Das Verändern von systemischen Eigenschaften, sei es IT-Systeme großer Unternehmen, Mobilität in einer Stadt, des Steuersystems oder der existentiell notwendige ökologische Umbau unseres Wirtschaftssystems stellt sich in der Praxis meist als wesentlich schwieriger heraus als von vielen ursprünglich angenommen. Dies liegt vor allem an zwei Gründen: Frozen Accidents und Status-Dominanz.
Frozen Accidents
Der Physiker und Nobelpreisträger Murray Gell-Mann hat den Begriff Frozen Accidents geprägt. Kommt es zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte zur Notwendigkeit die Ausprägung einer Technologie zu entscheiden, sind es oft nicht tief überlegte Gründe, die die Auswahl bestimmen, sondern Zufälle. Wird dann aber der eine Zweig eingeschlagen, so entfernt sich die Realität dieses Zweiges so weit von den anderen Optionen, dass eine spätere Änderung de facto kaum mehr, oder nur mit enormem Aufwand möglich wird.
Denken wir an Beispiele wie die Spurbreite von Eisenbahnen: der genaue Wert ist in bestimmten Grenzen reichlich irrelevant. Aber ist ein Wert gewählt, ist eine spätere Änderung (wenn es zehntausende Kilometer an Schienen und zahlreiche Wagons, Loks und andere Infrastruktur gibt) kaum mehr denkbar. Oder das Rechts- oder Linksfahren auf Strassen. Keine Option hat einen realen Vorteil, aber die – relativ beliebige Wahl – hat massive Konsequenzen für die Zukunft.
Frühe Entscheidungen wirken zu Beginn meist nicht sehr folgenreich, oder werden nicht gründlich überlegt, zeigen aber durch systemische Effekte später oft Konsequenzen, die dann nur mehr unter extremsten Aufwänden verändert werden können. Auch hierfür einige Beispiele: die Entscheidung Autos einen Vorteil in der Mobilität der Stadt zu geben, riesige Shopping Centres mit Parkplätzen zu bauen zerstört das städtische, lokale Leben, das sich unter den engen Bedingungen der alten Stadt zu arrangieren hat und schafft extrem hartnäckige Abhängigkeiten.
Und sind also »gute« Gründe diese Shopping Malls an Stadträndern zu bauen (und damit den Schaden für die Stadt zu multiplizieren): welche »alte« europäische Stadt hat sich im Kern in den letzten 100 Jahren substantiell verändert? Die Ringstrasse in Wien mit (den meisten) Gebäuden existiert in der heutigen Form seit rund 100 Jahren, ebenso wie die Boulevards in Paris. Wenn nicht Katastrophen wie Bombardierungen in Kriegen größere Stadtviertel zerstört haben, prägen frühe Entscheidungen in der Regel sehr tief die neueren. (Was im Sinne der Mobilität in Wien im Vergleich zu US-Städten ein Segen war, weil wir die Stadt nicht in derselben extremen Weise dem Auto unterordnen konnten).
Gewachsene Städte. London 2020 |
Die Entscheidung für ein bestimmtes Versicherungssystem über ein anderes, führt zu zementierten Positionen, haben Menschen erst einmal über Jahrzehnte eingezahlt – möchte man es zu einem späteren Zeitpunkt verändern. Äußerst schwierige philosophische Fragen der Gerechtigkeit drängen sich dann auf. Kämen wir zu der Erkenntnis, dass – um das obige Beispiel wieder aufzugreifen – Shopping Centres langfristig gedacht, die Lebensqualität einer Stadt substantiell zerstört, was folgt daraus? Ein Rückbau ist natürlich möglich, aber wie gehen wir mit den Menschen um, die sich erst kürzlich existenzbedrohende Kredite aufgenommen haben, um ein Geschäft in einem dieser Shopping-Centres aufzubauen? Was mit den Menschen, die Wohnungen und Grund verkauft haben um der ökonomischen Logik zu folgen?
Aktuell gibt es ein vergleichbares Beispiel aus dem US-Wahlkampf: es ist in weiten Bereichen der US-Gesellschaft unumstritten, dass die Studiengebühren in den letzten Jahrzehnten außer Kontrolle geraten sind. Studenten nehmen sich Kredite auf, zu denen die Löhne in keinem Verhältnis mehr stehen und bleiben über Jahrzehnte tief verschuldet. Eine politische Forderung lautet: Löschen aller laufenden Kredite und Entschuldung. Was passiert aber mit den Amerikanern, die ihren Kredit vor drei Jahren unter großen Entbehrungen zurückgezahlt haben? Wie reagieren die auf einen solchen Vorschlag?
Ähnliche Problemstellungen finden wir überall in länger gewachsenen Systemen, und sind ein Grund, warum Gesetze, Steuersysteme, Gesundheitssysteme usw. immer komplexer werden und wir gesellschaftlich in eine nahezu völlige Erstarrung der Gestaltbarkeit gelangen.
