Freitag, 7. Dezember 2012

Nobelpreis(träger) auf Abwegen?

Frauen im Schatten des Nobelpreises

Der Nobelpreis für die Strukturaufklärung der DNS wird im Jahr 1962 an James Watson, Francis Crick und Maurice Wilkins verliehen. Rosalind Franklin, die wesentliche Beiträge zu dieser Erkenntnis geleistet hatte, stirbt aber bereits 1958 im Alter von nur 37 Jahren. Sie erlebt die Verleihung dieses Nobelpreises nicht mehr. Viele Wissenschafter sind der Ansicht, dass ihre Leistung nicht angemessen gewürdigt wurde. 50 Jahre nach der Verleihung sind die Nobel-Archive dieser Zeit geöffnet, und so wissen wir heute, dass Franklin auch nie für den Nobelpreis nominiert war. Sie ist damit nicht die einzige, die trotz vergleichbarer Leistung keinen Nobelpreis erhalten hat. Neben Franklin werden auch Wissenschafterinnen wie Lise Meitner oder Jocelyn Bell genannt.

Besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts standen viele begabte Wissenschafterinnen im Schatten männlicher Kollegen. Bei Lise Meitner war dieser "männliche Schatten" Otto Hahn. 1944 wurde ihm der Nobelpreis in Chemie für die "Entdeckung der Atomspaltung schwerer Kerne" verliehen. Ohne Zweifel hat Hahn diesen Preis verdient — aber mit derselben Berechtigung wäre er auch Lise Meitner zugestanden. Diese Entscheidung war umso unverständlicher, als Hahn als Einzelner den Preis erhalten hatte, während sich in den meisten anderen Jahren zwei oder drei Wissenschafter den Preis teilten. Es wäre also ohne weiteres "Platz" für Lise Meitner gewesen.

An sich ist es nicht überraschend, dass bei Preisverleihungen Fehler gemacht werden, und so ist die Liste herausragender Wissenschafter, die keinen Nobelpreis erhalten haben lang. Man könnte neben Rosalind Franklin, Lise Meitner und Jocelyn Bell auch Wissenschafter wie Edwin Hubble, Dmitri Mendelejew, Nikola Tesla oder Oswald Avery nennen. Nicht zuletzt werden nicht nur einzelne Personen ausgeschlossen, sondern man darf auch nicht vergessen, dass der Nobelpreis nur in den Fächern Physik, Chemie, Physiologie/Medizin und Wirtschaft verliehen wird. (Der Literatur und Friedenspreis sind aus anderen Gründen umstritten, und sollen hier keine Erwähnung finden, da hier nur Wissenschaften thematisiert werden soll. Ob Wirtschaftswissenschaften die gleiche Anerkennung erfahren sollten wie die genannten Naturwissenschaften wäre auch eine interessante Frage — besonders wenn man an das monumentale Versagen "großer" Wirtschaftstheorien denkt.) Damit bleiben alle anderen nicht genannten Wissenschaftszweige (etwa alle Geisteswissenschaften) unerwähnt.

Aber auch der gegenteilige Fall ist nicht selten zu beobachten: So mancher Nobelpreisträger macht dem Preis keine Ehre und richtet unter Umständen durch seine Aussagen einigen Schaden an (wir kommen noch auf Beispiele zurück).

Der Nobelpreis in der öffentlichen Wahrnehmung

All dies wäre kaum der Rede wert, hätte der Nobelpreis und seine Preisträger nicht eine solche Öffentlichkeitswirksamkeit. Der Nobelpreis ist vermutlich der einzige Wissenschaftspreis, der in der allgemeinen Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Die jährliche Verlautbarung der Preisträger ist ein (gut inszeniertes) internationales Medienereignis. Die Preisträger genießen eine Öffentlichkeit, wie sie Wissenschaftern sonst eher fremd ist. Die Rolle des Nobelpreises und dessen Preisträger in der öffentlichen Wahrnehmung ist daher durchaus Wert hinterfragt zu werden.

