Sonntag, 15. Dezember 2019

Don't pee here (you dumbass) – ein Führerschein für die Zivilisation?

Don’t pee here (you dumbass)
Ein Hinterhof in London. Stimmungsvoll. Kleine Lokale. In der Mitte stehen etwa fünf Pflanzenarrangements in großen Töpfen. Auf jedem Topf ist ein großes Schild mit der Bitte keinen Müll in die Pflanzen zu werfen angebracht.

Ein Pissoir ist mit kreuzförmigem Klebeband zugeklebt. Offensichtlich defekt. Dennoch wird zusätzlich ein Schild angebracht dieses Pissoir bitte nicht zu verwenden sondern auf eines der anderen auszuweichen.

Die USA wählen einen Präsidenten, der jedes Benehmen vermissen lässt, das man im weitesten Sinne als zivilisiert bezeichnen könnte. Er beleidigt, schreit, lügt nach Belieben und sein Umgang mit Frauen, Minderheiten, eigentlich mit jedem anderen Menschen, ist völlig inakzeptabel. Er überschreitet jede Linie, die wir in unserer Gesellschaft als kleinsten gemeinsamen Nenner für respektvollen Umgang miteinander definieren würden. Dazu kommt, dass seine politischen Aktionen mit wenig Bezug zur Realität belastet sind.

Auch in zahlreichen anderen Staaten verliert eine Partei nach der anderen das Interesse daran, Politik auf konstruktive Weise zu betreiben, Konflikte auszutragen, andere Positionen (wenn auch kritisch) zu betrachten aber dennoch ernst zu nehmen und vor allem Menschen mit anderen Meinungen zu respektieren und mit Fairness zu behandeln. Tatsachen und Fakten sind nicht einmal mehr Luxus für Intellektuelle und werden nicht nur beliebig ignoriert oder ins Gegenteil verkehrt, sondern noch viel schlimmer: Menschen, die versuchen zu argumentieren, sich auf Fakten berufen, werden lächerlich gemacht. Alles ist in Ordnung solange es der eigenen Sache dient. Das Extrem sehen wir in den Philippinen:

»Wenn ich Präsident werde, wird es blutig«, kündigt Duterte im Wahlkampf an (Philippinen). Wird (dennoch) gewählt und macht diese Drohung wahr. 

Wir hören häufig die Interpretation, dass wir eine Radikalisierung der Sprache und der Politik erleben. Stimmt das? Ich glaube nicht. Sprechen wir das Offensichtliche doch einmal (leichter Zynismus sei erlaubt) klar und deutlich aus: Die Radikalisierung die wir beobachten ist nicht Ursache sondern Symptom. Wir haben ein Problem mit radikaler Dummheit, oder besser: mit Dummheit, die sich nicht mehr geniert sich radikal auszuleben. Länder wie China haben dies im übrigen verstanden, und erleben ihren Aufschwung gerade dadurch, dass sie Eliten fördern und menschliche Schwächen und Dummheit versuchen in »richtige« Bahnen zu lenken. Dabei sind Menschenrechte allerdings nur mehr eine Nebensache.


Eine neue Dimension

Wir stehen vor globalen Problemen, die die Welt noch nie gesehen hat – und zwar weder in ihrer Art noch in ihrer Dimension. Das Bauchgefühl vieler Menschen ist daher korrekt: Es wird nicht so weitergehen wie bisher. Zwar sehen wir (noch) eine Fassade westlicher Werte, Prinzipien, die kaum mehr durch Tatsachen unterfüttert sind. So viel scheint sicher. Wir erleben (gerade in den Industrienationen) die erste Generation nach dem Krieg, wo es Kindern schlechter geht als ihren Eltern. Diejenigen, die den Ruhestand noch vor sich haben, werden wesentlich schlechter gestellt sein als die derzeitige Generation an Pensionisten. Dies trifft sogar auf Deutschland und Österreich zu, die zu den wohlhabendsten Ländern der Welt gehören.

Auch ist es uns »gelungen« unsere Lebensgrundlagen (Meere, Klima, Wasserkreisläufe, Biodiversität etc.) so  zu beschädigen, dass Katastrophen bisher ungeahnten Ausmaßes und mit globaler Wirkung auf uns zurollen. Das einzige, was an unserem Lebensstil derzeit als nachhaltig gelten kann, ist die nachhaltige Zerstörung unserer Lebensgrundlage(n). Dazu hilft auch in besonderem Maße unser Wirtschafts- und Finanzsystem, das die rücksichtslose Ausbeutung begrenzter Systeme optimiert. Der Gewinn wird auf sehr wenige Menschen verteilt, die Verluste und Katastrophen sozialisiert. Die Charakteristik unseres Finanzsystems ist das eines Ponzi-Schemas, eines Pyramidenspiels, mit dem Potential der jüngeren Generation die Zukunft zu nehmen.  

Die daraus resultierenden Spannungen sind in der heutigen Welt globaler Natur: Umweltzerstörung, Terrorismus, Flüchtlingsströme, internationale organisierte Finanz-Kriminalität, Neo-Kolonialismus.

