Montag, 14. März 2022

Krise ist immer. Das Leben war noch nie »normal«

Putin-Versteher?

Die Ukraine-Krise wird als eines der großen geopolitischen Verbrechen des 21. Jahrhunderts gelten. Dennoch, ich bin mit Sicherheit kein Putin-Versteher. Mein geschichtlich/politisches Wissen über die Ukraine und Russland sind oberflächlich und meine militärisch/taktische Kompentenz reicht nicht für ein Brettspiel. Ich werde daher keine Ansicht zum konkreten Konflikt äußern. Selbst wenn ich historisch und politisch gut informiert wäre, so wäre das aktuell die falsche Zeit. Unabhängig aber von dem konkreten Konflikt sind aus meiner Sicht Muster in der Rezeption und Verarbeitung des Konflikts und ähnlicher Krisen und der Folgen erkennbar, die unserer Gesellschaft schaden. Einige davon möchte ich in diesem Artikel kurz ansprechen:

Propaganda und Distanz

Gleichschaltung von Meinung ist fast immer ein Zeichen unhinterfragter Recherche und oftmals großer Gefahr. Wenn die »Meinungsmaschine« — in der heutigen Zeit immer noch zu einem gewissen Maß die Legacy-Medien, aber immer stärker soziale Netzwerke, intellektuelle Meinungsmacher und Politiker — im Einklang schwingt, werde ich im höchsten Maße unruhig und skeptisch. Ist der Konflikt, die Krise wirklich so einfach? Die Situation so unmissverständlich? Oder verlieren wir uns eher in einem Schwall von Propaganda (auf beiden Seiten) und übersehen wieder einmal Wesentliches und treffen möglicherweise falsche oder gar verheerende Entscheidungen?

Ein Kollege hat kürzlich sinngemäß gesagt: »Das Verhindern des Dritten Weltkrieges mit Atomwaffen hat bisher immer als gute politische Idee gegolten.« 

Bei den Hitzewallungen vieler aktueller Meinungsäußerungen scheint es eher so zu sein, dass man es mit dem Virtue Signaling und dem Bemühen als noch energischerer Vertreter der richtigen, moralischen Position zu gelten, so ernst nimmt, dass auch ein Atomkrieg in Kauf genommen wird. Vermutlich, weil die Moralisierer sich nicht bewusst sind, was Krieg, und vor allem Atomkrieg bedeutet. Ist der Krieg in der Ukraine z.B. wirklich unser Krieg, wie in westlichen Meinungsäußerungen immer zu lesen ist? Und wenn ja, wirklich in der Form, wie dargestellt?

Selten habe ich mich (in der Reflexion der Krise im Westen) so an die Tage vor dem Ersten Weltkrieg erinnert, wie jetzt während der Ukraine-Krise.

»Wie der Historiker Christopher Clark gezeigt hat, war der Beginn des Ersten Weltkriegs auch nicht das Werk eines dämonischen Genies oder des radikalen Bösen, sondern das Produkt einer Kaskade von Inkompetenz, Misstrauen, Selbstüberschätzung, Missverständnissen und Realitätsverweigerung seitens der Eliten und hysterischer Rhetorik in den Medien.«, Phillip Blom, Was auf dem Spiel steht

»Als der erste Weltkrieg ausbrach, wurde dann das ganze deutsche Volk zu einer einzigen offenen Masse. Die Begeisterung jener Tage ist oft geschildert worden.«, Elias Canetti, Masse und Macht

Auch Neutralität und Meinungsfreiheit wurden nicht zum kultivierten Moral Grandstanding in Spaß- und Friedenszeiten erdacht, wo solche Ideen keine Kosten verursachen. Sie sind ein wesentliches Prinzip moderner Gesellschaften um in Konflikt und Unsicherheit eine Breite im Denken und in möglichen Reaktionen zu bieten. Ein weites Meinungsspektrum ist in jeder unübersichtlichen und komplexen Lage sinnvoll. Kaum kommt es wirklich darauf an, fallen diese Prinzipien um. Zensur gibt es natürlich in Russland, aber auch im Westen, etwa auf YouTube. Dies scheint mir ebenso unangemessen, wie das Verhalten Österreichs oder der Schweiz, die genau, wenn es darauf ankommt, in ihrer Neutralität (auf die sie in Friedenszeiten so stolz sind) umfallen