Diese öffentliche Wahrnehmung hat durchaus positive Seiten: wenigstens einmal im Jahr macht Wissenschaft auch in den "normalen" Medien Schlagzeilen und nicht nur in Fachmagazinen. Wissenschaft (und hier noch dazu Grundlagenforschung) wird dargestellt und diskutiert. Nobelpreisträger haben so heute eine Aura vergleichbar der romantischen Vorstellung alter weiser Männer der Antike. Die Preisträger werden — der modernen Medienlogik folgend — oft als Autoritäten dargestellt, deren Aussagen zu fast allen Themen Relevanz hätten.

Nicht nur zeigt die Praxis, dass so manchem diese Schuhe viel zu groß sind, es wird auch in der Öffentlichkeit gerade der falsche Schluss gezogen: Wir lernen nicht, dass Wissenschaft eine harte Auseinandersetzung ist, wo Argumente gegeneinander antreten; wo nicht derjenige Recht hat, der älter ist oder in höherer Position steht, sondern derjenige, dessen Thesen besser sind und dessen Argumente die harte Prüfung der anderen Kollegen bestehen. So haben sich auch Watson und Crick (als "Underdogs") mit ihrem Modell gegen den wesentlich bekannteren Linus Pauling durchgesetzt. Autorität spielt in der Wissenschaft keine Rolle. (Oder sollte jedenfalls keine Rolle spielen. Natürlich gibt es immer wieder "Ausrutscher", aber diese werden mit der Zeit korrigiert). Die Art und Weise, wie Nobelpreisträger dargestellt werden — als Autoritäten und Genies auf einem Podest — führt zu einer  verzerrten Darstellung, was Wissenschaft bedeutet.

Nobelpreisträger auf Abwegen

Man braucht nicht sehr lange zu suchen, um eine Vielzahl an Nobelpreisträgern zu finden, die vielleicht in ihrem sehr engen Fachbereich nennenswerte Leistungen erbracht haben, ansonsten aber menschlich oder fachlich alles andere als vorzeigbar sind.

Denken wir beispielsweise an Johannes Stark (Physik, 1919) und Philipp Lenard (Physik, 1905), die gegen Einsteins und Heisenbergs angeblich "jüdische Physik" agitiert haben. Fritz Haber (Chemie, 1918) gilt als Vater des Einsatz von Giftgas (Phosgen, Chlor) im ersten Weltkrieg. Dies hatte für ihn auch persönlich tragische Folgen. Seine Frau versuchte vergeblich ihn umzustimmen und beginn schliesslich mit seiner Dienstwaffe Selbstmord.

James Watson ist nicht nur für seine umstrittenen Aussagen zu Rosalind Franklin bekannt, sondern musste 2007 sogar als Vorsitzender des Cold Spring Labors zurücktreten. Er wurde zuvor in den Medien mit der Aussagen zitiert, er sähe keine gute Zukunft für Afrika, denn alle unsere sozialen Aktivitäten gingen davon aus, dass deren Intelligenz der unseren entspricht – wenn Tests dem aber widersprechen. (In späteren Interviews gibt er an, sich an diese Aussagen nicht mehr erinnern zu können.)

Bei anderen wieder scheint der Nobelpreis zu einem Endpunkt der (ernsthaften) wissenschaftlichen Karriere zu werden. Linus Pauling (Chemie, 1954; Frieden, 1962), einer der bedeutendsten Chemiker des 20. Jahrhunderts, verirrt sich in späten Jahren in fragwürdige Thesen über medizinische Effekte von hohen Dosen an Vitamin C. Luc Montagnier (Medizin, 2008), einer der Entdecker des AIDS-Virus fällt in den letzten Jahren unter anderem durch Publikationen mangelnder Ernsthaftigkeit auf. So versucht er in einem Artikel die Wirksamkeit der Homöopathie darzustellen. Die dem Artikel zugrundeliegenden Experimente sind aber von so fragwürdiger Qualität, dass Montagnier von seinen Fachkollegen kaum mehr ernst genommen wird.