Dem Bauchgefühl vieler ist zuzustimmen: Es wird kein Stein auf dem anderen bleiben.

Kluges Handeln?

Wann, wenn nicht jetzt, wäre kluges Handeln gefragt? Man könnte hoffen, dass es sich dabei um eine rhetorische Frage handelt. 

Und dennoch sehen wir gerade den Untergang eines mehr oder weniger zivilisierten gesellschaftlichen Diskurses. Die Symptome werden durchaus hier und da erkannt und analysiert:  man versucht zu ergründen warum und was man an der AfD oder der FPÖ oder der Front Nationale ernst nehmen müsse. Denn: in einer Demokratie muss es ja einen Grund geben – und dieser sei ernst zu nehmen – warum diese Parteien oder Individuen gewählt werden.

Und wenn man schon diese Parteien oder Bewegungen nicht ernst nehmen dürfe, dann doch wenigstens deren Wähler oder Sympathisanten. Wir sind immerhin – wir wollen das nicht vergessen – in einer Demokratie. Nein. Das müssen wir nicht. Wir müssen die Absonderungen dieser Personen nicht ernst nehmen. Jeder dieser Erklärungsversuche drückt sich um die viel bitterere Wahrheit herum:

Große Teile der Bevölkerung scheinen nicht (mehr) in der Lage oder – was noch schlimmer ist – willens, selbst moderat komplexe Probleme geistig zu durchdringen. Noch weniger sind sie in der Lage angemessene Schlüsse zu ziehen und gänzlich unmöglich erscheint ein zivilisierter Diskurs mit anderen Meinungen. Man suhlt sich in der eigenen Ignoranz und in vielen Fällen in der eigenen Dummheit, die man dadurch rechtfertigt, dass man sich mit vielen anderen Menschen vernetzt (dank sozialen Netzwerken), die ebenso ignorante oder dumme Ideen vertreten. Dazu kommt das steigende Maß an Selbstgefälligkeit: man versichert sich ständig in Echo-Kammern, dass man ohnedies zu den Guten gehört, zu denen, die wissen, wie es lang geht. Damit wird allerdings nicht mehr der Gipfel das (mühsame) Ziel, sondern der Tiefpunkt die bequeme Normalität. 

Dieses Phänomen erleben wir überall in unserer Gesellschaft. Selbst im täglichen Umgang mit anderen sind Umgangsformen, die eigentlich selbstverständlich sein sollten, abhanden kommen. Und hier geht es nicht um altmodische, angestaubte Benimm-Regeln. Vielmehr ist es schlicht nicht möglich die Komplexität der heutigen Probleme ohne eine zivilisierte und intelligente Auseinandersetzung verschiedenster Interessenlagen und Ansichten in den Griff zu bekommen. Habe ich mich von jeder Zivilisation entfernt, mich aber versichert, dass »alle anderen« auch so primitiv sind wie ich, dann scheint es in Ordnung zu sein Bierdosen in Blumenarrangements zu werfen und in verklebte Pissoirs zu pinkeln. 

Passenderweise ist das für den Verkauf nutzloser Produkte eine hervorragende Ausgangsbasis. Daher wird dieser Trend auch von Industrie, Werbung und großen Teilen der Medien gerne unterstützt. Soziale Netzwerke haben sich in die finanzielle Abhängigkeit von dieser Form der Dummheit gebracht. 

50% Unterbelichtete?

Etwas zynisch könnte man feststellen, dass der Ausgang zahlreicher Wahlen der letzten Monate und Jahre nahe legt, dass dieses Phänomen mittlerweile mehr als 50% der Bevölkerung getroffen hat. 

Aber sind wir tatsächlich von Vollidioten umgeben, die sich auch noch wie die Karnickel vermehren?

Schalten wir den Zynismus wieder einen Gang zurück. Auch wenn es manchmal so scheinen mag, dies wäre eine recht unterkomplexe Form der Darstellung der heutigen Situation. Erweitern wir den Blick: es ist durchaus überraschend, zu welchen Leistungen Menschen, die in bestimmten Bereichen – sprechen wir es klar aus – dumm handeln,  in anderen Kontexten zu komplexen Tätigkeiten fähig sind. Nicht alle, aber viele Menschen jedenfalls. Der Einzelne ist also nicht so blöd wie es scheinen mag. In einer entsprechenden Umgebung lassen wir uns aber fallen und orientieren uns an der Untergrenze und nicht an dem was nach oben hin möglich wäre.

Für den leider zu früh verstorbene Roger Willemsen bestand Kultur zu 99% aus Dingen, die uns überfordern.  Er sagt in einem Gespräch im Schweizer Fernsehen:
RW: »Ich habe noch keinen Moderator getroffen, der nicht intelligenter war, als das Programm das er macht. […]«
F: »Warum macht er es aber dann?«
RW: »Weil er keinerlei intellektuellen Ergeiz hat. Weil er keinerlei aufklärerischen Anspruch hat.«
RW: »Der Satz: das können wir dem Zuschauer nicht zumuten, ist der arroganteste Satz, der im Fernsehen gesprochen wird.«

Faust scheiterte heute an der Quote, die in Verlagen längst eingeführt wurden: es herrscht in Verlagen das Verständnis, dass Bücher, die keine 10.000 Stück verkaufen, keine Druckberechtigung haben. »Die wichtigsten Dinge haben die kleinste Öffentlichkeit und die unwichtigsten die größte Öffentlichkeit bekommen«

Und der Schluss ist: die Medienmaschinerie und, wie ich meine auch unsere Bildungseinrichtungen sind bessen uns zu unterfordern: »Wir müssen den Zuseher abholen; da kann man vom Leser nicht erwarten; usw.« Die Ergebnisse sehen wir heute, wohin wir blicken.

