden ist. Würden wir etwa den Kollaps Chinas, der USA überleben? Wie sieht es mit dem Zusammenbruch der Finanzsysteme aus? (Und mit "Überleben" meine ich ein Überleben auf etwa dem Zivilisationsniveau auf dem wir uns heute befinden.) Oder wie wäre ein Klimawandel der sich in Richtung 4-6° Erwärmung in relativ kurzer Zeit bewegt – eine Änderung die ökologisch keinen Stein auf dem anderen lässt? Oder auch nur einen in wenigen Jahren rapide steigenden Ölpreis, der alle wirtschaftlichen Sektoren (inkl. der Landwirtschaft) die wir aufgebaut haben in den Grundfesten erschüttern würde?

Sicher, man hört regelmässig das Argument, die Menschheit war immer in der Lage sich an veränderte Verhältnisse anzupassen. Aber wie schnell dürften solche Änderungen vor sich gehen? Vor allem in der heutigen Gesellschaft. Es macht einen fundamentalen Unterschied, ob 500 Millionen Menschen auf der Erde leben, oder 7 Milliarden, ob eine Gesellschaft auf dem technischen und gesellschaftlichen Niveau des 17. Jahrhunderts oder die heutige in eine globale Krise gerät. Die strukturellen Vernetzungen, die die heutigen Systeme am laufen hält, sind global und massiv, nicht kleinteilig und lokal. Wie stabil sind die politischen Systeme, die schon heute bei nur marginalen Problemen in den meisten Staaten kaum mehr rationale Politik zustande bringt. Man denke beispielsweise an Rechtspopulismus/extremismus in Finnland, Ungarn, Frankreich oder Österreich, oder auch an die an Irrationalität, ja an Dummheit kaum zu überbietenden Ansichten vieler Politiker, beispielsweise der religiösen Rechten in den USA. Treten tatsächlich ernste Probleme auf, ist es da zu erwarten, dass ein kühler Kopf bewahrt wird? Dass international und rational zusammengearbeitet wird um die Probleme gemeinsam zu lösen? 

Im Grunde können wir die Frage schon jetzt anhand eines Beispiels beantworten. Der Klimawandel ist da. Alle Experten sind sich in diesem Punkt einig. Die Konsequenzen sind wahrscheinlich katastrophal. Wie handelt die (internationale) Politik? Mit einer Mischung aus Verleugnung des Problemes und Ignoranz.

Keine guten Vorzeichen für die nächsten Jahrzehnte, fürchte ich, oder habe ich etwas wesentliches übersehen?

Donnerstag, 27. Oktober 2011

Die grüne Revolution: Rettung der Menschheit oder Untergang auf Raten?


Es gibt kaum ein Thema, dass die Möglichkeiten und Grenzen von Wissenschaft und Technik so deutlich macht wie die sogenannte grüne Revolution, die auf Norman Borlaug zurückgeht. Sie zeigt das komplexe Wechselspiel zwischen Wissenschaft, Technologie, wirtschaftlicher Entwicklung, Demografie, dem Kampf um Ressourcen und letztlich der Frage, wie es gelingen kann auch langfristig innerhalb der natürlichen Grenzen des Planeten zu leben. Machen wir einen Blick zurück in die Jahre nach dem zweiten Weltkrieg.

Im Jahr 1920 leben rund 1.9 Milliarden Menschen auf der Erde. 1960 bereits über 3 Milliarden. In nur 40 Jahren wächst die Bevölkerung um mehr als eine Milliarde Menschen. Das Wachstum ist aber nicht gleich verteilt: in Pakistan  leben 1941 etwa 28 Millionen Menschen. In nur 10 Jahren wächst die Bevölkerung um 10 Millionen Menschen, in weiteren 10 Jahren also bis 1961 nochmals um 10 Millionen auf dann 51 Millionen. Im Jahr 1971 leben schon 70 Millionen Menschen in Pakistan. In dreißig Jahren hat sich die Bevölkerung des Landes mehr als verdoppelt. Eine Entwicklung, die viele Länder der Region teilen. [Daten von Gapminder

Thomas Robert Malthus
(Bild: Wikimedia Commons)
Die landwirtschaftliche Produktion der Zeit kann aber mit dem starken Bevölkerungswachstum nach dem zweiten Weltkrieg nicht mithalten. In den 1960er Jahren sehen sich also viele Entwicklungsländer einer Hungerkatastrophe gegenüber. Schon im 19. Jahrhundert warnt der britische Ökonom Thomas Robert Malthus, dass die Ernährung der Menschheit nicht mit dem Wachstum Schritt halten könnte. Malthus entwickelt daraus radikale politische Ideen, die vielleicht aus der Zeit heraus verständlich sind, die aber  kaum in die heutige Zeit passen. Aber auch im 20. Jahrhundert mangelt es nicht an warnenden Stimmen. Zu den bekanntesten gehört Paul Ehrlich. In seinem einflussreichen Buch "The Population Bomb" schreibt er im Jahr 1968: 
"Es ist unmöglich, dass Indien 1980 zweihundert Millionen Menschen mehr ernährt."
Beide hatten unrecht weil sie die Folgen neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und daraus folgender Technologien nicht richtig eingeschätzten. Weder die düsteren Prophezeiungen von Malthus noch die von Paul Ehrlich sind eingetroffen. In den 1960er Jahren ist dies unter anderem dem Amerikaner Noman Borlaug zu verdanken. Er gilt als einer der Begründer der sogenannten "grünen Revolution".  Tatsächlich gelingt es mit Unterstützung der Rockefeller Foundation in den 1960er Jahren die Landwirtschaftliche Produktion so zu intensivieren, dass in Mexiko die Weizenproduktion verdreifacht wird. Auch Indien und Pakistan profitieren von den neuen Anbaumethoden und erhöhen die landwirtschaftlichen Erträg um etwa 60%. [Britannica] Mexiko und Indien können in Folge der grünen Revolution den Eigenbedarf der Bevölkerung an landwirtschaftlichen Produkten aus eigenem Anbau abdecken. Norman Borlaug erhält für seine Leistungen den Friedens-Nobelpreis 1970.

Norman Borlaug
(Bild: Wikimedia Commons)
Borlaug gilt für viele als Wissenschafter, der Millionen Menschen durch neue Technologien das Leben rettet. Ohne die enormen Produktionssteigerungen in der Landwirtschaft seit den 1960er Jahren wäre es mit Sicherheit zu massiven globalen Hungerkatastrophen gekommen. Aber schon Borlaug selbst erkennt die Grenzen seiner Techniken frühzeitig. "Im Kampf gegen den Hunger wird kein Fortschritt von Dauer sein", so Borlaug in seiner Rede zum Nobelpreis, "bis die Organisationen zur Förderung der Nahrungsproduktion und diejenigen zur Vermeidung von Überbevölkerung an einem Strang ziehen." Ihm war schon 1970 klar, dass die grüne Revolution nur ein kurzes Durchatmen ermöglicht. Die Befürchtungen von Malthus und Ehrlich sind (noch) nicht eingetreten. Die Tatsache, dass die Probleme der 1960er Jahre durch Intensivierung lösbar waren bedeutet aber keinesfalls, dass wir in der Lage sind auch in der Zukunft wesentlich mehr Menschen ohne dramatische Folgen für die Umwelt zu ernähren. Ein Sieg auf Dauer wird daher nur möglich sein, wenn es uns gelingt, das enorme Wachstum der Weltbevölkerung in den Griff zu bekommen.
"If the world population continues to increase at the same rate, we will destroy the species", Norman Borlaug
Die Techniken der grüne Revolution werden besonders seit dem Aufkommen der Umweltbewegung auch kritisiert. Auf der einen Seite führt eine Intensivierung der Landwirtschaft dazu, dass weniger Fläche für gleiche Erträge benötigt wird. Das bedeutet ganz konkret, dass Landflächen von den massiven Eingriffen der Landwirtschaft verschont bleiben können und weniger Wälder gerodet werden müssen. Andererseits hat die Intensivierung der Landwirtschaft erhebliche Nebenwirkungen. Großflächigen Monokulturen die speziell für höchste Erträge gezüchtet werden führen häufig zu einer Reduktion der genetischen Vielfalt. Dies kann die Kulturen anfälliger für Krankheiten, Trockenheit und Änderungen in den Umweltbedingungen machen. Auch andere Umweltschäden der Intensiv-Landwirtschaft sind nicht zu vernachlässigen. Der Ökonom Jeffrey Sachs schreibt in einem Kommentar für Spektrum der Wissenschaft
"In gleichem Maße steigen daher auch agrarbedingte Umweltschäden. Rund ein Drittel der menschgemachten Treibhausgase entsteht bei Herstellung, Verarbeitung und Transport von Lebensmitteln: Kohlendioxid beim Brandroden von Wäldern für neue Anbauflächen, Methan aus gärendem Schlamm in Reisfeldern und den Mägen von Zuchtvieh, Stickoxide aus Kunstdünger. Mit jedem natürlichen Landstrich, der Feldern weichen muss, sinkt die Artenvielfalt an Land, während die Überdüngung von Feldern Ähnliches in Flüssen und Meeren anrichtet. Nicht zuletzt gehen rund 70 Prozent des weltweiten Wasserverbrauchs auf das Konto des Nahrungsmittelanbaus, was bereits heute in vielen Regionen dazu geführt hat, dass die Spiegel von Grundwasser, Seen und Flüssen bedenklich gesunken sind."