Brian Josephson (Physik, 1973) schwadroniert über Telepathie und William Shockley (Physik, 1956), der Erfinder des Transistors, macht durch Aussagen zur Eugenik wenig schmeichelhaft auf sich aufmerksam.

Kary Mullis (Chemie, 1993) ist ein besonders "bemerkenswerter" Fall. Er ist der Erfinder der Polymerase-Kettenreaktion, einer der wichtigsten methodischen Grundlagen moderner genetischer Forschung. In den letzten Jahren erklärt er, dass er an Astrologie glaube, aber AIDS und HIV nichts miteinander zu tun hätten. Auch den Klimawandel hält er für einen Irrtum:
"And these include the belief that AIDS is caused by human immunodeficiency virus, the belief that fossil fuel emissions are causing global warming, and the belief that the release of chlorofluorocarbons into the atmosphere has created a hole in the ozone layer.", Kary Mullis, Dancing Naked in the Mind Field, Vintage; Reprint edition (January 4, 2000)
Es wäre für alle Beteiligten besser gewesen, Mullis wäre schweigsam (meinetwegen auch nackt) durch  die Felder getanzt.

Jenseits der Autoritäten?

Es ist bedauerlich, wenn ein Wissenschafter seine intellektuelle Schärfe verliert. Noch schlimmer aber ist es, wenn wir derartige Aussagen nicht hinreichend hinterfragen, nur weil sie von einem Nobelpreisträgern (oder einer anderen Autoritäten) stammen. Das Leugnen von AIDS durch den früheren südafrikanischen Präsidenten Mbeki hat nach einer Harvard Studie mehr als 300.000 Menschen das Leben gekostet und die AIDS Infektion von 35.000 Babies hätte vermieden werden können.

Soviel zur Harmlosigkeit verirrter Aussagen.

Wir verleihen Preise, um vergangene Leistungen von Wissenschaftern zu würdigen. Daran ist nichts auszusetzen. Aus der Leistung in der Vergangenheit darf aber nicht notwendigerweise auf besondere Kompetenzen in der Zukunft oder in anderen Themenbereichen geschlossen werden. Gerade in der Wissenschaft ist Erfolg sehr häufig mit starker Fokussierung auf einen sehr engen Fachbereich verbunden. Es gibt erfolgreiche Wissenschafter mit großer Allgemeinbildung, kulturellen Interessen und sportlichen Aktivitäten, aber auch solche, die sich über Jahre und Jahrzehnte geradezu autistisch auf ein Thema konzentriert haben und über einen entsprechend eingeschränkten Horizont verfügen. Auch derartige Persönlichkeiten erhalten (zu Recht) Nobelpreise, sollten aber besser nicht in Fragen jenseits ihrer Kern-Expertise ernst genommen werden.

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Sonntag, 25. November 2012

James Watson – "Die Doppelhelix"

Im Jahr 1968 veröffentlicht James Watson sein Buch, "Die Doppelhelix". Er beschränkt sich in diesem Buch nicht auf die Beschreibung der wissenschaftlichen Fakten, die zur Entdeckung der DNS geführt haben, sondern – und das machte das Buch so populär – er beschreibt auch die Arbeit der beteiligten Wissenschafter in sehr lebendiger Weise. Viele seiner Zeitgenossen vertraten die Ansicht, dass die Darstellung nicht nur lebendig, sondern an einigen Stellen grob verzerrend sei. Wäre es nach Francis Crick gegangen, so hätte er sich nur auf die Beschreibung der wissenschaftlichen Seite beschränken sollen. Das Buch wäre mit Sicherheit nicht so kontroversiell ausgefallen, aber ein Bestseller wäre es auch nicht geworden. Was ist von dem Buch zu halten? Gehen wir zurück ins Jahr 1966:

Der zunächst kontaktierte Verleger Harvard University Press ist offenbar verunsichert über Watsons Darstellungen einiger Personen und sendet das Manuskript an Kollegen Watsons, unter anderem an Max Perutz, Francis Crick und Maurice Wilkins. Max Perutz ist nicht prinzipiell gegen die Veröffentlichung, verwehrt sich aber gegen die Darstellung von Rosalind Franklin und Lawrence Bragg. Francis Crick und Maurice Wilkins hingegen kritisieren dem Verlag gegenüber das Manuskript mit deutlichen Worten und empfehlen Harvard University Press dieses Buch nicht zu veröffentlichen.

