Montag, 28. März 2011

Wikipedia: Wahrheit auf Knopfdruck?

Ich stehe der Wikipedia seit langem mit sehr gemischten Gefühlen gegenüber. Einerseits bietet die Wikipedia zu vielen Stichworten sehr gute und auch relativ detaillierte Information. Viele Internet-Nutzer schlagen daher auch sehr häufig zunächst in der Wikipedia nach. Bei jedem zweiten Vortrag liest man wie dieser oder jener Begriff in der Wikipedia definiert wird, Massenmedien wie der ORF verlinken auf Wikipedia-Artikel. Dass sogar Studenten immer häufiger die Wikipedia als primäre Referenz verwenden (es soll sogar Professoren geben, die eine derartig fragwürdige Praxis akzeptieren!) zeigt, dass sie entweder zu faul sind den Dingen auf den Grund zu gehen (was eigentlich die Idee des Studierens wäre) oder dass sie ebenso wenig wie die Durchschnittsnutzer verstehen wie die Wikipedia funktioniert.

Die Konsequenz daraus ist eine Selbstverstärkung: Wikipedia-Artikel tauchen als erste Suchergebnisse bei Google auf und werden damit wieder für immer mehr unbedarfte Nutzer zur Standard-Informationsquelle. So wertvoll die Kollaboration bei vielen Artikeln auch ist, die Qualität der Information ist keinesfalls gleichmässig verteilt. Gerade dies ist aber vielen Nutzern offenbar überhaupt nicht klar. In Gesprächen mit Nicht-Informatikern stelle ich auch immer wieder fest, dass es vielen unbekannt ist, dass jeder einen Artikel ändern kann und dass die vorhanden Artikel von vielen unbekannten Autoren stammen. Die Information in einem Artikel darf daher nur mit großer Zurückhaltung und kritischer Distanz (einer Eigenschaft die, wie wir wissen vielen Menschen eigen ist) verwendet werden. Dazu kommt, dass es oft sehr schwierig ist die Qualität eines Artikels einzuschätzen. Bei der Britannica und anderen traditionellen Enzyklopädien ist es immerhin ein oder mehrere Experten die für einen bestimmten Artikel zuständig sind. Dazu kommt, dass einmal aufgenommene Artikel auch weiter gewartet werden (oder wurden, die Zukunft traditioneller Enzyklopädien ist ja auch dank Wikipedia höchst ungewiss). 

Dies ist absolut keine Garantie für Fehlerfreiheit. Jeder Wissenschafter aber hat gelernt mit namentlich gekennzeichneten Beiträgen aus Artikeln umzugehen. Diese werden entsprechend zitiert und man weiß, dass es sich dabei nicht um der Weisheit letzten Schluss handeln muss. Diese Beiträge unterliegen dem üblichen wissenschaftlichen Diskurs. Für den Laien bedeutet die Verwendung traditioneller Enzyklopädien, dass die vorhandenen Artikel einen relativ gleichartig hohen Standard haben.

Bei der Wikipedia ist dies naturgemäß anders: hier gibt es massive Schwankungen. Einem Top-Artikel steht ein Artikel mit völlig falschen Aussagen gegenüber. Es gibt keine Autoren, deren Expertise und deren "Track Record" man prüfen könnte. Daher dürften Wikipedia Artikel – vor allem im wissenschaftlichen oder journalistischem Kontext – ausschliesslich als Einstieg verwendet werden, als Startpunkt für weitere Recherche über die angegebenen Primärquellen. Denn jede Behauptung in einer Online Enzyklopädie muss mit einer hochwertigen Quellenangabe belegt werden. Anders kann die Qualität einer Behauptung in diesem Prozess nun einmal nicht nachgewiesen werden. Dass sich Ulrich34 und Schlumpf12 in einem Edit-War letztlich zu einer Aussage durchgerungen haben mag für die Community Unterhaltungswert haben, beweist aber inhaltlich rein gar nichts. Leider ist eine saubere Referenzierung aber bei weitem nicht immer der Fall. Dazu kommt, dass vielen Wikipedia-Autoren auch nicht klar ist, dass ein Link auf die Huffington Post oder irgendeine andere mehr oder weniger fragwürdige Tageszeitung keine seriöse Quelle darstellt. Immer häufiger gibt es auch Wartungsprobleme, konkret: Referenzen die nicht mehr existieren, tote Links. 

Auch das in der Relevanz-Diskussion der vor allem gegen die Praktiken der deutschen Wikipedia gerne angeführte Argument "Speicherplatz kostet ja nichts" greift leider viel zu kurz und missversteht eine wichtige Funktion einer Enzyklopädie: Einmal irgendwelche Texte online stellen erzeugt kein Wissen. Wissen bedarf konstanter Reflexion, Diskussion von Experten, Überarbeitung und Wartung. Wartung der Texte, aber auch Wartung der Quellenangaben. Genau dies wird aber immer schwerer je mehr (fragwürdige) Artikel sich online befinden. 