Freitag, 30. September 2011

Tyndall und Arrhenius: 150 Jahre Klimaforschung


John Tyndall

In der öffentlichen Wahrnehmung ist Klimaforschung eine Sache von Computerexperten, die komplexe Klimamodelle auf Supercomputern ausführen und dann Zukunftsprognosen abliefern. Tatsächlich sind Computermodelle und Simulationen nur ein – wenn auch wichtiger – Teil heutiger Klimaforschung. Mindestens ebenso bedeutend sind herkömmliche Messungen, Beobachtungen sowie elementare Erkenntnisse aus Physik, Chemie, Geologie, Biologie und Ökologie. Anfänge moderner Klimaforschung kann man daher auch schon auf die Mitte des 19. Jahrhunderts datieren. Zwei illustre Namen sind mit der Untersuchung der Atmosphärenchemie und der Entdeckung des Treibhauseffektes verbunden: John Tyndall und Svante Arrhenius.
Der Brite John Tyndall, ein Zeitgenosse und Freund Faradays, und der Schwede Svante Arrhenius waren beide herausragende Physiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts, beziehungsweise beginnenden 20. Jahrhunderts. Tyndall, ein experimenteller Physiker, ist bis heute allen Physik- und Chemiestudenten durch den nach ihm benannten Tyndall-Effekt vertraut. Dabei handelt es sich um die Beschreibung von Lichtstreuung an Teilchen die etwa in der Größe der gestreuten Wellenlänge liegen. Er beschäftigt sich aber auch mit der Rolle der Atmosphäre für das Klima, erkennte und beschreibt um 1860 als einer der ersten den Treibhauseffekt: 
"... Wasserdampf ist eine Decke, die wichtiger für die Vegetation Englands ist, als Kleidung für den Menschen. Entfernte man nur für eine Nacht den Wasserdampf über England, so würde man durch den Frost zweifellos jede Pflanze, die frostempfindlich ist, zerstören.", John Tyndall
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts beginnt Svante Arrhenius die Bedeutung des Kohlendioxids (und auch des Wasserdampfes) für das Erdklima zu erkennen. Er stellt sich die (heute leider sehr relevante) Frage, welchen Effekt eine Verdopplung der Kohlendioxid-Konzentration in der Atmosphäre hätte. Seinen ersten Berechnungen nach wäre ein Temperaturanstieg von 5-6°C zu erwarten. Heute gehen Klimaforscher eher von einem Anstieg um 2-3°C aus. Diese Abschätzungen behandeln allerdings den Treibhauseffekt isoliert von anderen systemischen Effekten: Das Abschmelzen von Eisschilden beispielsweise, oder das Auftauen von Permafrost können die Erwärmung langfristig deutlich erhöhen. 

Bedenkt man, dass 100 Jahre intensiver Forschung zwischen diesen Zahlen liegen, war die Schätzung von Arrhenius ein guter Anfang. Er erhält 1903 auch einen der ersten Nobelpreise für Chemie. Die Auszeichnung hat allerdings nichts mit seiner Atmosphärenforschung zu tun, sondern bezieht sich auf die Theorie der elektrolytischen Dissoziation. Arrhenius arbeitet übrigens 1887 auch zusammen mit Ludwig Boltzmann in Graz.

stehend: Walther Nernst, Heinrich Streintz, Svante Arrhenius, Hiecke
sitzend: Aulinger, Albert von Ettingshausen, Ludwig Boltzmann, Ignacij Klemencic, Hausmanninger

Die Arbeiten von Tyndall und Arrhenius sind Meilensteine. Schon um 1900 ist also einigen Wissenschaftern klar, dass das Erdklima mit der Konzentration bestimmter Gase in der Atmosphäre in engem Zusammenhang steht. Diese fundamentalen physikalisch/chemischen Betrachtungen, Messwerte der letzten hundert Jahre, sowie die Rekonstruktion klimatischer Verhältnisse und der Atmosphärenchemie in geologischen Zeitskalen bilden, neben Erkenntnissen vieler anderer Wissenschaften wie der Biologie, die Basis für das heutige Verständnis der Atmosphärenchemie und des Klimas der Erde.

Diese Erkenntnisse zeigen heute jenseits jeden vernünftigen Zweifels, dass der Mensch die treibende Kraft klimatischer Veränderungen geworden ist. Zur Zeit steuern wir das Raumschiff Erde geradewegs in eine für die Menschheit katastrophale Zukunft. Keine ferne Zukunft übrigens, sondern eine, die die Jüngeren unter uns noch selbst erleben werden, unsere Kinder mit Sicherheit. Schnelles und energisches Gegensteuern kann den Klimawandel (wegen der Trägheit der beteiligten Systeme) zwar nicht mehr aufhalten, könnte aber aller Voraussicht nach die schlimmsten Effekte verhindern. 

Auch davon scheinen wir zur Zeit weit entfernt zu sein.

p.s.: Vielen Dank an James Hansen, der mich auf die historischen Arbeiten Tyndalls hingewiesen hat. Sein letztes Buch: Storms of my Grandchildren sollte übrigens wirklich jeder lesen.


Freitag, 15. Juli 2011

Das Ende des Buches?

Kürzlich stellte Mike Matas ein E-Book der nächsten Generation in einem TED-Talk vor. Dabei handelt es sich um eine iOS-Anwendung, also ein Programm, das auf dem iPad und iPhone läuft. Dieses "Buch" ist eine Fortsetzung von Al Gore's Inconvenient Truth mit dem Titel Our Choice. In dem Buch, eigentlich sollte man sagen, in dem Programm gibt es verschiedenste multimediale Elemente, die uns die Problematik des Klimawandels deutlich machen soll. Ein wichtiges Thema, ein neuer Ansatz. Als Geek ist man natürlich sofort einmal von dem neuen Ansatz begeistert. Mit großem Verve stellt dann auch der Entwickler die Features dieses Buches der nächsten Generation vor. Dabei macht er im wesentlichen Werbung für seine Plattform. Wir dürfen also auf weitere Bücher dieser Art hoffen (?). Tolle Animationen beim Umblättern, eingebettete Videos und nicht zu vergessen, spielerische Elemente, wo Wissen Hands On vermittelt werden soll. Besonders begeistert zeigt er die Anwendung, wo der "Leser" in das Mikrofon des Gerätes bläst, damit sozusagen virtuellen Wind erzeugt, der dann in der Anwendung Windräder zum drehen bringt. Das hat mich natürlich sofort überzeugt. Vorher war mir nicht klar, dass Windräder durch Wind zum Drehen gebracht werden! Eine wesentliche und neue Erkenntnis.



Das Buch 2.0?

Aber ernsthafter: Handelt es sich bei diesen Anwendungen tatsächlich um das Buch 2.0? Ist das "alte" Buch – damit meine ich weniger Text auf gedrucktem Papier, als vielmehr Text, langen Text – eine aussterbende Gattung? Werden wir alle demnächst nur mehr solche multimedialen Produkte konsumieren? Je länger ich mich mit diesem Thema beschäftige, desto mehr bezweifle ich die Sinnhaftigkeit dieser Multimedia-Explosionen. Dabei möchte ich nicht falsch verstanden werden: ich habe nichts gegen Videos, Spiele, Abbildungen und Animationen, ich denke aber dass die Kombination zumindest problematisch, wenn nicht sogar kontraproduktiv ist.

