Was sind die verbindenden Elemente einer Gesellschaft beziehungsweise eines Staates? Das politische und wirtschaftliche System? Die Religion? Die Geschichte? Das Bildungssystem? Nationalsportarten? Kunst und Kultur?
All diese Elemente und andere, die ich vergessen habe, könnten mit Recht genannt werden. Auf einen fundamentalen Aspekt wird gerne vergessen: Gesellschaften leben von Narrativen. Narrative prägen unsere Gesellschaft(en); es sind Erzählungen, Motive, »Glaubenssätze«, gesellschaftliche Dogmen. Sie sind subtil (in keinem Lehrbuch niedergeschrieben) aber erstaunlich einflussreich und hartnäckig. Sie begegnen uns in der Erziehung, in Filmen, im Fernsehen, in Romanen und Videospielen. Wer gegen ein einmal etabliertes Narrativ handelt, wird zum Außenseiter. Sie strukturieren Gemeinschaften indirekt aber äußerst effizient.
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Sie sind natürlich mit der Geschichte des Landes, Religion, Kultur, Sport usw. verbunden, liegen aber tiefer beziehungsweise »modulieren« diese. Diese Narrative sind auch der Grund, warum selbst dogmatische Einstellungen wie Religionen in unterschiedlichen Ländern völlig anders ausgeprägt sind. Vergleichen wir den »bierernsten« Katholizismus in Polen mit der Show-Religiosität der USA. In beiden Nationen würden sich sehr viele Menschen als »religiös« und vermutlich auch als »christlich« bezeichnen. Gesellschaftlichen Narrativen gelingt es sogar die Dogmen von Religionen um grundlegend zu beeinflussen. Wie sonst könnte es sein, dass Christen einmal für Solidarität und an anderer Stelle für Neoliberalismus stehen. Wie kann es sein, dass im Mittelalter das katholische Europa wissenschaftsfeindlich und intolerant war, während zur gleichen Zeit der Islam Wissenschaft und Erkenntnis vergleichsweise offen aufnahm und anderen Religionen gegenüber wesentlich toleranter war. Heute hat sich dieses Bild wieder um 180 Grad gedreht.
Zu den bestimmenden Narrativen des 20. und (noch) des 21. Jahrhunderts zählt der Glaube an stetigen Fortschritt (in der Regel ohne genauere Definition, was darunter zu verstehen ist) und stetigem Wachstum mit dem tief verwurzelten Bild, dass es die Zukunft besser sein wird als heute. Auch hier wird nicht hinterfragt was »besser« konkret bedeutet (beispielsweise in Hinsicht auf Lebensqualität), sondern in der Regel einfach mit einem »mehr« an materiellen Gütern gleichgesetzt. Ebenso passt es nicht in das Narrativ unserer Gesellschaft, dass Wachstum auf einem begrenzten Raum mit begrenzten Ressourcen zwangsläufig zu einem Ende kommen muss. Wir bleiben lieber bei Wunschvorstellungen. Zu diesen zählt auch die Vorstellung »Wer sich anstrengt und begabt ist, wird auch Erfolg haben.«. Dies trifft längst nicht mehr zu (falls es denn jemals zugetroffen haben sollte). Die Faktoren »Herkunft« und »Glück« werden von den meisten Menschen dramatisch unterschätzt.
Auch Begriffe wie »Marktwirtschaft« beziehungsweise »freier Markt« (in neoliberaler Ausprägung), »Freiheit«, »Demokratie«, »Gleichheit«, »Fairness« sind tief verinnerlichte Schlagworte. Auch hier gilt, dass die meisten Menschen nie einen tieferen Gedanken verschwendet haben, was diese Begriffe konkret bedeuten und wie weit sie überhaupt noch in der gesellschaftlichen Realität verankert sind.
Derartige Narrativ unserer (westlichen) Gesellschaft sind vor einigen Jahrzehnten noch als (politisch/gesellschaftliche) Vision durchgegangen. Mein Eindruck ist aber, dass sie mittlerweile zu einem Slogan verkommen sind. Zu Plattitüden, die gerade noch gut genug sind um den Eindruck einer Gemeinsamkeit in unserer Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Daher werden die Geschichten von »Wachstum«, »Chancengleichheit«, »freier Markt« auch so gebetsmühlenartig von der Politik als Tatsachen beziehungsweise als alternativlose Wege dargestellt. Ein Glaubensbekenntnis unserer Zivilisation. Selektive Wahrnehmung von Ereignissen weniger Jahrzehnte, oft von Ideologien geprägt, bestimmen häufig die Geschichten unserer Gesellschaft(en). Geradezu trotzig beharrt man darauf. Denn selbst wenn sie ihre Gültigkeit längst verloren haben, bleiben sie hilfreich um etablierte Strukturen zu rechtfertigen. Wer würde sich auflehnen, wenn er erfolglos ist – immerhin ist er ja selbst Schuld daran.