Ilia Trojanov sagt es in einem Interview sehr treffend: er bekämpft die Ideologie, nicht den Menschen. Ich würde das ein wenig adaptieren: bekämpfen wir die (geistige) Umgebung, nicht die Menschen, die ihr ausgesetzt sind. Das führt allerdings, so vermute ich, zu einer anderen Form des Diskurses. Man muss folglich dumme und verblendete Sorgen nicht ernst nehmen und schon gar nicht menschenverachtende Vorschläge oder solche, die den jahrhundertelangen Kampf um Freiheit, Gleichheit und ein rationales Menschenbild verachten. Wir müssen vielmehr diskutieren, woher diese verzerrten Wahrnehmungen kommen. Wie es dazu kommen kann, dass wir mittlerweile an einem Punkt angelangt sind wo womöglich mehr als 50% der Menschen nicht mehr die Kapazität, den Willen und die Fähigkeit besitzen in einer freien, zivilisierten und aufgeklärten Gesellschaft zu leben. 

Diese sehr bittere Wahrheit müssen wir öffentlich diskutieren. Jeden Tag.

Zum Glück haben wir unsere Eliten?

Aber auch das wäre leider nur die halbe Wahrheit.

Wie sieht es mit den Eliten aus? den 10-20% gut gebildeten, gut informierten, »erfolgreichen« (nach den oftmals fragwürdigen Kriterien unserer Gesellschaft wie Einkommen und Status erfolgreichen)? 

Auch mit unseren Eliten ist leider auf breiter Ebene kein Staat zu machen. Wer verantwortet das Finanzsystem, das einem Pyramidenspiel vor dem Einsturz gleicht? Wer erklärt uns, dass ein Brexit im Grunde nur aus ökonomischen Gründen ein Problem darstellt? Wer ist verantwortlich für die Politik der letzten 30 Jahre, die zu einer dramatischen ökonomischen wie auch sozialen und ökologischen Polarisierung geführt hat? Wer hat es möglich gemacht, dass die Effizienzgewinne durch Automatisierung und Digitalisierung im wesentlichen eine ganz kleinen Gruppe von Super-Reichen zu Gute gekommen sind? 

Wer ist vor allen Dingen verantwortlich für die völlig verfehlte Ressourcen- und Umweltpolitik, die uns in eine Krise geführt hat, die sich zu einer wohl nicht mehr aufzuhaltenden Katastrophe entfalten wird. Wer hat den nahen und mittleren Osten ins Chaos gestürzt und gießt täglich weiter Öl ins Feuer (pun intended)

Und übrigens: all diese Dinge sind natürlich alternativlos. Das erklären uns eben die Eliten.

Aber zum Glück ist nicht jeder ein Neoliberaler. Wir hätten auch noch die Bobos zu bieten; die gutmeinenden Halb-Intellektuellen, die nur Bio-Produkte und Freilandeier kaufen wo kein »Gen« zu finden ist, Greenpeace jedes Monat 5 Euro spenden und dafür grenzenlos zu leben – jedenfalls solange der eigene SUV (hybrid oder elektro!) nicht bedroht ist und kein allzu großer Wirbel beim Sonntagsbrunch am Ethno- (mit Maß und Ziel!) Markt stört. Die Aufregung ist groß, wenn Kücken geschreddert werden, besonders, wenn einem solche Nachrichten am iPad den Urlaub auf den Malediven vermiesen. Man ist für die Energiewende und gegen Atomkraft und »Gen«, aber fliegt dreimal pro Jahr auf Urlaub. Selbst wenn sich das faktisch alles nicht ausgeht, aber Fakten sind nur wesentlich, wenn sie den eigenen Standpunkt unterstützen. Da genießt man dann – mit den Füßen im Sand – den Krabbencocktail und Mojito nur mehr halb. Die Welt wäre schon so gut wie gerettet – würden nur alle so links-liberal und nicht so ignorant denken. 

Es ist nicht nur Ignoranz. Im Grunde es ist perfider: für erhebliche Teile der Eliten ist es wünschenswert wenn es einen großen Teil an Doofen gibt. Neoliberale Politik war im Kern einfach: sie baute auf und befürwortete die Dummheit großer Teile der Bevölkerung, die damit leicht manipulierbar bleiben sollten, erklärte nebenbei der Mittelschicht, dass sie bald zur Unterschicht gehörte wenn sie nicht spuren und hatte dabei genau ein Ziel: die 3% der Reichsten noch viel reicher zu machen. Leider hat das alles nicht so richtig gut geklappt, und diejenigen, die man glaubte mit Medienmonopolen und Konsum im Griff halten zu können, schlagen zurück. Die Ergebnisse sehen wir heute und alle staunen (weil sie immer noch nichts begriffen haben.)