Die Stärken konventionellen Lesens 

Gehen wir zunächst einen Schritt zurück. Was sind Stärken von längerem Fliesstext und, wenn man so möchte, von altmodischem Lesen, die nicht durch andere Techniken kompensiert werden können? Zunächst können wir die Lesegeschwindigkeit nach eigener Vorliebe variieren. Manche Teile eines Buches – vor allem eines Sachbuches – überfliegen wir nur, andere lesen wir langsam, mehrfach, mit Pausen. Gerade diese selbstbestimmten Pausen, Rücksprünge, Variationen des Tempos sind wesentlich, weil sie ein Reflektieren und Nachdenken ermöglichen. Dies ist beim Konsum eines Podcasts oder Videos nicht leicht möglich. Davon abgesehen, dass Videos in der Regel schneller geschnitten, und in der Produktion schon auf geringere Aufmerksamkeitsspannen entworfen sind. Auch das schlichte und beständige Format eines Textes ist für die längerfristige Arbeit mit Inhalten sehr wichtig. Sie ist leicht durchsuchbar (zumindest bei E-Books), annotierbar, und überlebt auch neue Software- und Gadget-Generationen. Ich möchte nachdrücklich bezweifeln, dass dieses neue Al Gore Buch auch in 10 Jahren noch in irgendeiner vernünftigen Form zugänglich sein wird. Ein konventionelles Buch erlaubt, oder man könnte sagen erzwingt auch die längere Beschäftigung mit einem Thema. Die Beschäftigung die in der Intensität über das Browsen und Surfen, das Anspringen und überfliegen von Informationen und YouTube Videos weit hinausgeht.

Anachronismus oder zivilisatorisches Fundament?

Sollten heutige Generationen von Jugendlichen tatsächlich das längere Lesen verlernen, so trauere ich dieser Fähigkeit nicht nur in einem nostalgischem Sinne nach. Ich denke vielmehr, dass wir eine elementare zivilisatorische Fähigkeiten verlieren würden. Eine Fähigkeit, die in Schulen zu vermitteln wesentlich wichtiger wäre als der Umgang mit Computern.

Denn dieser Umgang mit Information, die aus traditionellen Buchformaten gewonnen wird, kann meines Erachtens nach keinesfalls durch andere Formate (Video, Simulationen etc) ersetzt, durchaus aber ergänzt werden. Videos oder Podcasts können einen Einstieg, einen Überblick in ein Thema liefern, dass dann bei Interesse im Buch vertieft wird. Auch umgekehrt: bestimmte Sachverhalte lassen sich in Videos oder Animationen leichter darstellen und ergänzen damit die Basis-Information eines Buches.

Die Rache der Multimedia-CDs

Aber wo ist nun das konkrete Problem dieses "neuen" Buches. Immerhin gibt es auch in diesem Buch längere (?) Texte? Ich denke, die Kernfrage ist, ob eine Vermischung dieser verschiedenen Darstellungsformen sinnvoll ist um Inhalte zu vermitteln? Im Prinzip sind diese Applikationen das "Second Coming" der Multimedia-DVDs und CDs der 90er Jahre. Wenn wir uns zurück erinnern kann man die Produkte dieser Phase, denke ich, sehr einfach zusammenfassen: sie sind allesamt grandios gescheitert. Wir haben sie vergessen, aus der Erinnerung verdrängt, und das aus gutem Grund.

Einerseits sind diese Produkte zumeist weder Fisch noch Fleisch. Warum? Schon die Erstellung guter Texte ist enorm viel Arbeit. In einem gut recherchierten Sachbuch stecken – das weiß ich mittlerweile aus eigener Erfahrung – Jahre an Arbeit. Das Erstellen guter Animationen, Spiele oder Videos erfordert nochmals einen zumeist dramatisch unterschätzen Aufwand. Daraus folgt: wenn das Ganze nicht eine wirklich teure Produktion eines großen Teams ist, bleibt meist mindere Qualität an allen Stellen übrig. Die Konsequenz ist klar: es gibt sehr wenige einigermassen gut gemachte Produkte, die aber nur wenige, populäre Themenbereiche behandeln. Denn aufwändige Produktionen müssen sich auch gut verkaufen. Die meisten Produkte sind aber zwangsläufig eher willkürliche Kollagen zweitklassiger Videos und Animationen, zusammengehalten von fragwürdigen Texten, aber dafür mit aufwändigen grafischen Elementen und Animationen. Schliesslich will man das Ding verkaufen, und der ersten Eindruck zählt hier mehr als die Details. Ich erinnere mich noch mit Schaudern an die Qualität der Multimedia CDs. Weiters ist es sehr schwierig Konsistenz über alle diese Darstellungs-Elemente zu erreichen und diese auch für weitere Auflagen zu warten.

Systematische Verwirrung

Das alles sind aber hauptsächlich prozedurale Aspekte, es gibt noch ein viel wichtigeres grundlegendes Problem: selbst wenn das Produkt hochwertig gemacht sein sollte, und selbst wenn man kein Problem damit hat auf einem Gerät wie dem iPad konzentriert längere Texte zu lesen (was ich schon einmal stark bezweifeln möchte) ist die Struktur der Vermischung problematisch, denn audiovisuelle Elemente ziehen immer die Aufmerksamkeit auf sich. Die Folge ist, dass die Leser (die man eigentlich nicht mehr Leser nennen sollte) diese Bücher wohl bestenfalls überfliegen, und de facto nur von Video zu Video springen, denn schon reizt das nächste bunte Element. Man sieht 30 Sekunden Video hier, liest einen Satz dort und bläst in das Mikrofon um eine völlig banale Simulation zu starten. Die Meisten werden diese Anwendung wohl überhaupt nur verwenden, um dem sozialen Umfeld ihre Geek-Sein zu demonstrieren, und zu zeigen, wie "cool" Bücher heute sind (und öffnen das Ding abseits solcher Demo-Sessions überhaupt nicht mehr).

Die Problematik beobachte ich an mir selbst im Grunde schon bei reich illustrierten Büchern. Man ist fasziniert von den großformatigen Illustrationen, blättert von Seite zu Seite springt quer durch das Buch und glaubt am Ende das Buch gelesen und etwas gelernt zu haben. Tatsächlich hat man sich nur oberflächlich abgelenkt. Es scheint (Achtung: jetzt kommt eine amateur-psychologische These), dass wir als Menschen kaum in der Lage sind stark unterschiedliche Sinnesreize gleichzeitig konzentriert wahrzunehmen, beziehungsweise  schnell zwischen diesen zu wechseln. Passiert dies häufig, verlieren wir im ständigen Wechseln unsere Aufmerksamkeit. Wir springen, browsen, kommen aber nicht mehr in den Modes konzentrierter Beschäftigung mit dem Inhalt. 

Fazit

Mein Fazit daher: das Buch als Textwüste, idealerweise in gedruckter Form, oder in Form eines durch Multimedia-Spektakel-freien E-Book-Readers, hat unbedingt Zukunft. Andere Formate wie Sprach-Podcasts, Videos, Animationen, Simulationen, Vorleseungen und Vorträge, Übungen etc. haben ihren eigenen, aber anderen Wert, der aber keinesfalls in der Lage ist, Informationsvermittlung, Diskurs und Arbeit mit neuem Wissen über längere Texte zu ersetzen. Sollte das Buch tatsächlich an Bedeutung verlieren, so verlieren wir nach meiner Überzeugung nicht etwa ein anachronistisches Medium. Wir verlieren den Prozess ernsthafter Auseinandersetzung mit Wissen. Einer Auseinandersetzung, die nicht in Twitter-Geschwindigkeit (und entsprechend oberflächlich), sondern mit Argumenten erfolgt, deren Darlegung auch einmal einige Seiten in Anspruch nehmen können.

Freitag, 24. Juni 2011

Wachstum in den Untergang (am Beispiel der Werbeindustrie)

Die Werbeindustrie ist für mich ein schönes Beispiel für eine Branche, die an und für sich gänzlich überflüssig ist. Sobald aber ein Unternehmen beginnt Werbung zu machen, ist der Startschuss für das Wettrüsten gefallen und alle anderen müssen mitziehen. Die Konsequenz: immer höhere Summen müssen ausgegeben werden, nur um auf gleicher Höhe zu bleiben. Man schreit sozusagen um die Wette und je lauter der allgemeine Lärmpegel, desto lauter muss der nächste schreien um überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Eine Branche die Unsummen vergeudet, jedermann belästigt, und darauf auch noch stolz ist. Hut ab.

Nun ist aber die Belastbarkeit von Konsumenten begrenzt, und man sieht wie immer mehr die Möglichkeit suchen diese Belästigung zu reduzieren. Was mich betrifft, sehe ich beispielsweise seit Jahren nicht mehr fern (unter anderem wegen der Werbe-Belästigung), in den USA werden wohl TiVos gekauft um Fernsehen möglichst ohne Werbeunterbrechung sehen zu können. Ad-Blocker im Browser schaffen sich viele nicht wegen unaufdringlicher Werbung an, sondern wegen ekstatisch aufdringlichen Flash-Explosionen. Was ist die Konsequenz der immer intensiveren Werbung? Irgendwann platzt den Kunden der Kragen. Entweder werden bestimmte Webseiten gar nicht mehr angesurft oder es werden Ad-Blocker installiert. Ab dieser Installation aber, wird überhaupt keine Werbung mehr ausgeliefert. Zum Schaden der Seitenbetreiber. Eine positive Feedback-Schleife, die das System letztlich gegen die Wand fährt.

