Montag, 29. Oktober 2012

Max Perutz und das Geheimnis des Lebens


"1936 habe ich meine Heimatstadt Wien verlassen um den "großen Weisen" [Sage, Bernal] in Cambridge aufzusuchen. Ich habe ihn gefragt, 'Wie kann ich das Rätsel des Lebens aufklären?'. Er antwortete, 'Das Geheimnis des Lebes liegt in in der Struktur der Proteine, und Röntgenstrukturaufklärung ist die einzige Möglichkeit es zu lösen'"

Eine unbeschwerte Jugend in Wien

Max Perutz wird am 19. Mai 1914 in Wien in eine gutbürgerlicher Familie geboren. Sein Vater Hugo ist Textilfabrikant. Vater und Mutter Dely gehörten einer gebildeten und vergleichsweise wohlhabenden Gesellschaftsschicht an. Theater, Musik, Bücher umgaben Max von Kindheit an. Seine Eltern schicken ihn ins Theresianum in Wien, eine Schule mit dem Flair von Internationalität und Geld. Unter seinen Schulkameraden waren Söhne von Botschaftern und Adeligen. Und dennoch hatte gerade dieses Umfeld einen eher ernüchternden Einfluss auf Max. Der Umgang mit "Adeligen" hätte ihn für den Rest seines Leben von Snobismus jeder Art kuriert. Denn diese Leute waren keinen Deut gescheiter als alle anderen.

Trotz dieses Umfeldes sagt er von sich selbst, er wäre kein sehr ambitionierter Schüler gewesen; es hätte ihn wenig gekümmert, welche Noten er bekam. Einer der wenigen Lehrer, die Max beeinflusst hatten, war sein Chemielehrer. Dr. Arthur Praetorius hatte nicht nur an der Schule, sondern auch an der Technischen Universität in Wien unterrichtet. Max war von der Kompetenz des Lehrers beeindruckt. Eine Kompetenz und Motivation, die er offenbar bei anderen in dieser Form nicht wiederfand. Dr. Praetorius erlebte sogar noch den Nobelpreis seines ehemaligen Schülers Max Perutz. Aber wir greifen vor...

Das Interesse für Chemie hält nach der Schule an, und Max möchte Chemie studieren. Dieses Vorhaben stieß nicht gerade auf große Begeisterung bei seinen Eltern, besonders nicht bei seinem Vater. Denn sein Bruder studierte bereits ein Ingenieursstudium in der Schweiz (um die technische Seite der väterliche Firma übernehmen zu können). Für Max war das Jus-Studium vorgesehen. Welche Verschwendung eines naturwissenschaftlichen Talentes wäre das gewesen? 

Von Kindheit an war Max Perutz an den Bergen interessiert und ist in seiner Schulzeit auch hervorragender Skifahrer. Die Liebe für die Berge wird ihn bis an sein Lebensende nicht loslassen. Die Expedition im Sommer 1933 zeigt Perutz Verbundenheit mit der Natur. Er fährt mit studentischen Freunden in den Norden und gelangt bis zur arktischen Insel Jan Mayen, 600 km nördlich Islands, die nur eine meteorologischen Station beherbergte. Aber auch für seine spätere Karriere erweist sich der Bergsport als hilfreich. Max Eirich, einige Jahre älter als er selbst, lernt er beim Skifahren kennen. Eirich unterrichtet an der Universität Wien Chemie. Erst ihm gelingt es, Vater Hugo Perutz zu überzeugen, Max im Oktober 1932 Chemie studieren zu lassen. 

In einem späteren Interview sagt Perutz, er wäre nie besonders an Politik interessiert gewesen, sondern hätte sich lieber mit Bergsport beschäftigt. Ganz zutreffend dürfte diese späte Aussage besonders für die Zeit in Wien nicht gewesen sein. Es ist bekannt, dass er sich in den 30er Jahren sehr intensiv mit dem politischen Aufstieg Hitlers auseinandergesetzt hatte. Denn auch für jüdische Studenten begann das Leben in Wien zunehmend gefährlich zu werden. An den Universitäten patrouillierte nationalsozialistischer Mob, der nicht davor zurückschreckte, Studenten zu schikanieren oder zu verprügeln. Schon 1933 machte seine Familie erste Pläne nach Prag zu fliehen, sollten die Nazis in Österreich die Macht übernehmen. Aber noch bleibt die Familie Perutz in Wien.