Komplexe Systeme und Spatial Synchronisation

Die Komplexität des Geschehens (wie fast aller relevanter historischen Ereignisse) ist so groß, dass Prognosen fast immer falsch sind. Ereignisse werden im Nachhinein zur Geschichte — im wahrsten Sinne des Wortes. Der Erste Weltkrieg wird im Nachgang so erzählt, als hätte ein Ereignis mehr oder weniger notwendig zum nächsten geführt. Die Menschen, die das durchleben mussten, haben dies völlig anders wahrgenommen.

»One of the most puzzling aspects of living in history is that it’s almost impossible to predict the course of future events; yet, once events have happened, it’s difficult to know what it would even mean to say something else ‘could’ have happened.«, David Graeber, The Dawn of Everything

Die oben genannte Gleichschaltung simplifizierter und wohl falscher Narrative ist etwas, das man systemisch als Spatial Synchronisation also räumliche Synchronisation bezeichnet. Sie sind Hinweise auf mögliches bevorstehendes Systemversagen.

»Agents within briefly behave in lockstep just before being thrown into chaos«, Andrew Zolli, Resilience, Why things bounce back

»Another related early signaling behavior is an increase in “spatial resonance”: Pulses occurring in neighboring parts of the web become synchronized. Nearby brain cells fire in unison minutes to hours prior to an epileptic seizure, for example, and global financial markets pulse together.«, George Sugihara

Jetzt kann man argumentieren, dass in einer solchen Krise eine propagandistische Gleichschaltung (mit diametralen Narrativen auf beiden Seiten) notwendig ist, um die jeweiligen Massen hinter die eigene — jeweils als gut verstandene — Sache zu versammeln. Egal ob in Krieg oder Pandemie. Mit Wahrheit und Moderne hat dies wenig zu tun. Langfristig beschädigt das das Vertrauen in Demokratie, Institutionen und Medien. 

Wie auch nach früheren Kriegen werden die nächsten Jahrzehnte nicht nur damit verbracht werden, die physischen, psychischen und ökonomischen Schäden der Betroffenen zu heilen, sondern auch die völlig verdrehten Narrative wieder geradezurücken. In Österreich hat dies nach Ende des zweiten Weltkrieges (1945) bis in die 1990er Jahre gedauert; also fast ein halbes Jahrhundert.

In der Ukraine-Krise sehen wir, scheint mir, ähnliche Mechanismen wie beim Versagen in der Covid-Pandemie. In beiden Fällen waren die Warnungen lange vor dem Ereignis hinreichend vorhanden. Vor einer (tatsächlich schlimmeren) Pandemie haben Experten über Jahrzehnte gewarnt. Die Tatsache, dass große Teile Europas von Russlands Energie-Importen abhängig sind, ist einfache Statistik. Auch die geopolitischen Warnungen vor einem Konflikt gehen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurück. 

Besonders in Deutschland will man in der politischen Spitze das Offensichtliche aber immer noch nicht wahrhaben: die »Energiewende« ist nun im wahrsten Sinne des Wortes mit Bomben und Granaten gescheitert und dasselbe trifft auf die militärische Kompetenz Deutschlands und Europas zu. Mit der Ukraine-Krise lässt sich das nun nicht mehr unter den Teppich kehren. 

»A ruthless dictator like Putin knows a bunch of “useful idiots” when he sees them.«

»By the time China, India, and other developing countries feel able to embrace lower emissions by turning to nuclear power, the self-driven de-industrialization of the West will likely be all but complete, with even once-great industrial powers permanently ensnared in China’s notoriously high-carbon supply chains.«, Joel Kotkin, The New Great Game

Auf Mangel an mittel- und langfristigem (strategischen) Denken und Vorbereitung wird mit Hyperaktivität in der Krise reagiert

Ein psychologisches Phänomen, das man bei Schachspielern (vor allem bei Amateuren)  beobachten kann ist folgendes: ein Spieler macht einen (vermeintlich) schlechten Zug und wird von der Antwort des Gegners überrascht. In Panik versucht er nun den Fehler durch schnelles Handeln, sprich: schnelle nächste Züge zu korrigieren — so als könne der Mangel an vorherigem Denken durch schnelle physische Aktion kompensiert werden. 