Watson hat allerdings (als Nobelpreisträger) kein Problem einen anderen Verleger zu finden. "Die Doppelhelix" wird ein sehr großer Erfolg. Dies ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass sich Wissenschafts-Bücher, die eine recht komplexe Materie behandeln, in der Regel nicht sehr gut verkaufen. Was steckt nun hinter der Kritik an Watsons Buch? Gerade Wissenschafter neigen fallweise dazu, Sachverhalte in allen Details und möglichst präzise darlegen zu wollen, was der Popularisierung komplexer Themen nicht dient. Vereinfacht der Autor und schlägt eine lockere Sprache ein, ist das Ergebnis manchen Kollegen zu "unernst". War die Kritik der Kollegen also übertrieben? Waren sie einfach nur zu humorlos?

"Rechthaberische Narren"

Watson versucht das Zusammenspiel der Persönlichkeiten, die Konflikte, Freundschaften und auch "Mauscheleien" auf humorvolle Weise darzustellen. Dies ist dem Buch grundsätzlich zu Gute zu halten, denn es gelingt auch nicht-Wissenschafter für diese komplexe Materie zu interessieren. Zwischen humorvoller Betrachtung in flapsigem Stil und überheblicher Aburteilung anderer ist aber nur ein schmaler Grat und Watson gelingt dieser Balanceakt nicht immer. Die Überhöhung führt auch dazu, dass wichtige wissenschaftliche Prinzipien verzerrt dargestellt werden. Watson schreibt beispielsweise über die Rolle der DNS als Träger der genetischen Information:
"Natürlich gab es auch Wissenschafter, die das Beweismaterial, das für die DNS sprach, nicht für schlüssig hielten und lieber glaubten, die Gene seien Proteinmoleküle. Francis [Crick] kümmerte sich jedoch nicht weiter um diese Skeptiker. Viele von ihnen waren rechthaberische Narren, die mit unfehlbarer Sicherheit stets auf das falsche Pferd setzten. Überhaupt konnte man nicht erfolgreich Wissenschaft treiben, ohne sich darüber klar zu sein, daß die Wissenschaftler […] zu einem beträchtlichen Teil nicht nur engstirnig und langweilig, sondern auch einfach dumm sind."
Zugegeben, viele Menschen sind dumm, und auch unter Wissenschaftern findet man nicht nur Anwärter auf den Nobelpreis. Dennoch bin ich verlockt hier anzumerken, dass es im Nachhinein leicht ist, gescheit zu reden. Es stimmt, heute wissen wir, dass der Ansatz von Watson und Crick richtig war. Ende der 1940er Jahre und bis Mitte der 1950er Jahre war dies nicht so eindeutig. Es gab meines Wissens nach noch vergleichsweise wenig stichhaltige Daten, und beide Möglichkeiten waren noch im Spiel. Überhaupt gibt es in der Wissenschaft eigentlich nie "Beweise" sondern nur "Hinweise". (Es könnte sich hier allerdings auch um eine problematische Übersetzung in der deutschen Version handeln.) Beweise (proof) gibt es nur in der Mathematik. In den Naturwissenschaften und der Medizin spricht man von "evidence". Dieses Wort lässt sich leider nur schwer ins Deutsche übersetzen. Im Wörterbuches liest man "Hinweis", "Anzeichen", "Beleg" aber auch "Beweis". Die ersten Begriffe sind im deutschen zu schwach, "Beweis" ist hingegen zu stark.