1935 nahm er an einem Kurs für Eiweiß-Chemie des Chemikers Friedrich von Wessely teil. Dieser Kurs war für den weiteren wissenschaftlichen Weg wichtig, weil ihm zum ersten Mal klar wurde, welche Bedeutung die Chemie für das Verständnis biologischer Prozesse hat. Ausserdem stammten viele Beispiele aus diesem Kurs von Sir Frederick Gowland Hopkins aus Cambridge. In Wien wurde kaum nennenswerte Forschung in diesem Gebiet betrieben. So wuchs in Perutz der Wunsch nach Cambridge zu gehen, um sich in dieses Fach unter kompetenter Betreuung vertiefen zu können. Wieder erzählte er seinem Freund Eirich von seinen Plänen. Eirich hatte Kontakte nach Cambridge und verspach zu helfen. Nicht zuletzt galt es wieder die Bedenken seiner Eltern zu überwinden. Über mehrere Ecken wurde der Kontakt zu J. D. Bernal hergestellt, der sich auch bereit erklärte Perutz aufzunehmen. Damit war für Max Perutz die Entscheidung gefallen. Aber noch lange sind nicht alle Hindernisse überwunden... 

Auch fiel diese Entscheidung keinen Moment zu früh. Symbolhaft für die zunehmende Verschärfung  der Situation in Österreich – auch an den Universitäten – war die Ermordung eines Philosophen des Wiener Kreises. Moritz Schlick wurde im Juni 1936 von einem geistig verwirrten Studenten vor der Universität Wien erschossen. Zwar war Schlick kein Jude und der Student auch nicht politisch motiviert, aber Schlick hatte von seiner Ablehnung der Nazi-Ideologie in Vorlesungen keinen Hehl gemacht. Von faschistischer Seite wurde in der Folge die Tat des Mörders relativiert und sogar entschuldigt.

"It was Cambridge that made me" – Ankunft in Cambridge 

1936  kommt Max Perutz schließlich als Graduate Student  in das Labor von J. D. Bernal. Seine Eltern sorgten für die notwendige Ausstattung und finanziellen Mittel für die erste Zeit. Leiter des Cavendish Labs war Ernest Rutherford. Cambridge war aber nicht nur eine bedeutende Universitätsstadt, sondern auch ein Brennpunkt politischer Diskussion. So stellte er gleich bei seiner Ankunft fest, dass Bernal (und viele seiner Mitarbeiter) engagierte Sozialisten sind. Er war hauptsächlich an der wissenschaftlichen Arbeit interessiert und arrangierte sich mit den politischen Aktivitäten. 

Aber auch die Ankunft in Cambridge war nicht ohne Probleme. Denn seine Versuche schon vorweg in einem College aufgenommen zu werden waren nicht erfolgreich gewesen. Er entschied sich dennoch nach Cambridge zu kommen und zu versuchen, das Problem vor Ort zu lösen. Mit Hilfe eines Komilitonen und eines Empfehlungsschreibens vom "Weisen" Bernal gelang schliesslich die Aufnahme ins Peterhouse College, dem ältesten (1284 gegründeten) und kleinestem College in Cambridge.

Perutz macht sich an die (wissenschaftliche) Arbeit: Man hatte gerade entdeckt, dass chemische Rektionen in Zellen von Enzymen katalysiert werden, und dass Enzyme Proteine sind. Gene hielt man ebenfalls für Proteine. Man wusste aber so gut wie nichts über die Struktur von Proteinen, und schon gar keine Details über deren Funktionsweise. Die Aufklärung der Struktur von Proteinen wurde langsam als das zentrale Problem der Biologie erkannt. Bernal ist einer der Mentoren, die Perutz klar machen, wie bedeutsam die Struktur komplexer Moleküle für deren (biologisch) Funktion ist. Der Weg, die Struktur dieser Moleküle aufzuklären war, das betonte Bernal immer wieder, die Röntenstrukturanalyse. Bereits 1934 machte Bernal selbst einen bedeutenden Schritt mit der Aufnahme der ersten Protein-Kristalle (Pepsin).