Das genaue Gegenteil ist der Fall. Diese schnelle Reaktion auf die Überraschung ist es, die oft zur Niederlage führt. Aus Scham vor dem Fehler, will man Aktivität, Handlungsfähigkeit demonstrieren, will zeigen, dass man das Ruder in der Hand hält. Der erfahrene Schachspieler hingegen wird gerade in einer Situation, wo er vom Gegner am falschen Fuß erwischt wurde, wo er möglicherweise  einen Fehler gemacht hat, nachdenken, sich Zeit nehmen. Und immer wieder stellt sich heraus, dass der Angriff des Gegners doch nicht so gut war, wie auf den ersten Blick befürchtet.

Ganz ähnliches sehen wir aktuell in Europa: der totalen Mangel an Vorbereitung und strategischem Denkens wird mit Hyperaktivität kompensiert: wir haben unsere militärische Kapazität (jedenfalls in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt) vernachlässigt, in der Energiepolitik in einem erschreckenden Ausmaß versagt und sind auf keine erwartbare Krise, wie die Covid-Pandemie vorbereitet.

Eine Energieversorgung, um bei diesem Beispiel zu bleiben, die sowohl hinreichend ökologisch, gleichzeitig aber auch versorgungssicher und unabhängig von instabilen politischen Partnern und Regionen ist, ist alles andere als einfach. Das Märchen der Erneuerbaren als Lösung ist in Deutschland und Österreich schon vor Jahren geplatzt, nur wollte es niemand sehen. Mit immer mehr Kraft weiter auf dem falschen Weg. Dabei das russische Gas zu ignorieren war und ist einfacher als den Tatsachen des ideologischen Scheiterns ins Auge zu sehen. 

Jetzt in der Krise zu glauben, man könne diese Fehler in kurzer Zeit beheben, scheint der klassische Fehler des Amateur-Schachspielers zu sein. 

Vernetzung und Stabilität

»Vernetzung ist nicht gleich Beziehung«, Byung Chul-Han, Undinge 

In den letzten Jahrzehnten sind viele, auch ich, dem Irrtum verfallen, dass immer stärkere wirtschaftliche Vernetzung letztlich ein Garant für Frieden wäre. Das war vermutlich eine der wenigen ethischen Ansprüche an die immer stärker forcierte wirtschaftliche Globalisierung und Liberalisierung. Die These war: wenn Nationen wie die USA, EU, China, und wohl auch Russland immer stärken wirtschaftlich voneinander abhängig werden, so wird der Schaden im Falle kriegerischer Auseinandersetzung für jede Seite so groß, dass dies praktisch Frieden garantiert. Dies ist im Grunde eine ähnliche Idee, wie die Abschreckungswirkung von Atomwaffen.

Diese These hat aber, wie sich herausstellt, mindestens drei Probleme: 

  1. Sie geht von rationalen Akteuren aus. 
  2. Aus Risikosicht bedeutet diese Vorgehensweise, dass kleinere, regelmäßige Risiken durch einzelne massive, wenn sie eintreten, existentielle Risiken ersetzt werden. Ein Groß-Konflikt mit China würde die globale Wirtschaft verheerend treffen.
  3. Durch Vernetzung kommt es zu Kompetenz-Verlust. Die Tatsache, dass China die »Werkbank« der Welt geworden ist führt dazu, dass »der Westen« nicht mehr in der Lage ist wesentliche industrielle Güter zu fertigen, manchmal sogar triviale wie medizinische Masken, sowie verlernt hat größere industrielle Projekte, die in den 1960er Jahren noch Standard waren, erfolgreich umzusetzen. Die bequeme und vergleichsweise billige Abhängigkeit von russischer Energie und Rohstoffen hat unsere Fähigkeit eine autarke und realistische eigene Energieversorgung aufzustellen, beschädigt. 

Die richtige Balance zwischen totaler Globalisierung (»The World is Flat«) und nationalistischem Bunkern (»Make America Great Again«) ist äußerst schwierig zu finden. In den letzten Jahrzehnten sind wir dabei wohl gescheitert. 

