Der derzeit global wütende Covid-19 Virus ist vergleichsweise harmlos. Er weist vermutlich eine Mortalität in der Größenordnung von 1% auf. Epidemiologen warnen allerdings seit Jahren vor Pandemien mit Viren oder Bakterien, die eine Mortalität weit im zweistelligen Prozentbereich zeigen. Auch andere Ereignisse mit verheerendem Schadenspotential wie Sonnen-Superstürme (Carrington Event), um nur ein Beispiel zu nennen, gab es in der Vergangenheit. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es derartiges in der Zukunft nicht mehr geben sollte. In unserer technisierten und interdependenten Welt würden solche Ereignisse tatsächlich ungleich größere Schäden anrichten als in der Vergangenheit.
Sun Spots drawn by Richard Carrington |
Bereits jetzt sehen wir aber Zustände, den ein Virus wie Covid-19 in Gemeinden und Städten anrichtet, die wenige für möglich oder wahrscheinlich gehalten haben.
Denken wir einmal über natürlich auftretenden Viren und Bedrohungen hinaus und hin zu terroristischen also bewusst herbeigeführten Katastrophen. Wir sehen, dass gerade in unserer technisierten und globalisierten Welt die Kosten eine Katastrophe (jedenfalls lokal) anzurichten, mit jedem Jahr sinkt. Es gibt dabei wenigstens zwei Angriffsflächen, die man unterscheiden sollte:
(1) low-tech Angriffe, die für sich genommen überschaubaren Schaden anrichten, aber oftmals erhebliche psychologische und politische Wirkung entfalten können.
(2) medium-/hight-tech Angriffe, die ganze Städte oder Stadteile langfristig mit kaum vorstellbaren Folgen schädigen oder zerstören.
Beispiele aus der ersten Kategorie haben wir in den letzten Jahren immer wieder erlebt, Messer-Angriffe in Zügen, Anschläge mit Autos oder LKWs oder mit Schusswaffen. Der jeweilige Schaden war schrecklich für die Beteiligten aber stets stark lokalisiert. Die eigentliche Wirkung aber lag in den psychologischen Folgen für die gesamte Gesellschaft. Man fühlt sich verwundbar (zurecht) ergreift aber nicht die richtigen Maßnahmen, sondern flüchtet sich in kurzsichtigen politischen Populismus – der Terrorist hat sein Ziel erreicht.
Die zweite Kategorie ist leider noch wesentlich verstörender. Was mit der Atombombe seit den 1940er Jahren auf Seiten der Großmächte möglich wurde, gelangt immer mehr in die Hände von kleineren Staaten beziehungsweise in Form von schmutzigen Bomben potentiell in den Hand von radikalen Organisationen.
Damit scheint der Anreiz und die Möglichkeit mit relativ wenig Aufwand und Geld erheblichen und langfristigen Schaden anzurichten größer zu werden. Dies betrifft nicht nur die Effekte einer schmutzige Bombe in einer Großstadt, sondern auch zahlreiche andere Szenarien wie einen Stromausfall mit Folge-Effekten durch eine geeigneten Hacker-Angriff oder die Übernahme oder Störung anderer kritischer Infrastruktur, die in unserer Gesellschaft immer fragiler wird.
Diese Überlegungen stehen in deutlichem Kontrast zu dem in den letzten Jahren leider in intellektuellen Kreisen kursierenden Narrativ, die Welt würde stetig besser und sicherer werden – wir wollen es nur nicht wahrhaben. Steven Pinker, Hans Rosling oder Bill Gates sind (oder waren) energische Vertreter dieser Ideen. Ich halte sie aus diesem (aber auch zahlreichen anderen) Gründen für gefährlich einseitig und damit irreführend. Günther Anders hat dies sehr treffend so ausgedrückt:
»Keine Lüge, die etwas auf sich hält, enthält Unwahres. Was letztlich präpariert wird, ist vielmehr das Weltbild als Ganzes […] Dieses Ganze ist dann weniger wahr, als die Summe der Wahrheiten seiner Teile […] Die Aufgabe derer, die uns das Weltbild liefern, besteht also darin, aus vielen Wahrheiten ein Ganzes für uns zusammenzulügen.«
In einem Gespräch mit Steven Pinker fragt Tyler Cowen ihn, ob er auch weiter optimistisch für unsere Zukunft ist, wenn die Kosten eines katastrophalen Anschlags auf 10.000$ sinken würden (wovon seiner Ansicht nach wohl auszugehen wäre).