Bleiben wir aber noch beim Zitat: In der Geschichte der Wissenschaft kommt es regelmässig vor, dass (junge) Wissenschafter neue Ideen haben, neue Theorien vorschlagen, oder Beobachtungen machen, die sie selbst für bahnbrechend halten. Eben diese Wissenschafter halten dann häufig auch ihre Kollegen für verbohrt, weil diese nicht die gleiche Begeisterung für ihre neuen Ideen aufbringen, sondern diese kritisch hinterfragen. Aber gerade dieses kritische Hinterfragen (und das sollte auch Watson wissen) ist der entscheidende Unterschied zwischen Wissenschaft und Esoterik.

Der Wissenschaft wäre in keiner Weise gedient, würde jede neue Idee Begeisterungstürme auslösen. Ganz im Gegenteil: In der Esoterik folgt eine Guru, der behauptet die Erklärung der Welt gefunden zu haben, in Wahrheit aber nichts vernünftiges beigetragen hat, dem nächsten. Die (sehr!) kritische Reflexion neuer Ideen aber ist der Weg, der zu neuem Wissen führt. Denn was "Guru-Watson" verschweigt ist, dass die allermeisten neuen "genialen" Einfälle sich als falsch herausstellen. Sie sind nach kurzer Zeit aus dem wissenschaftlichen Diskurs verschwunden und wieder vergessen. Davon erfährt man natürlich in der Öffentlichkeit wenig. Man liest nur von den wenigen Fällen (wie der DNS, Watson und Crick) wo die "Jungen" in spektakulärer Weise recht hatten. So hat Watson selbst von der mühsamen Prüfung seiner Ideen durch viele andere (langweilige) Wissenschafter profitiert. Einen Nobelpreis für den (von anderen) ungeprüften Vorschlag der DNS-Struktur hätte er mit Sicherheit nicht erhalten.

Rosalind Franklin

Besonders kritisiert wurde Watsons Buch aufgrund der Beschreibung von Rosalind Franklin. Im Buch ist zu lesen:
"Außerdem wurde es immer schwieriger, Maurice [Wilkins] von seiner Assistentin Rosalind Franklin abzulenken. Nicht etwa, daß er in Rosy – wie wir sie aus sicherer Entfernung nannten – verliebt gewesen wäre. Ganz im Gegenteil: fast von dem Augenblick an, wo sie in sein Labor kam, begannen die beiden sich gegenseitig zu ärgern. […] Ich nehme an, daß Maurice anfangs noch die Hoffnung hatte, Rosy werde sich beruhigen. Doch brauchte man sie nur anzusehen, um zu wissen, daß sie nicht leicht nachgeben würde. Sie tat ganz bewußt nichts, um ihre weiblichen Eigenschaften zu unterstreichen. Trotz ihrer scharfen Züge war sie nicht unattraktiv, und sie wäre sogar hinreißend gewesen, hätte sie nur das geringste Interesse für ihre Kleidung gezeigt. […] mit ihren einundreißig Jahren trug sie so phantasielose Kleider wie nur irgendein blaustrümpfiger englischer Teenager."
Hier dürfte die Grenze des guten Geschmackes und auch der humorvollen Betrachtung von Kollegen und Kolleginnen deutlich überschritten sein. Und es geht weiter:
"Eines war klar: Rosy mußte gehen, oder an ihren richtigen Platz verwiesen werden. Ersteres war natürlich vorzuziehen, denn angesicht ihrer kriegerischen Launen würde es für Maurice immer schwieriger werden, seine herrschende Position zu verteidigen, die alleine es ihm gestattete, ungehindert über die DNS nachzudenken."
Es ist ein interessantes Argument, dass Wilkins nicht ungestört nachdenken konnte und Franklin damit die Arbeit an der DNS behinderte hätte; vor allem wenn man bedenkt, dass erst die Röntgen-Aufnahme von Rosalind Franklin Watson und Crick die fehlenden Informationen lieferte, die sie für die Aufklärung der Struktur benötigten. Aber in Watsons Buch ist die Sache klar: Franklin stört, ist zickig und muss daher weg:
"Unglücklicherweise sah Maurice absolut keine Möglichkeit, Rosy auf anständige Weise hinauszuwerfen. Erstens hatte man ihr zu verstehen gegeben, daß sie nun für mehrere Jahre eine feste Stellung habe. Außerdem ließ sich nicht leugnen, daß sie ein kluger Kopf war."
In diesem Kapitel des Buches zeichnet Watson ein Bild von Franklin, das man, so denke ich, als peinlich bezeichnen muss – peinlich für Watson. Es entsteht für den Leser der Eindruck, Franklin wäre ein tollpatschiger Teenager gewesen, der zwar im Prinzip recht gescheit ist, aber doch nur zwischen den Füßen der Erwachsenen herumläuft und alle beim Vorankommen hindert:
"Das alles war höchst verwirrend für Maurice. […] Das Gespann Linus [Pauling] und Francis [Crick], deren Atem er im Nacken spürte, lies ihn nicht in Ruhe schlafen. […] Das eigentliche Problem war und blieb Rosy. So kam er von dem Gedanken nicht los, daß eine Frauenrechtlerin am besten im Labor eines anderen aufgehoben wäre."
Es ist zutreffend, dass es Konflikte zwischen Wilkins und Franklin gab, Konflikte, die an Schärfe zunahmen. Es dürfte ebenfalls zutreffen, dass Franklin ihren Beitrag zur Eskalation geleistet hatte. Dennoch kann man diese Art und Weise über Rosalind Franklin zu schreiben nicht akzeptieren. Selbst wenn es zutreffen sollte, dass Franklin ihre "weiblichen Eigenschaften" nicht unterstreichen wollte, so war dies alleine ihre Entscheidung und ging Watson nichts an. Ausserdem spielen Äußerlichkeiten, "weibliche Eigenschaften" und Kleidung keinerlei ernsthafte Rolle in diesem Konflikt oder in der wissenschaftlichen Arbeit an der DNS. Diese Stelle(n) in Watsons Buch sind paternalistisch, sexistisch und selbst vor dem Hintergrund der 1960er Jahren nicht akzeptabel.