Und auch für die Bobos gilt: wer diente denn als Abgrenzung nach unten, würden wir die Unterschichten nicht pflegen und zur Seite, könnte man nicht gegen die Neoliberalen wettern, aber die Privilegien der oberen Mittelschicht trotzdem genießen.

Ist es ein Wunder, dass eben diese vermeintlich Unterbelichteten sagen, diesen Eliten glauben wir kein Wort mehr? 

Eigentlich nicht. Schlimm ist natürlich, dass dieser Ablehnung der derzeitigen Eliten kein brauchbarer Gegenentwurf gegenübersteht, sondern im wesentlichen dumpfer, primitiver Aktionismus, wie wir ihn in Großbritannien (Brexit) oder den USA (Trump) oder Österreich (FPÖ), in Deutschland (AfD) oder, oder, oder… sehen. Aus berechtigter Kritik an vielen Vertretern der Macht-Elite wurde ein Kampf gegen das Denken, das Intellektuelle, Fakten, Wissen. Beschädigte Umwelt, Kultur, Freiheit und Menschenrechte sind da bestenfalls Kollateralschäden. 

Privilegien? Privilegien!

Die ganze Misere wird gestützt von einem weiteren Trend der letzten Jahrzehnte, den ich Servicekultur nennen möchte – wobei das Service bis zur Bevormundung reichen kann. Die Menschen haben gelernt, dass ihnen durch Digitalisierung und leistungsfähigere Prozesse, aber auch durch zunehmende Bevormundung durch gesellschaftliche Kräfte mehr und mehr das Denken abgenommen wird. Wer kümmert sich noch um den Weg wenn es ein Navi im Auto gibt. In Ämtern und auf Flughäfen wird man wie ein Kind durch Prozesse geschoben. Bei jedem Zwicken gehts zum Arzt und wir erfinden Gesellschaftskrankheiten wie Burn Out um offiziell die Verantwortung für unser Leben abgeben zu dürfen. Kinder werden in Rüstungen gepackt wenn sie auf ein Fahrrad steigen wollen und dürfen alleine keinen Schritt mehr vor die Tür setzen. 

Und an Universitäten darf nicht mehr gestritten werden, weil die Gefühle von irgendjemandem verletzt werden könnten. Facebook erklärt der ganzen Welt, welche Informationen wichtig sind, die Assistenten von Google und Amazon was wir kaufen und wohin wir gehen sollen. Die US-Prüderie definiert, welche Form der Kunst und Unterhaltung für die ganze Welt angemessen ist und die Unterhaltungskonzerne halten sich in vorauseilendem Disney-Gehorsam daran. 

Politik wird so zur reinen Show, zum Big Brother Event. Und wir wundern uns wirklich, wer heute so Präsident oder Kanzler wird?

Die liberale Politikerin Heide Schmidt hat vor vielen Jahren zu Recht gesagt: wenn man Menschen wie kleine Kinder behandelt, darf man sich nicht wundern, wenn sie sich wie solche verhalten. (Dies war übrigens Jahrzehnte vor Facebook). Oder wie Colin Crouch es in Postdemokratie ausdrückt: »Der Konsument hat über den Staatsbürger gesiegt«.

Was sich aber kaum jemand laut und deutlich sagen traut. Demokratie ist kein Ferienclub All inclusive wo man einfach seinen Hintern auf den nächsten Sessel setzt und bedient wird. Weder für »die Unterbelichteten«, die Heute und Österreich lesen und ihre Meinung (die keiner außer den Werbetreibenden hören will) auf Facebook kundtun. Genauso wenig für die Bobos, die sich die Rosinen herauspicken und glauben, dies sei ok, wenn es nur mit einer ethischen Grundhaltung geschieht. Und ein völliges No-Go ist es für die vermeintlichen Eliten, vorwiegend aus der Wirtschaft, die den Saustall, den wir – durch ihrer unmitigierte Inkompetenz angerichtet – jetzt ausbaden müssen.

Politiker sind kein Servicepersonal das nach Belieben für den Kunden tanzt und eine neue Showeinlage studiert. Die heutigen Probleme sind Schwerstarbeit, die ein Höchstmaß an Konzentration und Kompetenz erfordern. Politik ist daher Schwerarbeit und funktioniert nur in einem gesellschaftlichen Diskurs der ebenso von jedem erst genommen wird. Wir werden nicht bedient und serviciert. Jeder hat einen Beitrag zu leisten, trägt Verantwortung und hat sich an der Obergrenze, nicht an der Untergrenze seiner Fähigkeiten zu orientieren. Da muss klar und deutlich ausgesprochen werden. 

Mittwoch, 9. Oktober 2019

Wir lassen uns die Welt doch nicht von Greta – äh – Ignaz erklären!!