Die Grundlagen der Röntgenstrukturaufklärung  wurden schon rund 20 Jahre zuvor gelegt. Kristalle sind sehr regelmässige Strukturen, in denen bestimmte Strukturen (Einheitszellen) sich immer wieder in großer Regelmässigkeit wiederholen. Max von Laue vermutete, dass die Wellenlänge von Röntgenstrahlung ungefähr in der Dimension dieser Strukturen liegen müsste. Daraus ergaben sich folgenreiche Experimente: bestrahlt man Kristalle mit Röntgenstrahlung so werden diese von den Atomen gebeugt. Aufgrund der Regelmässigkeit der Kristallstruktur erhält man (im Idealfall) sehr regelmässige Beugungsmuster auf einer fotografischen Platte. William Bragg erarbeiteten in der Folge grundlegene mathematische Prinzipien der Röntgenbeugung an Kristallgittern. All dies war zu der Zeit, als Max Perutz nach Cambridge kam, bereits bekannt. Aber bislang wurde im wesentlichen an einfachen (anorganischen) Kristallen gearbeitet. Bernal vermutete frühzeitig, dass sich diese Methode auch auf komplexere Moleküle anwenden ließe.

Strukturformel des Häm B
(Wikimedia Commons)
Die Strukturaufklärung von Proteinen ist aber im Gegensatz zur  Untersuchung einfacher anorganischer Salze eine wesentlich komplexere Problemstellung. Perutz war von diesen Fragestellungen begeistert und begann mit Hämoglobin zu arbeiten, einem komplexen Proteine, das bei vielen Tieren und auch beim Menschen die Funktion hat, Sauerstoff zu transportieren. Hämoglobin hatte den Vorteil leicht verfügbar zu sein und ist gleichzeitig eines der wenigen Proteine, das man kristallisieren konnte. Kristalle sind, wie gesagt, eine Voraussetzung für die Röntgenstrukturanalyse. Diesem Vorteil stehen aber erhebliche Probleme gegenüber: Jedes Hämoglobin Molekül besteht aus vier komplexen Untereinheiten. Jede dieser Einheiten enthält eine (nicht Protein) Häm-Gruppe. Diese Häm-Gruppe hat im Zentrum ein Eisen-Molekül an dem sich ein Sauerstoff Molekül binden kann. Ein Hämoglobin-Protein kann daher vier Sauerstoff-Moleküle transportieren. Wenn man sich vor Augen führt, dass die Masse der Häm-Gruppen nur rund 4 Prozent der Gesamtmasse des Hämoglobins ausmacht und Hämoglobin aus tausenden Atomen zusammengesetzt ist, kann man ermessen, wie komplex dieses Protein ist, und welche Herausforderung die Strukturaufklärung darstellte.


Bändermodell des Hämoglobins. Die vier grünen Teile sind die Häme (s.o.).
(Wikimedia Commons

Daher wurde die Arbeit an derart komplexen Molekülen von den meisten Wissenschaftern der Zeit auch als zu komplex erachtet. Als Perutz nach Cambridge kam, hatte man noch nicht einmal einfache Zuckermoleküle mit Röntgenstrukturaufklärung untersucht, und dennoch machte er sich an Proteine, die aus tausende von Atomen bestehen – vielleicht getrieben von jugendlichem Leichtsinn.  Derartiger "Leichtsinn" war schon des öfteren die Voraussetzung völlig neue Wege zu versuchen und dabei in manchen Fällen auch große Entdeckungen zu machen. Man denke nur an Marie Curie die jahrelang Tonnen von Gestein "auskochte" um kleinste Mengen von Radium darzustellen. Daran sieht man aber auch, dass  Begeisterung alleine natürlich nicht ausreicht. Was für Max Perutz folgt, ist über viele Jahre harte, oftmals repetitive und auch frustrierende Arbeit im Labor. Er stand auch mit Bernal in regelmässigem Kontakt. Er teilte ihm seine Forschungsergebnisse mit und bat ihn 1937 um Unterstützung, weil seine finanziellen Mittel zu Ende gingen.