Altpapier (from Stéfan@flickr)
Ein sehr schönes Beispiel aus der "alten" Werbewelt konnte ich im letzten Jahr in meinem Wohnhaus beobachten. Seit Jahrzehnten bekommen alle Parteien Werbematerialien per Post und per "Sackerl" an die Wohnungstür geliefert. Die Menge war aber über lange Jahre erträglich. In den letzten Jahren hat die Zahl der Werbesendungen aber nach meiner Beobachtung stetig zugenommen. Zuletzt waren auch zwei Werbesendungen pro Tag an der Tür und Massen an Werbematerial im Postfach die Regel, nicht die Ausnahme. E-Mail Spam ist nichts dagegen. Die erste Konsequenz ist offensichtlich: früher habe ich noch einzelne Sendungen gelesen oder zumindest durchgesehen, zuletzt ist alles sofort ungelesen ins Altpapier gewandert. Hier fallen unfassbare Papiermengen pro Haushalt an und werden sofort, ohne irgendeinen Nutzen zu stiften, mit dem Müll entsorgt. Dies ist nicht nur eine offensichtliche ökonomische Verschwendung, sondern auch aus ökologischer Sicht unerträglich.

Mit diesem Mengen haben es die Werber dann offenbar zu weit getrieben: Ich war einer der ersten im Haus, der Aufkleber an Postfach und Tür angebracht hat, um diese Werbezusendungen abzustellen. Innerhalb eines Jahres haben nun von vorher 0 Parteien, 11 von 12 Hausparteien einen solchen Aufkleber angebracht. Mit anderen Worten: unser Haus ist de facto werbefrei. Verlust auf der ganzen Linie für die Werbebranche – und nicht nur ein temporärer Verlust! Denn wer kommt schon in den nächsten 10 Jahren auf die Idee, diese Pickerl wieder abzunehmen? Es wurde ein Lärmpegel überschritten, der letztlich dazu geführt hat, dass nun niemand mehr (auf dieser Werbeschiene) an den Konsumenten herankommt. Aus Sicht der Werbetreibenden also ein systemisches Versagen auf der ganzen Linie.

Nebenbei bemerkt ist es auch interessant, die Psychologie der Menschen zu beobachten. Offenbar ist bei allen der Leidensdruck über die Jahre gestiegen. Es mussten aber erste Vorreiter mit den "Pickerln" beginnen, und dann begann die Phase der Imitation, mit zunehmender Geschwindigkeit, bis letztlich alle die Seite gewechselt haben.


Dieses Beispiel zeigt aber auch ein fundamentalere Problematik menschlicher Gesellschaften: Systeme, die massive Kooperation benötigen, wo sich aber gleichzeitig von Einzelnen leicht einen Vorteil verschaffen lässt wenn sie nicht kooperieren, sind leider zum Scheitern verurteilt. Alle Werbetreibenden hätten dramatisch gewonnen, wenn sie die Werbelast auf 1-2 Sendungen pro Woche beschränkt hätten. Eine solche konzertierte Vorgehensweise scheint aber in der Praxis nicht zu funktionieren. Dieses prinzipielle Versagen ist leider auch bei wichtigeren Themen, z.B. im Klimaschutz zu beobachten. Ein Grund, warum ich der Ansicht bin, dass wir auf dieser Ebene auch nicht voran kommen werden. Leider. Kollektive Intelligenz ist in menschlichen Gesellschaften eben die Ausnahme, nicht die Regel. 

Dienstag, 21. Juni 2011

Sending Messages faster than with Speed of Light using Quantum Entaglement?

A warning in the beginning: I am not a Quantum Physicist, I am merely an interested observer. Thus, this text is a question rather than a statement, and I would be happy to receive some critical comments. But let's dive in:

Quantum particles can be entangled, meaning, that pairs of them can be seen as one physical system. As soon as the quantum state collapsed for one particle, e.g. due to measurement, the other particle also "collapses" to a specific quantum state. This usually happens much faster than light would need to overcome the distance between the particles – as far as I understand – nearly immediately after the first measurement. Even over large distances.

An electron can take spins of 1/2 or -1/2. If two entagled electrons are produced, one is measured and the value taken is -1/2 we know that the state of the other electron is 1/2. As mentioned, the surprising fact is, that this process can happen over large distances and the corresponding collapse of the state happens immediately, thus "faster than the speed of light". The common wisdom is, though, that this does not allow communication faster than the speed of light. One reason is, that we cannot foresee which value the first particle will take. Both collapse at the same time and with opposite, but not predictable values.

Now to my thought experiment: Assume, we can produce more than one entangled pairs of particles. Additionally, we define (for encoding purposes) that a spin of -1/2 corresponds with 0 and +1/2 with 1 (in the case of electrons).  Now we produce a number of entagled particles, wait until they are in a large distance, say one light year apart. 

The goal is to transmit the number 42 to the other side. 42 is in binary form 101010. We cannot define the outcome of the measurement of the next particle, but we know, that whatever the outcome might be, the value on the other side is deterministic the opposite. Then we collapse the series of particles on one side using the following strategy: 
  • If the currently measured value corresponds with the desired number that should be sent, we measure the next particle within 1 second (or some other arbitrary, but previously defined duration). 
  • If the currently measured value doe not correspond with the next bit to be sent, we wait 2 seconds. Thus, the receiver can judge by the interval of the collapses whether the current value should be considered or ignored. In my example:

current value | duration after measure | value recorded
  0:                2s                     ignored
  0:                2s                     ignored
  1:                1s                     --> 1
  1:                2s                     ignored
  0:                1s                     --> 0
  1:                1s                     --> 1
  0:                1s                     --> 0
  0:                2s                     ignored
  1:                1s                     --> 1
  0:                3s                     --> 0 
  1:                                       eof
  ...

And the binary number 1-0-1-0-1-0 (3 second is supposed to be a stop-signal indicating the end of the message) can be reconstructed.The whole duration of the sending process, in this simple example took 15 seconds. (Of course under the assumption of very slow intervals between measurements.) If the distance between the two particles is larger than 15 light seconds plus the time needed for the collapses to happen after the measurements, the message transmission would have been faster than the speed of light. The actual encoding of the message is done using the intervals of the measuring process with the help of the fact, that the quantum systems produce some sort of a stream of random numbers.

Now my question to professional physicists: Assuming that something is wrong with my idea: Why would this thought experiment not work? Which wrong assumption am I making.

Samstag, 7. Mai 2011

David Hume: 300 Jahre Aufklärung

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, einen Abend mit einer historischen Persönlichkeit zu verbringen, wen wählen Sie aus?

Interessanterweise würden viele zeitgenössische Philosophen den schottischen Philosophen der Aufklärung, David Hume nennen, und dafür gibt es gute Gründe. Hume war nicht nur ein bedeutender Philosoph der Aufklärung, Agnostiker, Skeptiker, Historiker, Wissenschaftstheoretiker und, nach allem was wir wissen, keineswegs ein trockener Langweiler, sondern vielmehr ein unterhaltsamer, gut gelaunter, durch und durch sympathischer Zeitgenosse. David Hume gilt vielen als Leuchtturm der Aufklärung und Wegweiser in ein neues Zeitalter. Viele der nachfolgenden Wissenschafter, von Kant bis Darwin bauen auf seinen Ideen auf. Liest man Hume in der heutigen Zeit kommt man oft ins Staunen wie modern sich viele seiner Ideen lesen.

Der Mensch, David Hume

Beginnen wir am Anfang. Vor 300 Jahren, am 7. Mai 1711 wird David Home in Schottland geboren. Home wird im schottischen wie Hume ausgesprochen und so ändert er seinen Namen – offensichtlich ist ihm die Aussprache seines Namens wichtiger als die Schreibweise – in Hume. David Hume wächst in einer Familie mit sehr traditionellen katholischen Wurzeln auf. Vergessen wir weiters nicht, dass zur Zeit seiner Kindheit noch Hexenverbrennungen stattfinden. Alles in allem kein Umfeld in dem man erwarten würde, dass ein liberaler Freigeist heranwächst. So führen seine Einstellungen auch zu Konflikten in der Familie. Er geht nicht mehr in die Kirche und streitet sich mit seinem Onkel über "Wahrheit" in der Bibel.

