Die übliche oder alltägliche Verwendung der Begriff »Expertise« beziehungsweise »Experte« irritiert mich schon seit längerem. Ständig werden uns Experten in Medien präsentiert, die die Welt erklären und Prognosen komplexer Systeme mit großem Selbstvertrauen darlegen.
Nun ist es hinreichend untersucht, dass solche Expertenprognosen in der Praxis sehr wenig wert sind, und in der Regel kaum über Zufallstreffer hinausgehen. Empfehlenswert dazu sind die Untersuchungen von Philip Tetlock.
Wir haben, so scheint mir, im Kern ein begriffliches Problem. »Experte« oder »Expertise« leitet sich vom lateinischen »expertus« ab, was etwa erfahren oder erprobt bedeutet. Es gibt hier also einen klaren Bezug zu praktischer Kompetenz. Daraus folgt für mich folgende Definition:
Expertise ist die Fähigkeit, Veränderungen in der Welt konsistent vorauszusagen oder herbeizuführen.
Um das an einigen Beispielen zu illustrieren:
- Ein Installateur zeigt Expertise, wenn er den Austausch einer Toilette weitgehend korrekt plant und umsetzt
- Ein Automechaniker ist kompetent, wenn er einen Schaden korrekt diagnostiziert und behebt
- Ein Chirurg ist kompetent, wenn er in der Lage ist, bestimmte Erkrankungen weitgehend korrekt zu diagnostizieren und entsprechend des aktuellen Wissenstandes zu behandeln, z.B. Knochenbruch, Trauma
- Ein Progammierer kann hohe Expertise in einer bestimmten Domaine haben, z.B. der Programmierung von Datenbanktransaktionen. Daraus folgt keine Expertise über die Nutzung dieser Komponente in großen und komplexen Softwaresystemen.
In den genannten Bereichen, und natürlich zahlreichen anderen, ist Expertise möglich, und Menschen können in diesem Sinne kompetent oder inkompetent sein.
Es gibt aber auch Domänen/Problemstellungen und Systeme, wo wir (erhebliches) Wissen aber keine oder wenig Expertise (nach obiger Definition) haben. Beispiele dafür sind:
- (Makro)ökonomie: Wir wissen vieles über inflationäre Ereignisse der letzten 100 Jahre, daraus folgt keine konkrete Expertise für die aktuelle Situation
- Klimawandel: wir wissen relativ viel über klimatische Entwicklungen der Vergangenheit, daraus leitet sich kaum Expertise über die Klimaentwicklung der nächsten Jahrhunderte ab, im Besonderen nicht in einem System, das mit menschlichem Handeln in stetiger Wechselwirkung steht
- Wir können vieles über Viren und vergangene Pandemien wissen, das gibt uns noch keine Expertise über eine neue Pandemie
In diesen und ähnlichen Feldern gibt es aus prinzipiellen Gründen keine Expertise und daher auch keine Kompetenz im Sinne, wie bei Expertise-Feldern. Diese Unterscheidung zwischen Wissen und Expertise ist in der Praxis von höchster Relevanz. Um einige ausgewählte Aspekte herauszugreifen:
- Es gibt Bereiche wo es tatsächlich Expertise gibt. Diese ist messbar und Kompetenz ist von Inkompetenz in klaren Kriterien unterscheidbar.
- Es gibt Bereiche, komplexe Situationen, wicked problems, in denen es keine Expertise in diesem Sinne geben kann, aber sehr wohl Wissen, das für Entscheidungsfindung relevant ist.
- Jemand der sein Leben an der Universität verbringt, hat im besten Falle Wissen, aber selten Expertise, selbst in den Bereichen, in denen man Expertise haben kann. Expertise kann daher nicht an Universitäten aufgebaut, sondern im besten Fall begründet werden.
- Die großen Herausforderungen der Zeit sind zumeist solche, wo es möglicherweise (viel) Wissen aber gerade keine nennenswerte Expertise gibt (z.B. Pandemien, Ökonomie, globale Energiesysteme, Umwelt, Klima)
- In Bereichen, in denen Expertise möglich ist (z.B. dem Bau von Infrastruktur), sollte man dieses praktische Wissen auf hohem Niveau erhalten und nicht durch übertriebene (und in der Regel wenig kompetente) Bürokratie behindern. Das Erhalten und Weitergeben von Expetise ist nur durch ständiges Tun und Ausbildung in der Praxis möglich.
Herausforderungen sind folglich sehr unterschiedlich zu behandeln, je nachdem ob es sich um solche handelt, wo es im engeren Sinne Expertise gibt oder eben nicht. Letztere benötigen eine vorsichtigere, bescheidenere und meist evolutionäre und explorative Herangehensweise, die von stetigen Rückkopplungsschleifen und demokratischer Mitbestimmung begleitet ist. Um wenige Beispiele zu nennen:
- funktioniert die letzte gesetzt Maßnahme?
- welche (unerwarteten) Seiteneffekte haben die Maßnahmen?
- was wissen wir noch nicht und müssen untersuchen?
- Stetig angepasste Interessensabwägung: ist das Verhältnis von Nutzen und Schaden / Seiteneffekte bestimmter Maßnahmen noch im Interesse der Allgemeinheit?
Übrigens gab es bereits in der Antike eine ähnliche Unterscheidung verschiedener Arten von Wissen: episteme (gr) oder scientia (lat) für Wissen um seines selbst Willen sowie techne (gr) oder ars (lat) für angewandtes Wissen; vielleicht vergleichbar damit, was ich Expertise nenne.
Dazu einige Podcast-Episoden, die diese Thesen vertiefen:
- Episode 27: Wicked Problems
- Episode 37: Probleme und Lösungen
- Episode 39: Follow the Science?
- Episode 42: Gesellschaftliche Verwundbarkeit, ein Blick hinter die Kulissen:
- Episode 45: Mit »Reboot« oder Rebellion aus der Krise?
- Episode 64: Getting Nothing Done — Teil 1
- Episode 65: Getting Nothing Done — Teil 2
- Episode 68: Modelle und Realität, ein Gespräch mit Dr. Andreas Windisch
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