1937 starb Ernest Rutherford. Sir Lawrence Bragg, der Begründer der Röntgenstrukturanalyse, folgt ihm als Cavendish-Professor nach. Sofern man dies über einen Todesfall sagen darf, war dieser Wechsel an der Spitze des Labors für Perutz ein Glücksfall. Die Schwerpunktsetzung des Labors änderte sich nun zu seinen Gunsten. Rutherford war als Entdecker des Atomkerns stark on Atomphysik interessiert. Bragg hingegen (als Begründer der Röntgenanalyse) interessierte sich besonders für die Arbeiten von Perutz. Bragg hatte die Methodik entwickelt und auf einfache anorganische Salze angewendet. Die Idee, dass diese Methode auch komplexe organische Moleküle untersuchen kann faszinierte ihn. 

Kriegswirren

Diese neue Anerkennung kommt für Perutz gerade zur richtigen Zeit. Denn mit der Machtübernahme Hitlers verfügt er über keine eigenen finanziellen Mittel mehr. Von seinen Eltern hatte er einen fixen Betrag für die erste Zeit erhalten, aber das Geld wird knapp. Bragg half ihm nun ein Stipendium der Rockefeller-Foundation zu bekommen. Aber nicht nur seine eigene, auch die Lage seiner Eltern wurde sehr schwierig. Sie waren mittlerweile vor den Nazis nach Prag geflohen. Es gelang Perutz mit erheblichem Aufwand seine Eltern nach Cambridge zu holen, wo sie gemeinsam in Emanuel Road 15 wohnten. Seine Mutter, gewöhnt an ein Leben in Wien mit großer Wohnung und hinreichend finanziellen Mitteln, konnte sich an die kleinen britischen Wohnungen und die neue Lebenssituation, geprägt von finanziellen Sorgen und neuer Umgebung, nicht gewöhnen. 

"Christ's Piece" Park in Cambridge mit Blick auf das ehemalige Haus von Max Perutz (links) 

Der Krieg brachte weitere Schwierigkeiten mit sich. Perutz wird als Österreicher mit einer Zahl anderer Einwanderer aus Österreich und Deutschland in Großbritannien interniert. Da viele der anderen ebenfalls Wissenschafter waren, gründeten sie eine Art Universität in ihrem Lager. Der langweiligen, aber vergeleichsweise gemütlichen Internierung in England folgt eine Abschiebung nach Kanada. Bernal und Bragg versuchten ihr Möglichstes Perutz das Lager in Kanada zu ersparen. Sie schrieben amerikanischen Kollegen um ihm zu einem Job an einer amerikanischen Universität zu verhelfen. Der Versuch scheiterte aber zunächst. Die Überfahrt und die Lager in Kanada waren alles andere als angenehm. Dazu kommt, dass von allen Kriegsgefangenen die Juden die schlechtesten Bedingungen erfahren. Nach etlichen Monaten sind die Bemühungen verschiedenster Professoren (unter ihnen auch Linus Pauling und die Rockefeller Foundation) erfolgreich. Perutz darf zurück nach Cambridge. In England lernte er dann auch seine spätere Frau Gisela Peiser (eine Deutsche) kennen.