David Hume
(Bild von Wikimedia Commons)
Hume interessiert sich von früher Jugend an für Wissenschaft und Philosophie, hört vermutlich von den Naturrechtslehren des Grotius aus Holland und von den beginnenden Naturwissenschaften (die damals noch als Naturphilosophie bezeichnet wurden) aus England, wo Isaac Newton und Francis Bacon zu den bestimmenden Denker der Zeit zählen. Neben den Wissenschaften gilt sein Interesse den Klassikern wie Cicero oder Horaz. Zwar besucht er die Universität, er inskribiert Jus im Jahr 1731 in Edinburgh, studiert dies aber nur mit geringem Interesse und erlangt keinen Abschluss. Für ihn steht nun fest, dass er Philosoph werden möchte.

David Hume verbringt in mehreren Aufenthalten relativ viel Zeit in Frankreich. Er schätzt die Franzosen im Allgemeinen, und die französischen Intellektuellen der Zeit im Besonderen. In der Jugend studiert in Frankreich die Werke Lockes und Berkeleys. Bereits als anerkannter Philosoph reist er in späteren Jahren als Sekretär des britischen Botschafters wieder nach Frankreich (cherchez la femme...) und ist in Paris ein gern gesehener Gast bei verschiedensten gesellschaftlichen Ereignissen – "rauschende Feste lösten einander ab". Er war mit vielen der Intellektuellen Frankreichs sehr gut befreundet, z.B. mit D'Alambert, dem er auch in seinem Testament eine erhebliche Geldsumme vermacht. Ein Konflikt mit Rousseau, dem er hilft nach England zu kommen, schlägt erhebliche Wellen, ist aber wohl auf den schwierigen Charakter Rousseaus zurückzuführen.

Zu Beginn seines Lebens muss er sich noch mit verschiedenen "Jobs" herumschlagen um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, unter anderem als Hauslehrer, und wird auch aufgrund seiner liberalen Gedanken von einigen Stellen abgewiesen. Eine Episode dieser Zeit zeigt den Charakter Humes sehr deutlich: nach vielen Ablehnungen erhält er letztlich den Posten eines Bibliothekars. Diese Position ist für ihn auch darum sehr hilfreich, weil er für seine Studien unmittelbaren Zugang zu Literatur hat. Eine seiner Funktionen besteht auch im Ankauf von Büchern. Als er (französische) Bücher bestellt, die einigen konservativen Kräften als gotteslästerlich erscheinen, gerät er in Schwierigkeiten. Hume trägt diesen speziellen Konflikt zwar nicht aus sondern gibt klein bei, entscheidet sich aber, dass es ihm nicht mehr möglich ist, die Entlohnung für seine Tätigkeit als Bibliothekar zu behalten. Er verbleibt in dem Posten, gibt sein Gehalt aber einem blinden und mittellosen Dichter.

Zu seinem Lebensende war Hume wohlhabend, unter anderem auch darum, weil er sich nach seinen philosophischen und ethischen Abhandlungen als Historiker betätigte. Die in sechs Bänden erschienene Geschichte Englands war auch kommerziell äußert erfolgreich und ermöglichte ihm ein sorgenfreies Leben. Für viele Zeitgenossen galt Hume daher auch hauptsächlich als Historiker, nicht als Philosoph. An seinem Lebensabend drängt ihn selbst der König, er solle seine Geschichte Englands fortsetzen. Hume aber antwortet, er sei inzwischen zu alt, zu dick, zu faul und zu reich geworden.

Heute steht, trotz seiner bemerkenswerten Leistung als Historiker, mit Sicherheit seine Philosophie im Vordergrund.

Die Philosophie Humes

1731 schreibt er in einem Brief: "Ich fand, dass die aus der Antike überlieferte Moralphilosophie unter demselben Mangel litt, der schon in der Naturphilosophie gefunden wurde, nämlich gänzlich spekulativ zu sein und mehr auf Erfindung als auf Erfahrung zu beruhen." Und dieser Kampf gegen das spekulative, gegen die Metaphysik, gegen die "großen" philosophischen Ideen der Zeit, die viel versprechen aber wenig in der Realität verankert sind, bestimmen den größten Teil seiner Karriere. Seiner Ansicht nach soll Wissenschaft auf genauer Beobachtung begründet sein. Er betrachtet aber (in ganz moderner Weise!) auch die Natur des Menschen, die Psychologie, und deren Einfluss auf unsere Wahrnehmung, Beobachtung, Erkenntnis und davon abgeleitete Theorien. Seine Abneigung gegen die etablierte metaphysischen Vorstellungen bringt er in einer oft zitierten Aussage zum Ausdruck:
"If we take in our hand any volume; of divinity or school metaphysics, for instance; let us ask, Does it contain any abstract reasoning concerning quantity or number? No. Does it contain any experimental reasoning concerning matter of fact and existence? No. Commit it then to the flames: for it can contain nothing but sophistry and illusion."
"Wenn wir irgendein Buch in die Hand nehmen; beispielsweise eine theologische oder metaphysische Schrift; so lasst uns fragen: enthält das Werk abstrakte (logische) Beweisführungen, die Zahlen oder Größen betreffen? Nein. Enthält es Beweisführung auf der Grundlage von Experimenten, die sich auf Tatsachen und Seiendes beziehen? Nein. Dann übergib es den Flammen: denn es kann nichts enthalten als Sophisterei und Blendwerk." [eigene Übersetzung]

Induktion und Empirismus

In der Wissenschaftstheorie wird Hume häufig mit John Locke und George Berkeley als Empiriker bezeichnet. Dies stimmt nur zum Teil. Sein Ausgangspunkt war wohl eine empirische Sicht der Welt, die er aber auch in vielen Aspekten kritisiert. Was genau ist nun unter Empirismus zu verstehen? John Locke schrieb etwa: "Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre." Diese Aussage schliesst passt sehr gut zu dem oben erwähnte Zitat Humes, der immer die Bedeutung der Beobachtung, den Bezug zur Realität betont. Aber damit nicht genug: Wir beobachten ebenfalls wie eine Sache der anderen folgt und schließen daraus Kausalität. Drücken wir wiederholt auf einen Knopf und es läutet immer eine Glocke, so folgt für uns, dass das drücken der Glocke ursächlich (also kausal) mit dem Läuten verbunden ist, dieses also verursacht. Solche Schlussfolgerungen sind nicht nur die Basis unseres Alltages sondern im Prinzip auch die Basis der Wissenschaft.

Auf eine gewisse Weise erfinden wir also kausale Abhängigkeiten aus zeitlichen Abfolgen. Aus Regelmässigkeiten entwickeln wir Erwartungshaltungen über das Verhalten des Systems in der Zukunft. Hume stellt sich dann aber die Frage: ist dies tatsächlich ein logisch gültiges Fundament für (wissenschaftliche) Erkenntnis?, und muss korrekterweise feststellen, dass wir aufgrund dieser zeitlichen Abfolge keinen Beweis auf die tatsächliche kausale Verbindung dieser Ereignisse ableiten können. Genauer gesagt, gibt es keine logische Notwendigkeit die aus einer Abfolge eine Kausalität ableiten ließe. Es spricht nichts prinzipiell dagegen, dass beim 100. Mal drücken des Knopfes die Glocke nicht läutet, oder der eine Billiard-Ball den zweiten nicht wie die 100 Male zuvor wegschlägt. Es gibt keine logische Notwendigkeit für diese Verhalten, die Welt könnte sich auch völlig anders zeigen.

Hume gilt damit als einer der ersten Kritiker der Induktion, mit der sich Karl Popper im 20. Jahrhundert  wieder sehr intensiv auseinandergesetzt hat. Induktion ist nur das kompliziertere Wort dafür, dass wir (als Wissenschafter) Dinge, Regelmässigkeiten, Abläufe beobachten und von diesen – vielleicht auch sehr vielen – einzelnen Beobachtungen Regeln und Gesetze ableiten. Wir erwarten dann, dass diese Regeln auch in der Zukunft gelten.

Worauf aber ist die Induktion selbst begründet? Hume stellt fest, dass die einzige Begründung der Induktion darin liegt, dass sie in der Vergangenheit funktioniert hat, und wir daher erwarten, dass sie auch in der Zukunft funktioniert. Dies ist aber selbst wieder eine Anwendung der Induktion, also ein Zirkelschluss.

Damit legt Hume den Grundstein für eine wichtige Erkenntnis moderner empirischer (Natur)wissenschaft: jede Erkenntnis kann immer nur vorläufig als richtig gelten, und kann prinzipiell nicht bewiesen werden, wenn sie auf empirischen Daten beruht. (Dies gilt nicht für Mathematik und Logik, da diese nicht auf empirischen Daten beruhen.) Karl Popper macht dies anhand des Beispiels der "schwarzen Schwäne" deutlich. Bis zur Entdeckung, dass es in West-Australien schwarze Schwäne gibt, galt das weiße Gefieder als fundamentales Merkmal von Schwänen. Dies wurde in Europa immer und immer wieder (induktiv) "bewiesen". Bis zur Entdeckung der schwarzen Schwäne in Australien. Die Entdeckung eines einzelnen schwarzen Schwans macht also eine Theorie im Prinzip ungültig. (In der wissenschaftlichen Praxis ist die Situation zumeist deutlich komplexer, aber die grundlegende Idee lässt sich so veranschaulichen).

