Donnerstag, 9. April 2020

Der Reboot-Mythos: Warum wir unsere Gesellschaft nicht »neu starten« können, und sich kein Phoenix aus der Asche erheben wird

Gerade in Zeiten der Krise liest und hört man immer wieder Geschichten, Phantasien, manchmal auch Schreckens- oder gar Wunschvorstellungen, unsere (globale) Gesellschaft könnte kollabieren und dann einen sogenannten Reboot durchleben. Wie ein Phoenix aus der Asche könnte eine neue, bessere Gesellschaft aus den Ruinen der alten aufstehen. Wir beginnen also von vorne, aber wissen es besser.

Es wird keinen Phoenix geben. Es wird eine Transformation unserer Gesellschaft oder Asche geben. Warum ist das so?

Derzeit kann man diesen Ideen kaum entkommen, so häufig tauchen sie an allen Ecken und Enden auf. Von extremen Umweltaktivisten im linken bis zu fundamentalen Christen im rechten politischen Lager. Und dennoch sind sie auf so vielen Ebenen falsch. Denken wir alleine daran, dass viele Menschen es unter keinen Umständen friedlich zulassen werden, dass ihr vermeintlich verdienter Lebensstandard reduziert wird und eher alles zerstören als kontrolliert »herunterfahren« würden. 

»The American way of life is non-negotiable.«, ist ja ein bekannter Spruch der Wahlwerbung der Republikaner in den USA.

Aber lassen wir soziologische und politische Aspekte – so wichtig sie sind – einmal beiseite und beschränken wir uns hier nur auf einen systemischen, aber extrem wichtigen Blickwinkel:

Es ist den meisten Menschen trotz Corona-Krise noch nicht klar geworden, dass wir nicht nur in einer extrem arbeitsteiligen Welt leben – das heißt kaum mehr jemand versteht wie ein bestimmtes Produkt entsteht wird (ein wunderbarer »historischer« Artikel dazu ist I Pencil) – und mittlerweile auch nicht mehr wer dies tut und wer weiß was zu tun ist. Produkte laufen in immer komplexeren Lieferketten um die halbe oder ganze Welt, bis sie fertig sind. 

Wir haben also ein erhebliches Know-How Problem und dieses steckt eben nicht nur, oder ich würde sagen nicht einmal hauptsächlich in den Köpfen der Menschen, sondern in den Systemen und Strukturen. Siehe dazu das wunderbare Buch von Andy Clark, Being There (Hervorhebungen von mir):
»In a sense, then, human reasoners are truly distributed cognitive engines: we call external resources to perform specific computational tasks [...] Brain and world collaborate in ways that are richer and more clearly driven by computational and informational needs than was previously suspected
[…] 
In these cases it would seem, we solve the problem (e.g. building a jumbo jet or running a country) only indirectly-by creating larger external structures, both physical and social, which can than prompt and coordinate a long sequence of individually tractable episodes of problem solving, preserving and transmitting partial solutions along the way.«
Mit einem Kollaps würden aber gerade diese Strukturen zerstört werden, und niemand, absolut niemand ist in der Lage aus dem Studium eines Lehrbuchs ein iPhone oder ein Hochhaus zu bauen oder zu warten.

Was aber fast noch wichtiger ist: wie leben in einem autopoietischen, selbst-strukturierenden System, wo sich die Komplexität, die zur Selbsterhaltung notwendig ist, stetig nach oben geschraubt hat. Was meine ich damit, an einem Beispiel:

Vor 100-200 Jahren lag der EROEI (energy returned on energy invested), also die Energie die man gewinnen konnte im Verhältnis zur eingesetzten Energie bei der Gewinnung bei Öl bei ca 1:100. Für eine Energieeinheit die man eingesetzt hat, hat man also rund 100 Einheiten gewonnen. Bei den schlechtesten Formen die heute ökonomisch betrieben werden, Ölsande etwa, liegt dies bei vielleicht 1:5.

Aber nicht nur die Effizienz ist dramatisch gesunken, gleichzeitig ist der technische Aufwand enorm gestiegen, und zwar Aufwand, der eine extrem komplexe Infrastruktur benötigt. Denken wir an den Bau und die Erhaltung von Ölbohrinseln und Bohr-Verfahren, wo nicht einfach ein vertikales Loch gebohrt wird und Öl heraussprudelt wie in Texas vor ~150 Jahren, sondern wo mit computergesteuerten Verfahren der Bohrer – etwas unernst ausgedrückt – dreimal ums Eck fährt bis er an die benötigte Stelle gelangt, wo sich die letzten Öl- oder Gasvorkommen befinden.

Wir haben also immer längere Leitern gebaut um an die immer höher hängenden Früchte zu gelangen. Verlieren wir diese Leiter ist das Spiel zu Ende. Denn es gibt keine niedrig hängenden Früchte mehr, die haben wir in der industriellen Revolution und danach geerntet und haben diese betrieben und auch das ökonomische Wachstum der 1950er bis 1970er Jahre befeuert. Die hoch hängenden Früchte aber werden wir nicht mehr erreichen. Denn um diese zu ernten haben wir zuvor die Energie der niedrig hängenden Früchte benötigt. Und zwar sowohl aus technischer wie aber auch aus ökonomischer Sicht. 

Ein fataler Teufelskreis!

Dies betrifft natürlich nicht nur die Produktion von Öl. Das war ein mehr oder weniger beliebiges Beispiel, sondern fast alle Aktivitäten, die Rohstoffe benötigen, komplexe Produkte bauen oder komplexe menschliche Aktivitäten (wie Städte oder digitale Infrastruktur) am Leben halten.

Dieser Herr präsentiert stolz eine Kühl-Einheit die benötigt wird, um den vom Klimawandel tauenden Permafrost in Alaska wieder mechanisch zu kühlen (sic!) um die Bohranlangen, die im Permafrost installiert wurden um nach Öl zu bohren, der die Klimakrise anheizt, weiter stabil zu halten. 

Was ist die Konsequenz daraus: es wird wohl keinen Reboot geben, sind wir einmal (z.B. durch gesellschaftlichen Kollaps in Folge der Klimakrise) nennenswert tief gefallen. Es bleibt die Frage, wo der Schwellenwert liegt. Fallen wir unter diesen, kann sich vielleicht eine kleine Population auf dem Niveau von Jägern und Sammlern erhalten. Jedenfalls dann, wenn dieser Kollaps nicht durch massive Kriegshandlungen z.B. mit Atomwaffen begleitet ist, was aber leider ein recht wahrscheinliches Szenario ist. Wer glaubt allen Ernstes, dass eine Atommacht »in Ruhe« stirbt und untergeht?

Bleiben wir über diese Schwelle der komplexen Handlungsfähigkeit – wie ich sie nennen würde – haben wir noch eine Chance, Dinge neu aufzubauen, aber das Risiko ist enorm unter diese zu sinken.

Was wir daraus lernen sollten ist aus meiner Sicht ziemlich einfach: Wir können unsere Gesellschaft ändern aber transformativ, evolutionär. Wir dürfen aber niemals einen zu großen Einbruch oder Kollaps riskieren, da wir zu jedem Zeitpunkt auf relativ hohem Komplexitätsgrad handlungsfähig müssen, bis wir einen neuen autopoietischen und dynamisch stabilisierten Zustand erreicht haben.

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Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)