Ende 1942 wurde er, obwohl er Österreicher war, und kurz zuvor noch interniert war, für die Kriegsforschung im Projekt Habbakuk eingesetzt. Allerdings wurden ihm die meisten Details des Projektes (wie er in einem Interview knapp vor seinem Tod erzählt) vorenthalten. Er machte sich dennoch einen Reim vom Umfang des Vorhabens. Der Kopf hinter Projekt Habbakuk war Geoffrey Pyke, ein eher unkonventioneller Charakter; ein Journalist, Lehrer und Erfinder. Das Projekt galt als streng geheime militärische Forschung. Kritiker sahen es eher als Science Fiction. Die Idee war, eine Art Flugzeugträger aus mit Holzstoff verstärktem Eis anzufertigen. Dieses bewaffnete Riesen-Schiff (oder schwimmende Hafen) hätte in der Mitte des Atlantik stationiert werden sollen. Perutz wurde als "Experte für Eis" hinzugegzogen, weil er 1938 bei einer Gletscher-Forschungs-Expedition in der Schweiz teilgenommen hatte.  Diese Arbeit erforderte nun längere Aufenthalte in London. Auch Bernal ist diesem Projekt zugeordnet. Letztlich schlief dieses Unterfangen nach etlichen Tests wieder ein. Die Idee war viel zu komplex, und das Herstellen eines derartig großen, künstlichen Eisberges wäre viel zu energieaufwändig gewesen.

1944 kehrte Perutz wieder zu seiner regulären Forschungstätigkeit nach Cambridge zurück. In diesem Jahr wird auch seine Tochter Viviene geboren.

Das Geheimnis des Lebens

"Die gesamte Chemie der Zelle hängt an Proteinen, sie sind die Arbeitstiere der Zelle. Alles Leben hängt an ihnen. In den 1930er Jahren war das prinzipiell klar, aber nur sehr wenig über die Funktion der Proteine bekannt.", Max Perutz
Das änderte sich nach dem zweiten Weltkrieg, und Max Perutz hatte wesentlichen Anteil an den neuen Erkenntnissen. Auch wuchs das Team um Perutz stetig. John Kendrew stieß 1945 hinzu und arbeitete mit einem zweijährigen Stipendium an einem sehr komplexen Problem, ebenfalls an Hämoglobin. Er verglich fötales mit adultem Hämoglobin. Dann drohte sowohl Perutz wie auch Kendrew wieder einmal das Geld auszugehen. Auch diesmal haben sie Glück und einflussreiche Fürsprecher: David Keilin, der mit Sir Edward Mellanby (Leiter des Medical Research Council) befreundet war, setzte sich für die beiden ein. In der Folge erhalten sie finanzielle Unterstützung vom MRC. Sie gründeten die erste Abteilung für Molekulare Biologie. Ein bedeutender Schritt vorwärts! Aber nicht nur für ihre Forschungstätigkeit in Cambridge. Ebenso bedeutend war die Tatsache, dass sich molekulare Biologie als eigenständige Disziplin zu formieren beginnt.

Diese neue Forschungsrichtung zog zahlreiche talentierte junge Forscher an. Zu den ersten zählten Francis Crick, James Watson und Hugh Huxley; allesamt begabte junge Wissenschafter, hoch motiviert aber noch mit (zu) wenig Kompetenz in Biochemie. Die Idee ein interdisziplinäres Labor zu gründen stand im Raum. In den späten 1950er Jahren stieß dann der bedeutende Biochemiker Fred Sanger, der gerade das Insulin sequenziert hatte, zu ihnen. (Insulin war das erste Protein, das man sequenzieren konnte. Unter Sequenzierung versteht man die Bestimmung der Reihenfolge der Aminosäuren, die ein Protein aufbauen.)

Obwohl es nach außen hin stetig voran geht, waren die 50er Jahre für Perutz eine schwierige Zeit. Bragg verlässt Cambridge und wird Direktor der Royal Institution in London und versucht mit allen Mitteln John Kendrew und dessen ganze Arbeitsgruppe nach London zu holen. Kendrew möchte einerseits Cambridge nicht verlassen, andererseits scheint er nicht besonders gerne mit Perutz zusammenzuarbeiten. Warum, ist für mich nicht mehr leicht nachzuvollziehen. Jedenfalls hatte Perutz kein Problem mit Kendrew, sondern unterstützte ihn nach Kräften bei dessen Forschungstätigkeit. Er selbst hatte in dieser Zeit verschiedenste private Probleme. Der Stress über die ungeklärte Zukunft des MRC macht ihm stark zu schaffen und wird immer wieder krank. Vielfach wird angenommen, dass es sich um psychosomatische Erkrankungen gehandelt hatte.