Nordamerikanischer Truthahn
(Foto Wikimedia Commons)
Auf den britischen Philosophen des 20. Jahrhunderts Bertrand Russel geht folgende berühmte Illustration Humes Kritik zurück: Der Bauer gibt dem Truthahn jeden Morgen einen Eimer voll Korn. Je öfter dies passiert umso sicherer wird der Truthahn (induktiver Schluss), dass dies von nun an jeden weiteren Morgen so vor sich gehen wird. Mit jedem weiteren Tag steigt daher seine Sicherheit – bis zu jenem unseligen Weihnachtsmorgen, an dem der Bauer an Stelle des Eimers die Hacke mitbringt...

Hume soll aber nicht falsch verstanden werden: Wissen kann zwar immer nur vorläufig gültig sein, er lehnt aber weder Empirie noch Induktion als wissenschaftliche Methodik, oder als Praxis im Alltag ab. Beide Prinzipien gehören zu den besten Mechanismen die wir kennen um neues Wissen zu gewinnen und bestehende Erkenntnis zu prüfen. Er betont nur, dass wir aus empirischen Erkenntnissen keine logisch zwingenden Theorien ableiten oder diese gar beweisen können.

Die Haltung Humes könnte man als gemäßigten Skeptizismus bezeichnen: Es werden alle Formen des Dogmatismus abgelehnt, wir sollten uns auf der Basis der Erfahrung und Beobachtung auch in der Zukunft orientieren, aber immer offen bleiben unsere Ansichten im Lichte neuer Erkenntnis zu revidieren oder anzupassen.

Wunder benötigen Glauben, und Glaube benötigt Wunder

Hume bleibt bis an sein Lebensende energischer Gegner von Irrationalitäten aller Art und argumentiert sehr umfangreich gegen den damals (und auch noch heute bei manchen) beliebten Glauben an Wunder. Denn letztlich steht immer Aussage gegen Aussage: Die eine Aussage ist die eines lange etablierten durch eine enorme Vielzahl an Beobachtungen und eine Vielzahl an Experimenten und Anwendungen gestärkten Naturgesetzes. Auf der anderen Seite steht die Aussage oft unzuverlässiger Einzelner, die vielleicht sogar noch Eigeninteressen haben. Auch erkennt er, dass Individuen und Gruppen sehr leicht Irrtümern aller Art unterliegen können. Er vertritt daher (klarerweise im Gegensatz zur Kirche) die Ansicht, dass es in der Geschichte kein einziges glaubwürdiges Wunder gab. Er kann als geistiger Vater der Aussage die Carl Sagan bekannt gemacht hat gelten: "Spektakuläre oder herausragende Behauptungen benötigen auch herausragende Beweise."

Humes Ansicht über Religion und Glauben war zweifellos kritisch, aber nicht so eindeutig ablehnend wie die seiner französischen Freunde, z.B: von D'Alembert. Viele der französischen Intellektuellen waren Atheisten. Diese Haltung hat Hume aber bis zuletzt abgelehnt. Man könnte ihn vermutlich am besten als Agnostiker, radikalen Skeptiker und Kritiker fragwürdiger Ideologien und Moralvorstellungen bezeichnen. Er schreibt er in der Naturgeschichte der Religion:
"Sie [die Gläubigen] rechnen sich den blinden Glauben als Verdienst an und verbergen durch die stärksten Beteuerungen und den eifrigsten Fanatismus ihren tatsächlichen Unglauben vor sich selbst"
Er stellt auch die gängigen Gottesvorstellungen in energischen Zweifel und schreibt am Ende eines ungeheuer eindrucksvollen Textes, den er in Form eines Dialoges verfasst:
"Auf Epikurs alte Frage gibt es immer noch keine Antwort: Ist er [Gott] willens, aber nicht fähig, Übel zu verhindern? Dann ist er ohnmächtig. Ist er fähig aber nicht willens? Dann ist er boshaft. Ist er sowohl fähig als auch willens? Woher kommt dann das Übel."
Dazu kommt noch, dass schlechte Dinge sowohl guten als auch bösen Menschen gleichermassen widerfahren. Er geht auch auf das bist heute noch gängige Argument vieler Gläubiger ein: Natürlich würden auch im Namen der Religion immer wieder Schandtaten begangen – man mag nur an die lange Geschichte der Grausamkeiten der katholischen Kirche zurückdenken – aber dies wäre ja nicht die tatsächliche Religiosität, sondern fallweise Verirrungen. Hume schreibt dazu,
"Die wahre Religion hat, das räume ich ein, keine solchen verderblichen Konsequenzen. Doch wir müssen die Religion so nehmen, wie sie gewöhnlich in der Welt vorkommt."
Er formulierte auch in seiner Ethik einen Gedanken, der bis heute Gültigkeit hat: es galt die Meinung, dass moralische Einsichten auf Vernunftgründen basieren, und diesen Vernunftgründen Handlungen folgen. Hume aber erkennt, dass Vernunftgründe das menschliche Handeln nicht bestimmen. Moralische Einsichten können das Handeln zwar beeinflussen, sie begründen die Handlungen aber nicht alleine. "Sittlichkeit wird also viel mehr gefühlt als beurteilt".

Hume, der Darwinist?

Charles Darwin
(Foto Wikimedia Commons)
In dem Dialog über natürliche Religion entwickelt er eine Idee, die man als Vorläufer der Darwinschen Frage sehen könnte, wie Ordnung und Struktur in die Welt des Lebendigen kommt. Er schreibt:
"Es ist deshalb müssig, immer wieder auf die Nützlichkeit der einzelnen Tiere oder Pflanzen, sowie auf ihre erstaunliche Anpassung aneinander hinzuweisen. Ich möchte gerne wissen, wie ein Lebewesen existieren könnte, wenn seine Teile nicht in dieser Weise angepasst wären. Finden wir nicht, dass es sogleich eingeht, wenn diese Anpassung aufhört? [...] Und kann man nicht auf diese Weise den Anschein von Weisheit und Planung, wie ihn das Universum bietet erklären?"
Ich finde es faszinierend, wie er die wesentliche Konsequenz einer Theorie vorwegnimmt, die erst etwa 100 Jahre später von Charles Darwin gelegt wird. Die Idee nämlich, unser Universum bräuchte keine Planung und Weisheit, sondern könnte das Ergebnis natürlicher Prozesse sein. Eine Erkenntnis die – so selbstverständlich sie 150 Jahre nach Charles Darwin eigentlich für jedermann sein sollte – immer noch von vielen Gläubigen zwar ohne vernünftige Argumente, dafür umso heftiger bestritten wird. David Hume würde die Diskussion die heute immer noch über Kreationismus geführt wird – auch wenn er sich unter verschiedenen Deckmänteln wie Intelligent Design tarnt – wohl kaum für möglich gehalten haben.

Zu behaupten, dass David Hume Darwins Evolutionstheorie vorweggenommen hätte geht allerdings mit Sicherheit viel zu weit. Mir ist auch nicht bekannt, ob Charles Darwin David Hume gelesen hat. Unwahrscheinlich ist es jedoch nicht. Denn besonders nach Humes Tod galt er als einer der bedeutendsten Philosophen der Zeit. Aber selbst wenn Darwin diesen Text nicht gelesen hat, so zeigt es aus meiner Sicht doch, wie langsam das Klima für bestimmte Ideen geschaffen wird. Schliesslich ist es selten der Fall, dass eine Einzelperson in der Lage ist, ein herrschendes Paradigma durch eine neue Idee zu ersetzen.

Um die Anfangs gestellte Frage für mich selbst zu beantworten: Ich stelle mich in die Reihe der Philosophen ganz hinten an, die David Hume als Gesprächspartner für einen Abend ausgewählen würden.

Quellen

Weitere Artikel zur Wissenschaftsgeschichte!