Ignaz Semmelweis als 12 jähriger
Ignaz Semmelweis war ein junger Arzt in Wien, Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihm war aufgefallen, dass in seiner Abteilung wesentlich mehr Mütter und Kinder bei der Geburt versterben als in einer anderen Abteilung, die nicht von Ärzten, sondern von Hebammen geleitet wird. Als dann ein Kollege von einem Studenten beim Sezieren verletzt wird und daraufhin stirbt, fällt Semmelweis auf, dass die Symptome denen, der verstorbenen Mütter sehr ähnlich sind.

Daraufhin veranlasst er, dass sich Ärzte vor den Entbindungen die Hände waschen. Keine sehr aufwändige Intervention. Und siehe da, die Todesfälle gehen zurück!


Ende gut, alles gut? 


Man sollte annehmen, dass eine empirische Erkenntnis, die einfach umzusetzen ist und wahrscheinlich zahlreiche Leben in der Zukunft retten wird, ohne weitere Umstände angenommen wird. Was aber passiert tatsächlich?

Es kommt für die alten und etablierten Ärzte natürlich nicht in Frage, sich von einem »Jungspund« (männliche Form von »Göre«) erklären zu lassen, wie sie ihre Arbeit verrichten sollten. Eine Arbeit, die sie seit eh und je auf bestimmte Weise erledigen. Schon gar nicht lässt man sich sagen, dass man mit seinem Verhalten in der Vergangenheit tausende Frauen getötet hat und noch viel mehr in der Zukunft gefährdet.

Was ist also die logische Konsequenz? Der Störenfried muss verschwinden. Denn seine Erkenntnisse sind »spekulativer Unsinn«. 
»Anstatt seine Theorie auch nur ansatzweise in Erwägung zu ziehen, suchten die Großen der Zunft die Schuld lieber woanders«, Theodor Kissel
So lehnt man seine Habilitation und Dozentur ab und nach längeren Kämpfen verlässt Semmelweis Wien nach Pest, wo ihm sein Leben langsam zu entgleiten beginnt.

Erst Jahrzehnte später werden seine Erkenntnisse tatsächlich in die Praxis umgesetzt. Wie viele Klimakatastrophen hätte man verhindern Frauen hätte man retten können?

Mittwoch, 19. Juni 2019

Normale Menschen

Wie macht man »normalen« Menschen klar, dass der Lebensstil, an den sie sich gewöhnt haben, nicht aufrecht erhalten werde kann? Wie bei einem Kind, dem man seine Spielzeuge wegnimmt. Erwachsene verhalten sich da nur marginal anders. Es löst Trotzreaktionen aus. Aber ich will mein Auto behalten. Das stimmt alles nicht, was ihr sagt. Alle Kollegen in der Firma fahren auch  mit dem Auto, nur ich darf nicht!

Die Alternative ist ein globaler Kollaps. Nicht morgen, aber wohl in meiner Lebenszeit. Aber das ist eben nicht jetzt für jeden unmittelbar greifbar. Und solange uns der Händler den SUV noch so billig anbietet – warum nicht zugreifen? Warum wirklich nicht? 

Und außerdem: wir setzen mit unseren dümmlichen Medien die Referenz für das, was mittlerweile global als »guter Lebensstandard« empfunden wird – auch wenn es mit gutem Leben in einem ernsthaften Sinn nicht viel gemein hat.

Davon abgesehen, sind »normale« Menschen in ihrem Alltag verfangen. Sie machen, was ihnen beigebracht wurde. Schule. Eltern. Hinterfragen das kaum. Warum auch? Es funktioniert ja seit Jahrzehnten. Die Industrie gibt Milliarden aus,  damit das Fliegen als ganz normales Transportmittel gilt, damit der PKW und das neue Mobiltelefon jedes Jahr als Normalfall für Jedermann dargestellt wird. Ventilatoren, Lampen, Kameras, Uhren, Waschmaschinen, Bekleidung. Wegwerfprodukte. 

Wer nach Reparaturen fragt, macht sich zum Außenseiter.

Die Menschen sind eingebettet in Strukturen, die also systematisch von falschen Prämissen ausgehen. 

Aber wer hat die Energie dagegen anzukämpfen? 

Für viele Menschen gibt es in ihrem Leben wenig Freiraum für Reflexion. In der Arbeit unter Druck, zuhause die Familie und andere Dinge, die Konzentration rauben. Wenn eine Minute Zeit ist, wird sie mit (sinnlosen) Ablenkungen vertan – aber wer könnte das verurteilen? Wer kann einem Twitter- oder Facebook-Stream widerstehen, der von Experten optimiert wurde uns süchtig zu machen und keinesfalls besonders tief nachzudenken.

Also wie durchbrechen wir diese Situation? Geht das überhaupt? 

Oder ist es nicht das viel natürlichere zu genießen, bis es eben zu Ende ist?

Freitag, 22. Februar 2019

Wetten auf die Katastrophe – statt sie zu verhindern

Seit Jahren ist es recht offensichtlich, dass es mit dem Unverständnis des Klimawandels und anderer ökologischer Katastrophen – jedenfalls in den ökonomischen Eliten –  gar nicht so weit her ist. Das Verhalten lässt sich in vielen Fällen eher durch Opportunismus erklären. Wenn ich weiß, dass in der nicht zu fernen Zukunft weite Küstenstriche von Überflutungen zerstört werden, dass Waldbrände teure Grundstücke und landwirtschaftliche Flächen entwerten, dass Unruhen und Ausschreitungen in bestimmten Gegenden besonders wahrscheinlich sein werden, dass der Abbau von Kohle und Öl keine Zukunft haben darf? Was unternehme ich als (zynischer) Großinvestor? 