Cowen: »Wie lange würde es dauern, bis irgendjemand einen katastrophalen Anschlag auf eine Stadt verübt?« [irgendwo auf der Welt]
Pinker: »Vermutlich nicht zu lange, ich kann das nicht vorhersagen.«
Cowen: »Lassen Sie mich dann zurückkommen auf Ihren Optimismus über Frieden. Glauben Sie dann, dass es niemals billig genug sein wird, solche Schäden anzurichten?«
Pinker gibt zu, dass er dies nicht beantworten kann, und flüchtet sich wieder auf eine Beobachtung der Vergangenheit und der aktuellen Situation.
Und genau dies halte ich für in höchstem Maße verantwortungslos. In komplexen Gesellschaften und allgemein – Systemen gibt es keine linearen oder stetigen Extrapolationen. Es gibt Stabilität, gefolgt von Brüchen. Und wir bereiten durch unser technologisches, ökonomisches und gesellschaftliches Handeln derzeit enorme Brüche vor.
Aus meiner Sicht gibt es mehrere Lehren oder Denkmöglichkeiten, die man aus der aktuellen Situation sicher schon ziehen kann:
(1) Es ist diese Pandemie vielleicht ein erster Schock, der uns aber zeigt, dass wir unsere Gesellschaft auch auf anderen Wegen am Laufen halten können, etwa ohne jeden Tag quer um die Welt zu fliegen und ohne ständige persönliche Anwesenheit. Vielleicht zeigt sie auch, dass Menschen mit mehr individueller Verantwortung umgehen können, und andere Führung in Unternehmen endlich Platz greift? Vielleicht aber auch nicht? Vielleicht zeigen uns die Menschen, die es trotz eindringlichster Warnungen nicht schaffen solidarisch zu handeln, dass wir viel mehr zu bewältigen haben? Dass wir Erwachsene wie Kinder behandeln müssen?
(2) Wir sollten die aktuelle Entwicklung sehr genau verfolgen und die Lehren daraus ziehen und nicht nach Ende fröhlich zum Alltag zurückkehren. Um auf den vorigen Punkt zurückzukommen: von der Krise direkt zu Bobo-Brunch am Naschmarkt, etwa – der Seitenhieb sei mir erlaubt. Es werden weitere Pandemien auf uns zukommen und möglicherweise viel schlimmere, aber nicht nur das: eine Reihe anderer Krisen stehen unmittelbar vor der Tür, etwa die Folgen der Klima- oder Biodiversitätskrise. Das 21. Jahrhundert wird wahrscheinlich – im Gegensatz zur Prognose von Pinker und Co – das Jahrhundert der Krisen, Kriege und Katastrophen werden. Was wir jetzt erleben ist möglicherweise nur einen Testlauf.
(3) Die Folgen der sozialen und politischen Verwerfungen zeigen sich jedes Jahr deutlicher denn: nein, es stimmt schlicht nicht, dass es den Menschen auf der Welt stetig besser geht und dass wir in den letzten Jahrzehnten Armut in großem Maße bekämpft haben. Das Gegenteil ist der Fall. Wir treiben mehr und mehr Menschen in Armut und Hunger (siehe unten). Wenn die These also stimmt, dass der Aufwand, katastrophalen Schaden an Gesellschaften anzurichten immer geringer wird, müssen wir uns darauf sehr aktiv vorbereiten.
(4) Unsere Gesellschaft muss daher wesentlich resilienter werden als sie es heute ist. Der Fokus auf kurzfristige Gewinne und Effizienssteigerungen ist nicht weiter verantwortbar.
(5) Nicht zuletzt könnte diese Zeit Reflexion dessen ermöglichen, was wir als »normal« wahrnehmen. In einer Zeit wie dieser sehen wir, dass es auch anders als »normal« geht, und das hilft möglicherweise dem Nachdenken in Alternativen, die wir dringen brauchen. Denn ein Übergang zu »business as usual« nach der Krise ist angesichts der oben genannten weiteren Bedrohungen mit Sicherheit nicht angesagt.
Referenzen
- Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, C. H. Beck
- Jason Hickel
- Erik Weinstein und Tyler Cowan, The Portal #16
- Podcast mit Steven Pinker
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