Donnerstag, 21. April 2011

"Leadership" und persönliche Verantwortung

In einem der aktuellen TED-Talks hält der US-General Stanley McChrystal eine ansprechende Rede über Leadership. In seinem Vortrag bezieht er sich auf persönliche Erfahrungen in der US-Army, Erfolge, aber auch Niederlagen. Nach diesem Video ist mir wieder ein sehr fundamentales Dilemma, das viele Menschen betrifft, durch den Kopf gegangen. Gerade das sehr glaubwürdige und vertrauenswürdige Auftreten von General McChrystal macht das Problem der häufig kaum zu vereinbarenden Innensicht eines Systems in dem man steckt mit der Außensicht sehr deutlich:



In unserem täglichen Leben, besonders auch im Arbeitsumfeld, sind die meisten von uns Teil eines größeren Systemes. Dieses System kann eine Universität sein, eine international tätige Firma, aber auch der Staat, wenn man beispielsweise als Beamter, Polizist, oder eben Soldat beschäftigt ist. Die meisten Menschen werden dann auch über die Jahre völlig von diesen Systemen vereinnahmt und verlieren die Fähigkeit eine halbwegs kritische Außensicht zu akzeptieren. Besonders aus der Sicht des Systems in das ihre Arbeit eingebettet ist, können dann Menschen wie General McChrystal auch eine sehr eindrucksvolle Persönlichkeit darstellen. Aber wie sieht es in einer kritischen Außensicht aus?

Versucht man über den Tellerrand des eigenen Systems hinauszublicken gerät man häufig in eine kognitive Dissonanz, die nicht für alle leicht zu ertragen sein kann. Im konkreten Beispiel: Wenn man US-General ist und die höflich gesagt fragwürdigen Ideen eines George Bush ausführen (oder besser ausbaden) muss, darf man wohl nicht all zuviel nachdenken. Man ist dafür verantwortlich, dass junge Menschen, die man selbst in den Irak schickt, sterben. Man ist mitverantwortlich, dass eine Region destabilisiert wird und abertausende Menschen umkommen oder ihrer Lebensgrundlage beraubt werden. Natürlich kann man sich (wie das in der Geschichte so oft passiert ist) darauf ausreden, dass man nur Befehle befolgt. Dies wäre die mit Scheuklappen begleitete systemische Innensicht. Einem intelligenten und kritischen Menschen aber muss dies schlaflose Nächte bereiten. Welchen Ausweg gibt es für einen Soldaten, einen General, dessen System Wiederrede prinzipiell nicht zulässt?

Das Militär ist ein sehr offensichtliches Beispiel. Wenn ich in einer (Investment-) Bank arbeitet, darf ich über die absurden Finanzkonstrukte nicht zu intensiv nachgrübeln. Noch darf ich mir die Frage stellen, ob die Privatpension, die ich einem jungen Menschen andrehe, auch nur irgendwie fundiert ist, oder ob ich nicht von der Marketingabteilung hübsch gezeichnete Märchen darstelle die in Wahrheit nicht vielmehr sind als ein Lotteriespiel, dessen Ergebnis wir in 35 Jahren sehen werden? Arbeite ich bei einem Boulevard-Medium – wie gehe ich damit um, dass viele Eigentümer gelinde gesagt fragwürdige Gestalten mit einer vermutlich noch fragwürdigeren Agenda sind. Und wenn ich Software-Entwickler bin, vielleicht weil ich gerne mit komplexen Systemen arbeite: darf ich mir die Frage stellen, ob meine Systeme dafür (mit)verantwortlich sind, dass andere (Firmen) in die Lage versetzt werden die ohnedies schon äußerst knappen natürlichen Ressourcen in noch schnellerer Zeit zu zerstören? Oder ziehe ich mich dann doch darauf zurück, dass ich ja nur komplexe Systeme integriere und letztlich nicht dafür verantwortlich bin, was damit konkret angestellt wird. Ein Argument, das von Waffenproduzenten auch sehr gerne verwendet wird. Bei Waffen ist die Absurdität der Behauptung nur offensichtlicher.

Haben wir diese Argumentationslinie nicht schon öfter gehört? Haben wir nicht den Kopf geschüttelt, wie es denn sein kann, dass an und für sich anständige Menschen immer tiefer in fragwürdige Geschäfte geraten? Es sind, wie Carol Tavris und Elliot Aronson so schön darstellen, selten die großen Schritte die aus einem "normalen" Menschen einen Verbrecher machen, sondern eine Vielzahl an kleinen Schritten. Eine Vielzahl an kleinen Schritten gepaart mit kleinen Rechtfertigungen, warum gerade dieser eine Schritt jetzt gerade noch vertretbar ist.

Ist es nicht genau dasselbe mit unserer Innen/Aussensicht der Systeme in denen wir arbeiten? Wir sind ganz selten für die großen Probleme direkt verantwortlich. Durch meine Software fallen keine Vögel im Regenwald tot von den Bäumen. Ein General der US-Army rechtfertigt vielleicht den Einsatz im Irak mit der Befreiung des Landes, die langfristig positive Folgen haben werde. Er nimmt an (hofft) dass dies in relativ kurzer Zeit und vertretbaren Verlusten möglich ist. Dann kommt ein kleines Desaster nach dem anderen. Ein Terror Anschlag, Soldaten die auf Zivilisten schießen, fehlgeleitete Drohnen. Jedes Missgeschick, jedes Problem wird individuell entschuldigt, die Summe aus den Augen verloren. Es sind also eher die vielen kleinen Entscheidungen und Entschuldigungen die nach längerer Zeit dazu führen können, dass wir uns in eine Richtung entwickeln, Dinge tun, eine Rolle einnehmen, die mit unseren Überzeugungen vor vielleicht 10 Jahren durch nichts zu rechtfertigen gewesen wären.

In einer besonders schwierigen Rolle, und damit schließt sich der Kreis, stehen natürlich diejenigen die sich in einer Führungsposition befinden. Denn von einer Führungspersönlichkeit erwartet man den weiteren Blick, die Entscheidung in die richtige Richtung. Denn gerade das macht ja einen Manager, einen General aus. Aber sind nicht letztlich sogar 4-Sterne Generale und CEOs in einem systemischen Zwang gefangen? Vielleicht ist gerade diese Dissonanz auch der Grund, warum sich viele Menschen auch dann immer tiefer in den bekannten und geschützten Raum ihres Systems, sei das die US-Army, die Investmentbank oder die Firma in der man arbeitet, vergraben. Denn hält man den Kopf aus dem Fenster bläst meist ein sehr kalter Wind, den nicht jeder ertragan kann und will. Und eine Entscheidung zurück würde einen großen Teil des eigenen Lebenswegs in Frage stellen. 

Noch schwieriger wird die nächste Ebene der Betrachtung: wir sind nahezu immer in Systeme eingebettet (Arbeit, Gesellschaft, Mobilität, Konsum, Geldwesen, ...) die Schattenseiten haben, und deren negativen Auswirkungen wir eigentlich nur schwer ignorieren dürften. Aber was sind die Alternativen? Können wir es ertragen alles in Frage zu stellen? Und bis zu welchem Grad ist es in Ordnung mitzuspielen, und ab welchem Punkt ist man einen Schritt zu weit gegangen? Dies ist eine im Detail sehr schwierige persönliche Frage, deren Beantwortung von den meisten Menschen gerne vermieden wird, weil sie selbst für integre Personen kaum zu bewältigen ist.

Wenn am Ende das System explodiert oder massiven Schaden anrichtet, fühlt sich in logischer Konsequenz niemand verantwortlich. Niemand will gewusst haben, was denn die eigene Arbeit so alles angerichtet hat. Jeder hat nur seine Pflicht getan, seine Rolle im System ausgefüllt, seinen "Job" gemacht. 

Montag, 28. März 2011

Wikipedia: Wahrheit auf Knopfdruck?

Ich stehe der Wikipedia seit langem mit sehr gemischten Gefühlen gegenüber. Einerseits bietet die Wikipedia zu vielen Stichworten sehr gute und auch relativ detaillierte Information. Viele Internet-Nutzer schlagen daher auch sehr häufig zunächst in der Wikipedia nach. Bei jedem zweiten Vortrag liest man wie dieser oder jener Begriff in der Wikipedia definiert wird, Massenmedien wie der ORF verlinken auf Wikipedia-Artikel. Dass sogar Studenten immer häufiger die Wikipedia als primäre Referenz verwenden (es soll sogar Professoren geben, die eine derartig fragwürdige Praxis akzeptieren!) zeigt, dass sie entweder zu faul sind den Dingen auf den Grund zu gehen (was eigentlich die Idee des Studierens wäre) oder dass sie ebenso wenig wie die Durchschnittsnutzer verstehen wie die Wikipedia funktioniert.