Grenzzaun zwischen den USA und Mexiko
Die Antwort ist offensichtlich: möglichst wenig Aufmerksamkeit auf diese Themen lenken, sprich Klimawandel und ökologische Katastrophen lautstark lächerlich machen. Denn man hat natürlich kein Interesse an einer Entwertung der Assets, die man noch besitzt. 

Nun ist in der heutigen Zeit gar nicht so einfach alternative Investition zu finden. Zeit wird benötigt um noch die letzten konventionellen Ressourcen gewinnbringend zu nutzen, einen »Dummen« zu finden, dem man die im Grunde wertlosen Investitionen noch gewinnbringend verkaufen kann, die man selbst durch die Nutzung der Ressourcen wie Öl, Kohle, Mobilität usw. zerstört hat. Daher tauchen in regelmäßigen Abständen Berichte auf, dass die großen Öl-Produzenten wie Shell schon lange über die Auswirkungen ihrer industriellen Tätigkeiten Klarheit haben.

Bildung und Aufklärung wäre im Interesse der Menschen, ist aber nicht im Interesse der dominierenden ökonomischen Elite.

Douglas Rushoff hat in seinem Podcast eine Verschärfung dieses Gedanken geäußert: Finanzstarke Investoren aber auch die »konservative« Politik glauben, nun auch in die Zukunft gedacht, nicht mehr daran, dass sich Klimawandel und die damit eingehenden Katastrophen noch verhindern lassen. Es geht also gar nicht mehr nur um die Verleugnung der Schäden der aktuellen Investitionen, sondern um die Frage, wie unsere Welt in der Zukunft aussehen wird. Und die Erkenntnis ist: schrecklich. 

Und sie machen genau das, was sie in unserer zynischen Welt gelernt haben: Sie wetten mit ihren Investitionen auf dieses Ergebnis und auf eine perverse Art haben sie daher nur mehr wenig Interesse an positiver Veränderung. 
»The wealthy are now investing in the inevitability of climate change. Let’s start talking about our collective sustainable future in ways that make the rich start to bet on our ability to avert catastrophe.«, Douglas Rushkoff: Tweet, Medium
Erkenntnis führt in diesem Fall zu einem selbstverstärkenden Prozess, der uns immer tiefer in die Krise führt.

Montag, 4. Februar 2019

Wo sind die Konservativen, wenn man sie braucht? 

Verhaltensänderungen in komplexen Systeme können im wesentliche auf zwei Arten erfolgen: evolutionär oder revolutionär. Ist der Druck auf das System eher schwach, oder baut sich graduell auf, so ist die Veränderung in den meisten Fällen eine evolutionäre, sie erfolgen in kleinen Schritten ausgehend vom aktuellen Zustand. In Organisationen nennt man dies Prozesse kontinuierlicher Verbesserung.

Schwieriger ist die Situation, wenn der Druck auf ein System sehr groß ist, oder so empfunden wird, und erforderliche Veränderungen weitreichend sind. Ein gutes Beispiel hierfür sind die notwendigen Transformationen unseres globalen Wirtschafts- und Finanzsystems. Aber auch in vermeintlich kleineren Problemfeldern, wie der Ablöse alter IT-Systeme, beobachten wir ähnliche Herausforderungen. Diese Beispiele haben gemeinsam, dass es sich um große Veränderungen in gewachsenen, und vor allem komplexen Systeme handelt.

Wir nennen Systeme komplex, wenn sich deren Verhalten aus der Interaktion sehr vieler Komponenten ergibt und diese Komponenten sich in Folge der Interaktion auch noch verändern können. Das gesamte Verhalten eines solchen Systems ist nicht aus der Beobachtung einzelner Komponenten ableitbar – es ist also nicht reduzierbar. Die Vorhersagbarkeit ist begrenzt und das zukünftige Verhalten stark von der Vergangenheit des Systems und vielfältigen Kontextfaktoren abhängig. Komplexe Systeme können längere Phasen hoher Stabilität zeigen, in denen Eingriffe nahezu keine Wirkung zeigen, dann aber zu schwer vorhersagbaren Zeitpunkten kippen. Die Effekte von Eingriffen in das System sind also kaum abschätzbar.

In der (politischen und Management-) Praxis erleben wir bei der Notwendigkeit solche Systeme zu transformieren in den letzten Jahrzehnten weitgehenden Stillstand. Einer der Gründe ist, dass politisch Progressive (oder Innovatoren in Unternehmen) weitreichende, schnelle Änderungen und Modernisierungen, oder gar die vollständige Ablöse des aktuellen Systems, fordern und dafür aus ihrer Sicht gute Gründe nennen. Vermeintlich Konservativen gehen diese Vorschläge zu schnell und zu weit, sie fürchten Veränderungen in etablierten und noch funktionalen Strukturen. Die Gegenreaktion ist oft überproportional. Das bemerkenswerte an dieser Situation ist aus meiner Sicht, dass beide Gruppen falsch liegen.