»Wer in der neoliberalen Leistungsgesellschaft scheitert, macht sich selbst dafür verantwortlich und schämt sich, statt die Gesellschaft oder das System in Frage zu stellen. […] Im neoliberalen Regime der Selbstausbeutung richtet man die Aggression vielmehr gegen sich selbst. Diese Autoaggressivität macht den Ausgebeuteten nicht zum Revolutionär, sondern zum Depressiven.«, Byung-Chul Han, Psychopolitik
Zu den verbreiteten und sehr fundamentalen Narrativen zählt auch folgendes: »Die Menschheit hatte immer Probleme zu bewältigen. Die heutigen Probleme sind da nicht anders. Wir werden die Bedrohungen der Gesellschaft daher auch in Zukunft lösen.« Dies ist eine gängige Antwort, die man selbst von sehr gebildeten Menschen erhält, wenn man auf die gravierenden und globalen Probleme der Zeit hinweist. Eigentlich ist es offensichtlich, dass es sich dabei um kein Argument handelt, sondern um ein Abwiegeln, ein Ablenkungsmanöver; hilfreich um sich ein einigermassen gutes Gewissen einzureden und die Problemen beiseite zu schieben: »Bisher haben wir alles überlebt, so werden die kommenden Probleme schon von irgendjemandem irgendwann gelöst werden.« Daraus schliessen wir sehr schnell: »Folglich habe ich jetzt keine konkrete Verantwortung etwas zu unternehmen.«
Leider ignoriert diese Haltung zweierlei Aspekte: einerseits gab es in der Geschichte der Menschheit zahlreiche (selbst-herbeigeführte) Katastrophen, die dutzenden Millionen Menschen das Leben gekostet haben, wie die beiden Weltkriege oder Maos »Großer Sprung vorwärts« in China, um nur zwei Beispiele zu nennen. Hier ist schwer zu argumentieren, dass wir als Menschheit irgendetwas rechtzeitig gelöst hätten – es waren unfassbare Katastrophen für die Betroffenen. Man könnte bestenfalls metaphorisch von einer »Lösung« sprechen, in dem Sinne, dass es Überlebende gab, die es danach (etwas) besser gemacht haben. Auch die atomare Aufrüstung hat immer noch das Potential die Menschheit zu vernichten. Nur weil wir die Raketen bisher nicht abgefeuert haben, ist dieses Problem nicht aus der Welt.
Noch wesentlicher ist der zweite Aspekt: die Annahme, dass wir in Zukunft im schlimmsten Fall mit einem blauen Auge wegkommen werden, nur weil wir in der Vergangenheit in der Lage waren Probleme (anderer Art) zu lösen, ignoriert die Tatsache, dass wir heute in einer völlig anderen Welt leben. In einer Welt, die abhängig von Technologie, Energie, Ressourcen, industriell produzierter Nahrungsmittel ist; einer Welt, die vermutlich noch auf knapp zehn Milliarden Menschen anwachsen wird. Wir leben auch in einer Welt wo weder Wirtschaft noch die großen Konflikte und Probleme auf Regionen beschränkt sind. Der Klimawandel wird jede Nation hart treffen, ebenso die Ressourcenkonflikte. Politische Auseinandersetzungen, Kriege oder Pandämien lassen sich immer weniger lokal begrenzen. Fast alles ist mit allem systemisch verbunden: Klimawandel, landwirtschaftliche Produktion, natürliche Ressourcen und Trinkwasser, Nahrungsmittel und Logistik für Städte, Informations- und Kommunikationstechnologie als Nervensystem unserer Wirtschaft, des Finanzsystems und der Gesellschaft, Krieg mit Dronen und in den Informationssystemen, Finanzierung von Ausbildung, Wissenschaft und Technologie, Bevölkerungswachstum und Wirtschaftswachstum – einige Schlagworte – nichts ist alleine, isoliert denkbar sondern beeinflusst einander in komplexer Weise und ist in komplexer Weise voneinander abhängig. Die Idee, dass wir als lebenswerte Gesellschaft das 21. Jahrhundert beenden werden ohne diese Probleme rechtzeitig und systemisch anzugehen, erscheint mir naiv zu sein.
Wir leben nicht mehr in Dörfern, wo die Abhängigkeit des eigenen Lebens sich im wesentlichen auf die eigene Familie und auf die (kleine) Dorfgemeinschaft erstreckt. Unser Dorf umfasst bald zehn Milliarden Menschen. Sehr passend ist in diesem Zusammenhag ein Zitat aus dem »Dark Mountain Manifesto«:
»Things may be changing, runs the narrative, but there is nothing we cannot deal with here, folks. We perhaps need to move faster, more urgently. Certainly we need to accelerate the pace of research and development. We accept that we must become more ‘sustainable’. But everything will be fine. There will still be growth, there will still be progress: these things will continue, because they have to continue, so they cannot do anything but continue. There is nothing to see here. Everything will be fine.«
[…]
»Yet for all this, our world is still shaped by stories. Through television, film, novels and video games, we may be more thoroughly bombarded with narrative material than any people that ever lived. What is peculiar, however, is the carelessness with which these stories are channelled at us — as entertainment, a distraction from daily life, something to hold our attention to the other side of the ad break. There is little sense that these things make up the equipment by which we navigate reality. On the other hand, there are the serious stories told by economists, politicians, geneticists and corporate leaders. These are not presented as stories at all, but as direct accounts of how the world is.«
Unsere Kinder sollten mit neuen Narrativen aufwachsen, mit Narrativen, die größere Ernsthaftigkeit an den Tag legen. Viele Menschen glauben immer noch – entgegen jeder Vernunft – dass es im wesentlichen so weitergehen wird wie bisher; ohne (allzu) große Anstrengungen und Veränderungen. Unsere Kinder werden es im wesentlichen so gut haben wie wir. So der Glaubenssatz. Tatsächlich könnten die heutigen Kinder die erste Generation seit dem Zweiten Weltkrieg sein, der es (wesentlich) schlechter gehen wird als ihren Eltern. Unsere Narrative schließen die Möglichkeit radikaler Umbrüche aus; die beschwichtigen uns, lullen uns ein, bis es zu spät sein wird zu handeln.
»Je größer die Macht ist, desto stiller wirkt sie.«, Byung-Chul Han
1 Kommentar:
Interessant sind auch die Fragen : Wo kommen die Narrative her? Wie setzen sie sich fest? Wie verbreiten sie sich? Wodurch verschwinden sie wieder?
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