Die Konsequenz daraus ist eine Selbstverstärkung: Wikipedia-Artikel tauchen als erste Suchergebnisse bei Google auf und werden damit wieder für immer mehr unbedarfte Nutzer zur Standard-Informationsquelle. So wertvoll die Kollaboration bei vielen Artikeln auch ist, die Qualität der Information ist keinesfalls gleichmässig verteilt. Gerade dies ist aber vielen Nutzern offenbar überhaupt nicht klar. In Gesprächen mit Nicht-Informatikern stelle ich auch immer wieder fest, dass es vielen unbekannt ist, dass jeder einen Artikel ändern kann und dass die vorhanden Artikel von vielen unbekannten Autoren stammen. Die Information in einem Artikel darf daher nur mit großer Zurückhaltung und kritischer Distanz (einer Eigenschaft die, wie wir wissen vielen Menschen eigen ist) verwendet werden. Dazu kommt, dass es oft sehr schwierig ist die Qualität eines Artikels einzuschätzen. Bei der Britannica und anderen traditionellen Enzyklopädien ist es immerhin ein oder mehrere Experten die für einen bestimmten Artikel zuständig sind. Dazu kommt, dass einmal aufgenommene Artikel auch weiter gewartet werden (oder wurden, die Zukunft traditioneller Enzyklopädien ist ja auch dank Wikipedia höchst ungewiss). 

Dies ist absolut keine Garantie für Fehlerfreiheit. Jeder Wissenschafter aber hat gelernt mit namentlich gekennzeichneten Beiträgen aus Artikeln umzugehen. Diese werden entsprechend zitiert und man weiß, dass es sich dabei nicht um der Weisheit letzten Schluss handeln muss. Diese Beiträge unterliegen dem üblichen wissenschaftlichen Diskurs. Für den Laien bedeutet die Verwendung traditioneller Enzyklopädien, dass die vorhandenen Artikel einen relativ gleichartig hohen Standard haben.

Bei der Wikipedia ist dies naturgemäß anders: hier gibt es massive Schwankungen. Einem Top-Artikel steht ein Artikel mit völlig falschen Aussagen gegenüber. Es gibt keine Autoren, deren Expertise und deren "Track Record" man prüfen könnte. Daher dürften Wikipedia Artikel – vor allem im wissenschaftlichen oder journalistischem Kontext – ausschliesslich als Einstieg verwendet werden, als Startpunkt für weitere Recherche über die angegebenen Primärquellen. Denn jede Behauptung in einer Online Enzyklopädie muss mit einer hochwertigen Quellenangabe belegt werden. Anders kann die Qualität einer Behauptung in diesem Prozess nun einmal nicht nachgewiesen werden. Dass sich Ulrich34 und Schlumpf12 in einem Edit-War letztlich zu einer Aussage durchgerungen haben mag für die Community Unterhaltungswert haben, beweist aber inhaltlich rein gar nichts. Leider ist eine saubere Referenzierung aber bei weitem nicht immer der Fall. Dazu kommt, dass vielen Wikipedia-Autoren auch nicht klar ist, dass ein Link auf die Huffington Post oder irgendeine andere mehr oder weniger fragwürdige Tageszeitung keine seriöse Quelle darstellt. Immer häufiger gibt es auch Wartungsprobleme, konkret: Referenzen die nicht mehr existieren, tote Links. 

Auch das in der Relevanz-Diskussion der vor allem gegen die Praktiken der deutschen Wikipedia gerne angeführte Argument "Speicherplatz kostet ja nichts" greift leider viel zu kurz und missversteht eine wichtige Funktion einer Enzyklopädie: Einmal irgendwelche Texte online stellen erzeugt kein Wissen. Wissen bedarf konstanter Reflexion, Diskussion von Experten, Überarbeitung und Wartung. Wartung der Texte, aber auch Wartung der Quellenangaben. Genau dies wird aber immer schwerer je mehr (fragwürdige) Artikel sich online befinden. 

Für den Konsumenten aber ist die Sache klar: was in der Wikipedia steht ist Wahrheit. Punkt. Weder werden Zustand von Artikeln genauer hinterfragt, die Diskussionsseiten angesehen, die Referenzen geprüft. Der Text ist Stand des Wissens; für den wenig begabten Studenten oder Wissenschafter trifft dies leider auch immer häufiger zu. Psychologen wissen längst, dass Information verwendet wird, selbst wenn vermerkt wird, dass sie fragwürdig ist. Insofern helfen die Standardtexte die problematische Artikel zieren auch kaum weiter. Betrachten wir noch zwei konkrete Beispiele:

"Wie ich Stalins Badezimmer erschuf" 

In der Berliner Tageszeitung schildert Andreas Kopietz, wie er aus Langeweile den Artikel über die "Karl-Marx-Allee" mit folgender erfundenen Behauptung ergänzte: "Wegen der charakteristischen Keramikfliesen wurde die Straße zu DDR-Zeiten im Volksmund auch, Stalins Badezimmer‘ genannt." Er schreibt weiter:
"Eine Schar ehrenamtlicher Mitarbeiter prüft die Einträge der Nutzer vor Veröffentlichung auf Plausibilität. Ein Wikipedianer aus Wölfersheim in Hessen befand meine Version kurze Zeit später für richtig – und damit bekam der Volksmund einen neuen Begriff: 'Stalins Badezimmer'."
Was in der Wikipedia steht muss wahr sein, folglich übernehmen andere Informationsportale diese Tatsache, 2009 wird der Begriff in einer "wissenschaftlichen" Arbeit verwendet, 2010 taucht der Begriff in einem journalistisch mit großer Mühe recherchiertem Artikel im "Stern" sowie in anderen Tageszeitungen auf. Später versucht er diesen Satz wieder zu löschen, die Löschung wird aber von einem Wikipedia Moderator rückgängig gemacht.

So steht es in der Wikipedia geschrieben. So entstehen Wahrheiten.

82.361

Ein anderes Beispiel aus eigener Recherche: Philip Tetlock, ein amerikanischer Psychologe, untersuchte in einer 20-jährigen Studie die Qualität von Expertenvoraussagen. In dem an sich guten Buch "Risk" von Dan Gardner finden sich dazu zwei Zahlen: Tetlock hätte 284 Experten befragt und in Summe 82.361 Vorhersagen untersucht. Nun, jeder der sich ein wenig mit Wissenschaft beschäftigt, stolpert natürlich sofort über derartig präzise Zahlenangaben (besonders über 82.361). Da ist in den allermeisten Fällen etwas faul. Häufig ist dies ein Trick um Genauigkeit vorzutäuschen wo keine ist, oder einfach ein statistisches Artefakt ohne Bedeutung. Da ich Tetlocks Studie selbst in einem Text verwende, recherchiere ich nach. Die 284 taucht tatsächlich in mehreren Quellen auf, darunter einem Interview im Wall Street Journal, einem Text über seine Arbeit sowie in einer von ihm selbst gehaltenen Präsentation. Diese Zahl scheint also zu stimmen. Die 82.361 aber kann ich nirgends belegen, außer – Sie werden es schon erraten haben – in der englischen Wikipedia. Dort finden sich genau diese 82.361. Selbstverständlich, wie in der Wikipedia so oft üblich, ohne brauchbare Quellenangabe. Hat Dan Gardner diese Zahl einfach aus einem fragwürdigen Artikel der Wikipedia übernommen? Ich weiß es nicht, aber eine andere Quelle konnte ich nicht finden. Dafür taucht aber eine andere Zahl (nämlich 28.000) in mehreren Quellen auf. Ich habe den Wikipedia-Artikel entsprechend korrigiert, allerdings war er zuvor wohl schon Quelle unkritischer Recherche. 

Kurz gesagt, ich beginne die Wikipedia mit immer größerem Misstrauen zu betrachten. Die Wikipedia ist längst zum Monopol des Wissens für die Allgemeinheit geworden. Informationen die in einem Wikipedia-Artikel auftauchen werden als Wahrheit identifiziert, können weite Kreise ziehen und entsprechenden Schaden anrichten. Besonders schlimm aber finde ich, dass auch im akademischen Umfeld, wo gerade Kritikfähigkeit eigentlich die Arbeitsgrundlage darstellt, offensichtlich immer schlampiger mit der Wikipedia umgegangen wird. 

Um es nochmals klar und deutlich zu sagen – auch wenn manche naive Crowdsourcing-Apologeten immer noch etwas anderes behaupten: Die Wikipedia ist als Primärquelle völlig wertlos, ja irreführend und subversiv gegenüber dem kritischen Diskurs. In einem wissenschaftlichen Text, einer Diplomarbeit oder Dissertation hat eine entsprechende Referenz daher auch nichts zu suchen. Ernsthaft darf die Wikipedia ausschliesslich verwendet werden, wo Behauptungen entsprechend mit Quellenangeben belegt und diese Quellenangaben auch überprüft werden. Für wissenschaftliche Arbeit sind überhaupt nur die Referenzen auf Primär-Quellen von Relevanz. 

Auch wäre es wichtig, den Nutzern der Wikipedia diese Problematik und das zugrundeliegende Prinzip deutlicher zu machen; vielleicht würde dies dem Laien helfen, den Umgang mit dem an sich nützlichen Tool zu verbessern.


Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)