»Allerdings entstehen überall dort, wo Grenzen verschwinden, neue, andere Grenzen. Auch wenn die neuen Herrschaftsformen der Ökonomie keine nationalen Grenzen kennen, bedeutet dies nicht, dass sie grenzenlos wären.«, Konrad Paul Liessmann, Lob der Grenze

Hysterischer Hyper-Fokus auf einzelne Probleme

Wie Douglas Murray zynisch aber richtig beobachtet: 

»Well, at least Covid is over […] The ‘climate emergency’ likewise seems to have drifted away.«

Nur langsam wird es Teile der Elite klar, dass ein Atomkrieg mit Sicherheit schlimmere Folgen haben würde als der Klimawandel und dass ein Versagen der Energieversorgung oder fahrlässige geopolitische Abhängigkeiten mindestens ebenso verheerende Effekte zeigen können. Viele Menschen und Medien haben mittlerweile genug von Covid, daher ist die Berichterstattung in die Fußnoten gerutscht. 

Wir scheinen kaum in der Lage zu sein mehrere Probleme gleichzeitig zu beachten, aber das Überleben der Menschheit hängt davon ab, wie gut wir mit vielen Bällen jonglieren können. Covid ist wohl tatsächlich bis auf weiteres vorbei, aber die nächste Pandemie (natürlichen Ursprungs oder durch synthetische Biologie aus dem Labor eines Verrrückten, Terroristen, Ideologien oder Diktator) wird kommen. 

Um ein konkretes Beispiel zu nennen: USAID startet gerade ein neues Programm mit dem Namen »Deep VZN«, das zum Ziel hat, neue Viren zu identifizieren, die Pandemien auslösen könnten und deren Genome im Internet zu publizieren. 

What could possibly go wrong? 

Wie lange wird es dauern, bis einer der 10.000den Experten, die aktuell dazu in der Lage sind, einen oder mehrere dieser Viren synthetisiert und gewollt oder ungewollt eine neue Pandemie herbeiführt? In wenigen Jahren wird wohl jeder begabte Biologie-Student solche Viren in der Garage synthetisieren können. Wenn das keine vorhersehbare Bedrohung ist, dann weiß ich nicht weiter.

Ich hoffe daher, dass in allen Ländern der Welt, auch in Österreich und Deutschland, gerade zehntausende Experten daran arbeiten, aus dem Totalversagen der globalen Covid-Reaktion zu lernen und internationale Früherkennungs-Systeme und Reaktionsmechanismen zu etablieren, die einerseits in der Lage sind mit diesen Bedrohungen umzugehen und andererseits nicht zu einem neuen Totalitarismus führen.

Vergessen wir dabei auch nicht auf den Klimawandel, die Energieversorgung, das Pyramidenspiel-Finanzsystem, die Bedrohung durch Kernwaffen, und die außer Kontrolle geratene IKT?  Viele Bälle müssen gleichzeitig in der Luft gehalten werden. Das hysterische hin- und her-Springen zwischen Themen, jedesmal mit großem kurzfristigem Enthusiasmus aber wenig Klugheit und Ausdauer hilft nicht weiter. Vor allem auch deshalb nicht, weil all diese Probleme am Ende miteinander verbunden sind und nicht isoliert gedacht werden sollten. Dafür braucht es eher gebildete Generalisten als ausgebildete Experten, die alle Details eines spezifischen Problems durchdringen, aber keinerlei Überblick und Weitblick haben.

Die »Krise« wird kein Ende nehmen, sie hat nie geendet. Krise war immer. Immer eine andere. Es gibt also keine bessere Zeit als jetzt, sich diesen Themen zu widmen.

‘Human life has always been lived on the edge of a precipice… If men had postponed the search for knowledge and beauty until they were secure, the search would never have begun.’ Life, in other words, has never been ‘normal’, and even those periods of history that we imagine to have been so show themselves, on closer inspection, to have been full of alarms of their own. ‘Plausible reasons have never been lacking for putting off all merely cultural activities until some imminent danger has been averted or some crying injustice put right,’ C. S. Lewis

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Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)