Max Perutz Reaktion

Nach der Veröffentlichung fühlt sich auch Max Perutz unter Druck gesetzt, weil er den MRC-Bericht an Watson und Crick weitergegeben hatte. Diese Episode wird in verschiedenen Artikeln, unter anderem in Scientific American, diskutiert. Perutz fühlt sich verpflichtet seine Handlung zu verteidigen und schreibt Briefe an Science und Scientific American. Er stellt seine Sicht der Dinge klar: einerseits wäre der Bericht nicht vertraulich gewesen, andererseits hätte dieser keine Informationen enthalten, die Watson und Crick nicht ohnedies schon aus Seminaren oder persönlichen Gesprächen gekannt hätten. Er merkt weiters an, dass er zu dem Zeitpunkt noch unerfahren gewesen wäre und Randall hätte um Erlaubnis fragen müssen, betont aber, dass der Bericht nicht als vertraulich gekennzeichnet war. Science veröffentlicht 1969 Briefe von Perutz, Wilkins und Watson.

Watson und Crick haben ihr Modell auf experimentellen Grundlagen anderer aufgebaut. Ob deren Anteil hinreichend gewürdigt wurde, ist bis heute nicht ganz unumstritten.

Watson und Franklin

Es bleibt überraschend, dass trotz dieser Ansichten, die Watson in seinem 1968 erschienenen Buch über Franklin verbreitete, beide doch einen offenbar guten Kontakt miteinander hatten. So ist ein durchaus reger Briefwechsel bekannt, Franklin besucht Watson in den USA und Watson schreibt Franklin sofort einen Brief als er von ihrer Erkrankung erfährt.

Was Watson zu solchen Aussagen verleitet hat, bleibt für viele ein Rätsel. Vielleicht sind ihm, beim Wunsch locker und humorvoll zu schreiben, die Pferde durchgegangen. Bei einem Interview im Jahr 2012 will er von vielen dieser konfliktträchtigen Aussagen (auch seinen späteren als rassistisch interpretierten Zitaten) nichts mehr wissen.