Statusdominanz
Es gibt einen zweiten, psychologischen Grund, der Veränderung hemmt. Es ist absolut faszinierend, welche Ausstrahlung das Existierende, der Status Quo hat. Wenn etwas einmal da ist, zur Normalität geworden ist – aus welchen guten oder schlechten Gründen auch immer –, wird das Hinterfragen, das Verändern zu einer fast unüberwindlichen Hürde
Wir halten uns für flexibel im Geist, sind es aber überhaupt nicht. Die kleinste Änderung erfordert eine Menge Energie, die kleinste Änderung, die gegen das läuft was überall und rund um uns herum als normal verstanden wird. Es scheint, wir versuchen Energie auf jeder Weise zu sparen, im besonderen psychisch, denn die Welt ist eine Zumutung eine Gefahr für uns.
Alles was ist, ist.
Was ist, daran haben wir uns gewöhnt, das wurde zur Tapete, zum Hintergrund. Was sich verändert macht uns Angst. Mit der (schrecklichen) Tapete haben wir zu leben gelernt. Wer weiß, wird die neue besser? So oft wurde uns das Bessere versprochen und dann noch mehr von uns abverlangt.
Vor fast 30 Jahren hat mir ein älterer Professor in einem Seminar die Frage gestellt: wer würde heute eine Technologie zulassen, die zwar einige Bequemlichkeiten verspricht aber alleine in Österreich 500-1.000, in Deutschland um die 3.000 und weltweit um die 1,5 Mio Menschen jährlich das Leben kostet, und eine vielfache Zahl davon (schwer) verletzt oder deren Gesundheit schädigt, sowie Lebensraum und Umwelt massiv zerstört?
Natürlich würde heute niemand der Zulassung des PKWs unter solchen Rahmenbedingungen mehr zustimmen, aber die Technologie ist hier. Und mit dem Hiersein verändert sich die Wahrnehmung.
Fragen Sie junge Menschen, die noch nie erlebt haben, dass in einem Lokal geraucht wird, ob man das Rauchen in Lokalen erlauben sollte: ich denke, die Absurdität der Frage würde nur Kopfschütteln und Unverständnis auslösen. In den 1970er und 1980er Jahren war es völlig normal mit Kindern in völlig verrauchten Lokalen zu Mittag zu essen, und danach mit den Kindern ohne Gurt am Rücksitz nachhause zu fahren um sowohl im Auto wie zuhause in deren Gegenwart zu rauchen. Diese Körperverletzung von Kindern findet selbst heute noch – wenn auch in geringerem Ausmaß – statt.
Alkohol führt zu erheblich negativen Folgen, löst aggressives Verhalten und Unfälle aus, schädigt die Gesundheit. All das ist unumstritten. Wir haben nicht nur gelernt damit zu leben, Politiker eröffnen Saufgelage wie ein Oktoberfest um ihre Popularität zu erhöhen – aber lehnen Cannabis und Magic Mushrooms ab, weil…?
Auch die Verteilung von Wohlstand und Besitz fällt in diesen Bereich: Wir haben es als normal anerkannt, dass es Menschen gibt, die von Geburt an, durch Erbe reich sind, während der Großteil der Menschen täglich hart arbeiten muss um sich den Lebensunterhalt zu schaffen.
Wir sehen es als normal an, dass begrenzter Lebensraum, Grundstücke – etwa in einer Stadt – im Besitz Einzelner oder von Unternehmen ist. Grund – die Definition einer begrenzten Ressource – überlassen wir (angeblich) freien Marktkräften, tatsächlich aber internationaler Spekulation. Wie kommen wir eigentlich auf diese Idee? Wer würde allen erstes die heutigen Verhältnisse befürworten, wenn die Situation eine andere wäre: wenn der Grund einer Stadt den Bürgern der Stadt gehört. Eigentlich die logische Variante. Wenn der Grund einer Stadt von den Bürgern der Stadt als leistbarer Wohnraum genutzt oder für kommerzielle Zwecke vermietet würde?
Was wir kennen, was der Alltag unseres Lebensraumes – vielleicht seit Kindheit ist –, was normal ist, damit leben wir, jede Veränderung, selbst wenn es geradezu zwingende Gründe gibt, fällt extrem schwer.
Aber auch unsere Risikowahrnehmung hat sich deutlich verschoben: wir akzeptieren Risiken des Alten (Autos, Alkohol, …) die wir bei neuer Technologie oder Lebensweise niemals akzeptieren würden. Zu unserem doppelten Schaden: häufig unterschätzen wir das Risiko der alten Technologie und überschätzen das das neuen.
Was bedeutet dies für die dringend notwendigen Veränderungen unserer Lebensweise?
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