Für den Konsumenten aber ist die Sache klar: was in der Wikipedia steht ist Wahrheit. Punkt. Weder werden Zustand von Artikeln genauer hinterfragt, die Diskussionsseiten angesehen, die Referenzen geprüft. Der Text ist Stand des Wissens; für den wenig begabten Studenten oder Wissenschafter trifft dies leider auch immer häufiger zu. Psychologen wissen längst, dass Information verwendet wird, selbst wenn vermerkt wird, dass sie fragwürdig ist. Insofern helfen die Standardtexte die problematische Artikel zieren auch kaum weiter. Betrachten wir noch zwei konkrete Beispiele:

"Wie ich Stalins Badezimmer erschuf" 

In der Berliner Tageszeitung schildert Andreas Kopietz, wie er aus Langeweile den Artikel über die "Karl-Marx-Allee" mit folgender erfundenen Behauptung ergänzte: "Wegen der charakteristischen Keramikfliesen wurde die Straße zu DDR-Zeiten im Volksmund auch, Stalins Badezimmer‘ genannt." Er schreibt weiter:
"Eine Schar ehrenamtlicher Mitarbeiter prüft die Einträge der Nutzer vor Veröffentlichung auf Plausibilität. Ein Wikipedianer aus Wölfersheim in Hessen befand meine Version kurze Zeit später für richtig – und damit bekam der Volksmund einen neuen Begriff: 'Stalins Badezimmer'."
Was in der Wikipedia steht muss wahr sein, folglich übernehmen andere Informationsportale diese Tatsache, 2009 wird der Begriff in einer "wissenschaftlichen" Arbeit verwendet, 2010 taucht der Begriff in einem journalistisch mit großer Mühe recherchiertem Artikel im "Stern" sowie in anderen Tageszeitungen auf. Später versucht er diesen Satz wieder zu löschen, die Löschung wird aber von einem Wikipedia Moderator rückgängig gemacht.

So steht es in der Wikipedia geschrieben. So entstehen Wahrheiten.

82.361

Ein anderes Beispiel aus eigener Recherche: Philip Tetlock, ein amerikanischer Psychologe, untersuchte in einer 20-jährigen Studie die Qualität von Expertenvoraussagen. In dem an sich guten Buch "Risk" von Dan Gardner finden sich dazu zwei Zahlen: Tetlock hätte 284 Experten befragt und in Summe 82.361 Vorhersagen untersucht. Nun, jeder der sich ein wenig mit Wissenschaft beschäftigt, stolpert natürlich sofort über derartig präzise Zahlenangaben (besonders über 82.361). Da ist in den allermeisten Fällen etwas faul. Häufig ist dies ein Trick um Genauigkeit vorzutäuschen wo keine ist, oder einfach ein statistisches Artefakt ohne Bedeutung. Da ich Tetlocks Studie selbst in einem Text verwende, recherchiere ich nach. Die 284 taucht tatsächlich in mehreren Quellen auf, darunter einem Interview im Wall Street Journal, einem Text über seine Arbeit sowie in einer von ihm selbst gehaltenen Präsentation. Diese Zahl scheint also zu stimmen. Die 82.361 aber kann ich nirgends belegen, außer – Sie werden es schon erraten haben – in der englischen Wikipedia. Dort finden sich genau diese 82.361. Selbstverständlich, wie in der Wikipedia so oft üblich, ohne brauchbare Quellenangabe. Hat Dan Gardner diese Zahl einfach aus einem fragwürdigen Artikel der Wikipedia übernommen? Ich weiß es nicht, aber eine andere Quelle konnte ich nicht finden. Dafür taucht aber eine andere Zahl (nämlich 28.000) in mehreren Quellen auf. Ich habe den Wikipedia-Artikel entsprechend korrigiert, allerdings war er zuvor wohl schon Quelle unkritischer Recherche. 

Kurz gesagt, ich beginne die Wikipedia mit immer größerem Misstrauen zu betrachten. Die Wikipedia ist längst zum Monopol des Wissens für die Allgemeinheit geworden. Informationen die in einem Wikipedia-Artikel auftauchen werden als Wahrheit identifiziert, können weite Kreise ziehen und entsprechenden Schaden anrichten. Besonders schlimm aber finde ich, dass auch im akademischen Umfeld, wo gerade Kritikfähigkeit eigentlich die Arbeitsgrundlage darstellt, offensichtlich immer schlampiger mit der Wikipedia umgegangen wird. 

Um es nochmals klar und deutlich zu sagen – auch wenn manche naive Crowdsourcing-Apologeten immer noch etwas anderes behaupten: Die Wikipedia ist als Primärquelle völlig wertlos, ja irreführend und subversiv gegenüber dem kritischen Diskurs. In einem wissenschaftlichen Text, einer Diplomarbeit oder Dissertation hat eine entsprechende Referenz daher auch nichts zu suchen. Ernsthaft darf die Wikipedia ausschliesslich verwendet werden, wo Behauptungen entsprechend mit Quellenangeben belegt und diese Quellenangaben auch überprüft werden. Für wissenschaftliche Arbeit sind überhaupt nur die Referenzen auf Primär-Quellen von Relevanz. 

Auch wäre es wichtig, den Nutzern der Wikipedia diese Problematik und das zugrundeliegende Prinzip deutlicher zu machen; vielleicht würde dies dem Laien helfen, den Umgang mit dem an sich nützlichen Tool zu verbessern.


Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)