Trotz der Schwierigkeiten ist Max Perutz angesehen. Während Bragg Francis Crick nicht ausstehen konnte, erkannte Perutz dessen Talent. Crick bestätigt später, dass es eines von Max Perutz Talenten war, eine gute Arbeitsamtosphäre zu schaffen. Auch wird Perutz 1954 Fellow der Royal Society und gilt damit als einer der Top-Forscher Großbritanniens. (Die Initiative zur Ernennung kam wohl von "Sage", J. D. Bernal.)

Max Perutz
(c) Bildarchive der Nationalbibliothek Österreich
Perutz selbst kämpfte immer noch mit der Strukturaufklärung des Hämoglobins. Als er im Jahr 1937 mit der Strukturaufklärung eines Proteins begonnen hatte, glaubte außer Bernal kaum jemand daran, dass diese Arbeit von Erfolg gekrönt sein könnte. Und tatsächlich ist die Komplexität, das zeigt sich nach Jahren der Forschungsarbeit, enorm. Die Arbeit am sauerstofftransportierenden Hämoglobin begleitete ihn und sein Team auch noch für die nächsten 60 Jahre. Aber im Jahr 1951 gelingt ein entscheidener Durchbruch. Perutz kann einen Strukturvorschlag von Linus Pauling (Alpha-Helix) experimentell belegen! Er verfeinerte seine Methode und legte auch die experimentelle Grundlage für die Strukturaufklärung von Myoglobin durch John Kendrew. Perutz selbst beschreibt die Aufklärung der Proteinstruktur nach der langen Durststrecke mit der Entdeckung eines neuen Kontinents.

Perutz und Kendrew teilten sich für die Strukturaufklärung der ersten Proteine den Nobelpreis 1962. Perutz ist 48 Jahre alt und er empfand den Nobelpreis als große Anerkennung für lange Jahre der Forschungstätigkeit, in der er selbst häufig an seinen Fähigkeiten gezweifelt hatte.

Die Arbeit von Wissenschaftern wie Perutz und Kendrew machten aber eine weitere Sache deutlich: Rund hundert Jahre zuvor, hatte Charles Darwin ein neues Zeitalter der Biologie eingeläutet: Evolution ist seit damals das Fundament moderner Biologie. Nun wurde deutlich, dass sich Evolution nicht nur auf der Ebene von Lebewesen, Tieren, Menschen, Pflanzen abspielt, sondern auch auf molekularer Ebene zu beobachten ist. Ein Beispiel, das von Perutz immer wieder gebracht wurde, sind Mutationen des Hämoglobins, die es dem Lama erst ermöglichen in höher gelegenen Regionen zu leben. Denn diese Mutationen erlauben eine höhere Sauerstoffsättigung im Blut.

Das "neue" Medical Research Council Laboratory of Molecular Biology

Nach den Nobelpreisen 1962 stand der Finanzierung eines neuen Labors südlich von Cambridge nichts mehr im Wege. Noch 1962 zogen die Wissenschafter ein. Dieses neue Labor war tatsächlich die Zusammenlegung von 4 Labors:  Fred Sanger vom Biochemie Labor in Chambridge, vom Cavendish Labor John Kendrew, Francis Crick und seine eigene Gruppe, vom Birkbeck College Aaron Klug, Hugh Huxley vom University College London. Das neue Labor für Molekulare Biologie startete mit etwa 30 Mitarbeitern, die alle vom Medical Research Council bezahlt wurden und hatte nochmals etwa dieselbe Zahl an Studenten, und Besuchern. Auch die technische Ausstattung des Labors war beachtlich.

Die Verbesserung der Kommunikation zwischen Wissenschaftern und vor allem auch zwischen den Teams war immer ein Ziel von Perutz. Das begann beim Entwurf der Cafeteria und endet bei der Nutzung von Geräten. Diese wurden nicht einzelnen Gruppen oder Personen zugeordnet, sondern sollten gemeinschaftliche genutzt werden. Auch waren alle Türen ohne Schlösser. Dies galt selbst für Perutz, der seine Tür direkt auf den Gang, für alle zugänglich öffnete. Ein Gegensatz zur früher üblichen Abschirmung durch das Sekretariat.