Progressive glauben grobe Nachteile des aktuellen Zustandes erkannt zu haben und meinen diese Altlasten möglichst schnell beseitigen zu müssen und – was noch wichtiger ist – auch zu können. Sie haben einen Plan und eine konkrete Vision, wie die Welt nach ihren Veränderungen besser sein wird. Revolution oder jedenfalls schnelle Transformation gesellschaftlicher Systeme scheint ihnen daher die bessere, ja sogar die notwendige Wahl zu sein. Revolutionäre unterschätzen dabei in aller Regel die Komplexität des Systems selbst sowie des Kontexts in das das abzulösende System eingebunden ist. 

Dazu zählen zunächst emotionale und psychologische Faktoren, wie die Verankerung der Menschen in Kulturen und geschichtlichen Zusammenhängen. Das führt dann bei schnellen Reformen immer wieder zu enttäuschenden Rückschlägen, wo das System am Ende schlechter da steht als zuvor. Denken wir an die schnellen Reformen, begonnen unter Atatürk in der Türkei oder um die iranische Revolution. Weiters gibt es fast immer äußere Abhängigkeiten oder notwendige Interaktionen mit anderen Entitäten. Anders gesagt: ein System ist selten alleine, sonder fast immer Teil anderer Systeme. Es gibt ein wichtiges Wechselspiel zwischen Individuum und Kultur, das in modernen Gesellschaften gewaltfrei und konstruktiv ablaufen sollte.
»Kulturen haben die Aufgabe, die individuelle Verhaltensvielfalt zu verringern. Während das einzelne Gehirnaufgrund seiner außergewöhnlichen Vernetzungsdichte im Prinzip eine hohe Fähigkeit zur Erzeugung überraschend neuer Muster besitzt, sind Kulturen notwendigerweise eher bewahrend. Die Kultur stabilisiert die Individuen.«, Peter Kruse, next practice. Erfolgreiches Management von Instabilität 
An dieser Stelle ist mir aber ein anderes, perfideres Problem, nämlich um die Frage, welche Funktion(en) das neue System überhaupt haben soll. In aller Regel möchte man bestimmte Eigenschaften des alten Systems, wenn auch in neuer Form, weiterführen. Soll ein Gesundheitssystem, das zu teuer und ineffizient ist, durch ein neues ersetzt werden, so muss dieses neue (und hoffentlich bessere) System immer noch viele Funktionen des alten ausführen. Viele Unternehmen scheitern sogar an der Ablöse alter IT-Systeme, oder sind gezwungen enorme Summen  dafür zu investieren. Und dies, obwohl es sich doch eigentlich »nur« um Computer – und daher um vermeintlich deterministische Funktionalität handelt. Auch in diesem Fall ist es aber so, dass die Computersysteme Teil eines größeren Ganzen sind: es gibt Fachabteilungen, Kunden, Programmierer, Betriebsmannschaften, Hardware, externe Komponenten, Management mit strategischen Erwartungen. Ein abzulösendes Softwaresystem ist daher das Ergebnis komplexer Interaktionen all dieser Teilsysteme über Jahrzehnte. Kein Teil, auch nicht ein Stück Software, kann ohne diesen historischen und organisatorischen Kontext verstanden werden.

Selbst wenn in der Vergangenheit sehr sauber und konsequent gearbeitet wurde (was in der Praxis selten der Fall ist) ist die bestehende Funktionalität nicht hinreichend und schon gar nicht vollständig dokumentiert.

Es wäre eine interessante theoretische Frage zu klären, ob es überhaupt hilfreich wäre, wenn alles vollständig dokumentiert ist. Denn der Umfang solcher Systeme ist so groß, dass kaum jemand aus einer vollständigen Dokumentation schlau werden würde. Die Zeit, die notwendig wäre, die Dokumentation zu lesen und zu verstehen würde jedes Konstruktionsteam wohl schon theoretisch überfordern.

Anders gesagt, die aktuelle Funktionalität liegt nicht explizit, sondern vielmehr in großen Teilen tacit (also still, implizit) vor. Das alte System erledigt eine Menge von Dingen, die selbst diejenigen, die täglich damit zu tun haben, nicht strukturiert niederschreiben könnten. Die Funktionalität des Gesamtsystems ist eine Kombination aus Software, Mitarbeitern, organisatorischen Strukturen, baulichen Strukturen, Maschinen, Dokumentation, externen Einflüssen usw. Dasselbe trifft auf jedes andere komplexe System zu: Gesundheitssysteme, Finanzsysteme, die Aufrechterhaltung elementarer Infrastruktur einer Stadt wie Wasser-, Stromversorgung usw.