Bemerkenswert ist auch die Weitsicht und der damit verbundene lange Atem, den das Medical Research Council unter Harold Himsworth an den Tag legte. Denn gerade in den ersten Jahren gab es wenig herzeigbare Erfolge. Nicht endloser Papierkrieg, sondern direkte Gespräche waren die Regel. Perutz schreibt später:
"Dieses System garantierte effiziente Arbeit, aber der Thatcherism hat nun viel davon zerstört. Unter der alles durchdringenden Regel der 'Rechenschaftspflicht' hat sich die Bürokratie vervielfacht und die Direktoren werden unter Bergen von Papier begraben, was ihnen kaum mehr Zeit für eigene Forschung lässt. Und Forschung war es, wofür sie ihre Positionen erhalten hatten, nicht  für das Ausfüllen von Formularen."
Perutz Motto war es, talentierte Leute einzustellen und sie das machen zu lassen, was sie interessierte. Seine Rechnung ging auf. Das von ihm gegründete Labor "produzierte" 13 (!) Nobelpreisträger.

Wissenschaft und Gesellschaft

Ein gerne übersehener Aspekt großer Forscher ist die Arbeit, die sie für die nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeit leisten. Einen Einblick in seine wissenschaftlichen Erkenntnisse aber auch in die Arbeit eines Wissenschafters gibt Max Perutz in mehreren Bücher wie: "Is Science Necessary" (1989), "Science is Not a Quiet Life" (1997), "I Wish I'd Made You Angry Earlier" (1998, 2002). 

In den 1960er Jahren stelltE er seine Forschung gemeinsam mit John Kendrew einer breiteren Öffentlichkeit in der BBC Serie "Eye on Science" vor. Auch war Perutz über die zunehmend wissenschaftsfeindliche Haltung der 1970er Jahre beunruhigt. Die Ansicht, Wissenschaft würde mehr Schaden als Nutzen anrichten, war ein (Mode-) Trend, vielleicht auch eine Gegenbewegung zu der Haltung der 50er und 60er Jahre. Sie schoss – so sah es wohl auch Perutz – weit übers Ziel hinaus. Er bemühte sich hier zu einer Objektivierung und Versachlichung der Diskussion beizutragen. Als Beispiel kann man einen Artikel im New Scientist nennen: "Why we need Science".

Er räumte sehr deutlich mit dem Mythos einer idyllischen und romantisierten Vergangenheit auf. Ein Bild, das wir leider bis heute in vielen Diskussionen implizit oder explizit wiederfinden. Er leugnete nicht die Gefahren, die neue Erkenntnisse und Technologien bringen können, stellt aber klar, dass diese immer im Verhältnis zum Nutzen betrachtet werden müssen. Ebenfalls eine Aussage, die wir uns heute wieder stärker zu Herzen nehmen sollten. Vielen Menschen ist überhaupt nicht klar, wie unser Leben ohne moderne Wissenschaft aussehen würde.

Gleichzeitig war Perutz aber kein Phantast, wie so manche Wissenschafter, die heute Bestseller schreiben, in denen alleine Wissenschaft und Technik die zunehmenden Probleme der Menschheit lösen werden und zu einer vermeintlichen Singularität, einer merkwürdig verklärten und romantisierten totalen Verschmelzung von Mensch und Maschine führen soll. Er war sich der Grenzen moderner Wissenschaft bewusst und kritisierte übertriebene Versprechungen anderer.

Die letzten Jahre

Wie viele Forscher seines Kalibers kannte er das Wort Ruhestand oder Pension nicht. 2001, im Alter von 87 veröffentlicht er noch eine wissenschaftliche Arbeit, gemeinsam mit Alan Windle, im angesehenen Fachmagazin Nature. Im gleichen Jahr wurde Leberkrebs diagnostiziert. Er arbeitete dennoch bis fast zum Ende.

Max Perutz stirbt nach einem langen Leben für die Wissenschaft im Februar 2002.

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Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

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