Sind wir bei von uns geschaffenen Systemen schon nicht in der Lage deren aktuelle Funktionalität hinreichend zu verstehen, so trifft dies selbstverständlich in noch stärkerem Maße auch auf natürliche Systeme wie Ökosysteme zu. Trotz jahrhundertelanger kompetenter biologischer Forschung, kratzen wir oft nur an der Oberfläche des Verständnisses komplexer biologischer und ökologischer Zusammenhänge.
Theodore Roosevelt und John Muir im Yosemite Nationalpark

Diese Erkenntnis wäre daher die eigentliche Stärke konservativer Positionen und Politik. Man erkennt das etwa daran, dass es Konservative und nicht »Progressive« in den USA waren, die Nationalparks begründeten. Der Wissenschafter John Muir zählt  gemeinsam mit dem späteren republikanischen (!) Präsidenten Theodore Roosevelt zu den Begründern der moderenen Idee der US-Nationalparks. Das Bewahren und der vorsichtige Umgang mit natürlicher Systeme ist eine im Kern konservative Position, ja man könnte sagen die wesentlichste konservative Idee. So müsste selbstverständlich auch Klimaschutz ein Kern-Anliegen jedes Konservativen sein.

So gesehen ist es eigentlich verrückt, wie sich die Welt der Begriffe und politischen Leitlinien in den letzten Jahrzehnten verdreht haben. Denn dieser Kern, diese wesentliche Erkenntnis konservativen Denkens, dass es nämlich nicht sehr weise ist, massiv und schnell in bestehende Systeme einzugreifen, ist verloren gegangen. Visionäre Systeme am Papier zu erfinden und revolutionär umzusetzen ist so gut wie niemals eine gute Idee, denn eine schnelle und starke Abweichung vom Status Quo birgt prinzipbedingt erhebliche Gefahren und Risiken, und vor allem unerwartete Seiteneffekte. Dies sehen wir deutlich am Beispiel des Klimawandels. Die meisten Menschen, die sich konservativ nennen, müsste man heute eher Reaktionäre oder Opportunisten nennen.

Daher ist in vielen Fällen ein evolutionärer Zugang, stetige Transformation und Verbesserung, die bessere Option. Allerdings setzt dies, wie eben gesagt, eine stetige Transformation voraus, nicht langen Stillstand und dann den Versuch einer Transformation, denn das vereint die Nachteile evolutionärer und revolutionärer Prozesse. 

Dies ist aber die Politik die wir derzeit beobachten. Progressiven geht alles zu langsam und sie wollen sich nicht auf viele kleine und mühsame Schritte, und vor allem nicht auf den schwierigen Dialog einlassen, in der Furcht das Ziel aus den Augen zu verlieren oder von ihresgleichen als Verräter bezeichnet zu werden. Wer versucht in der Mitte einer breiten gesellschaftlichen Debatte zu stehen, wird aus progressiver Sicht häufig als rechter Agitator abgewertet. Ein schlimmer Irrtum.

Konservative auf der anderen Seite, haben einerseits oftmals ihre intellektuellen Wurzeln verloren und werden aus lauter Angst vor zu schneller Veränderung zu Reaktionären. In Summe führt dies entweder zu Stillstand, oder zu unüberlegten und unausgereiften Reformen. Wenn eine Seite einmal politisch zum Zug kommt, so werden Reformen mit wenig qualifiziertem Personal so schnell und schlampig aufgesetzt, dass sie beim nächsten Regierungswechsel einfach wieder rückgängig gemacht werden können. Obamas Gesundheitsreform ist ein perfektes Beispiel dafür: ohne die fundamentalen Probleme des US-Gesundheitssystem schrittweise anzugehen (beispielsweise die dramatischen Kosten, die aus systemischer Fehlentwicklung aus dem Einfluss privater Konzerne entspringt), wurde auf ein verdrehtes Fundament ein vermeintlich progressiver Aufsatz angeschraubt.

Statt ernsthafter und harter aber konstruktiver Auseinandersetzung zwischen Konservativen und Progressiven erleben wir eine hin- und her Politik, wo je nach politischer Gruppierung gerade mal für ein paar Jahre die eine oder andere Interessensgruppe bedient wird, oder es werden aus schnellen opportunistischen Ideen heraus langfristige Schäden angerichtet. Die Brexit-Abstimmung in Großbritannien ist ein Beispiel dafür.  Dabei geht es mir gar nicht um die Brexit-Idee an und für sich, sondern um die verheerend verlaufende Diskussion und die schlechte Vorbereitung.

Unsere Zukunft gerät bei solchem Dilettantismus konsequent unter die Räder.

Postskriptum: Ein fundamentaler Nachteil evolutionärer Prozesse ist allerdings, dass radikale Änderungen in aller Regel nicht möglich sind. Die Notwendigkeit radikaler Änderungen ist aber gerade die Folge mangelnder Evolution in der Vergangenheit. Stillstand ist in der Moderne fast immer Rückschritt. Ist transformative Änderung tatsächlich notwendig, kann es die erfolgsversprechendste Variante sein (wenn auch sehr schwierig konsequent umzusetzen), die alte Struktur am Leben zu halten und daneben mehrere neue Strukturen aufzubauen um zu testen, welche dieser neuen Strukturen sich als tragfähig erweist und dann letztlich die alte aussterben lassen. Kein einfacher und oft teuerer Prozess.

Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)