Franklin hat die Veröffentlichung des Buches nicht mehr erlebt. Ihr Bruder aber war schockiert, als er dieses Buch zu Gesicht bekommen hatte.

Im Epilog (zumindest der späteren Auflagen; die Texte stammen aus meiner deutschen Ausgabe aus dem Jahr 1971) entschuldigt sich Watson über die Wortwahl und schreibt:
"1958 starb Rosalind Franklin im Alter von siebenunddreißig Jahren. Da sich meine ersten (in diesem Buch festgehaltenen) Eindrücke von ihr – sowohl in persönlicher als auch in wissenschaftlicher Hinsicht – weitgehend als falsch erwiesen haben, möchte ich hier etwas über ihre wissenschaftlichen Leistungen sagen […] "
In etwa zwei Absätzen würdigt er dann wesentliche wissenschaftliche Arbeiten von Franklin, und schreibt schließlich:
"[…] wir beide [Crick] lernten ihre persönliche Aufrichtigkeit und Großmütigkeit schätzen. Einige Jahre zu spät wurde uns bewußt, was für Kämpfe eine intelligente Frau zu bestehen hat, um von den Wissenschaftlern anerkannt zu werden, die in Frauen oft nur eine Ablenkung vom ernsthaften Denken sehen. Rosalinds Integrität und ihr vorbildlicher Mut wurden allen offenbar, die erlebten, wie sie, obwohl sie wußte, daß sie unheilbar krank war, niemals klagte und bis wenige Wochen vor ihrem Tod ihre Arbeit auf einem hohen Niveau fortsetzte."
Diese Entschuldigung ist anzuerkennen, wenngleich sich die Frage stellt, wann er zu dieser Erkenntnis gelangt ist, denn sein Buch wird ja erst Jahre nach Franklins Tod veröffentlicht. Es wäre wohl besser gewesen, diese Entschuldigung nicht im Epilog zu verstecken, sondern die entsprechenden Passagen im Hauptteil des Buch zu ändern. Denn abgesehen von einigen Passagen, wo es mit Watson durchgeht, ist das Buch selbst nach mehr als 40 Jahren noch frisch und lebendig und spannend zu lesen.

2012 erscheint eine Neuauflage dieses Werkes: The Annotated and Illustrated Double Helix.

Alle wörtlichen Zitate in diesem Artikel stammen aus der deutschen Auflage des Jahres 1971 der "Doppelhelix".

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Weiterführende Literatur

Montag, 19. November 2012

Die Struktur der DNS Teil 2: Das Modell

Francis Crick war sich über die Bedeutung der DNS schon früh im klaren. Zu Beginn der 50er Jahre arbeitete er aber noch an Proteinen und wagte sich noch nicht an die Untersuchung der DNS. Nach James Watsons Einschätzung, war die Arbeit an der DNS in dieser Zeit (in England) das "Privatvergnügen" von Maurice Wilkins am King's College. Dort herrschten aber erhebliche Konflikte zwischen Maurice Wilkins und Rosalind Franklin. Ein Konflikt, der für der Aufklärung der DNS mit Sicherheit nicht hilfreich war.

"Wissenschafts-Clowns" – Die ersten Schritte

Obwohl Crick noch nicht sonderlich daran interessiert war selbst an der DNS zu arbeiten, stellte er sich sehr wohl die Frage, wie Gene sich vervielfältigen können. Das Zusammentreffen mit Watson war vermutlich für Crick der Auslöser, sich näher mit der DNS zu beschäftigen. 1952 trafen Watson und Crick Erwin Chargaff, der ebenfalls intensiv an der DNS arbeitete. Chargaff war von diesem Treffen allerdings nicht sehr angetan. Er hielt Watson für linkisch, Crick für aalglatt. Sein Urteil über das Team war zu dem Zeitpunkt gefällt, als er feststellen musste, dass Crick die chemischen Unterschiede zwischen den vier DNS Basen nicht richtig erklären konnte. Er hielt die beiden für Marktschreier auf der Suche nach einer Helix. Watson schrieb in seinem populären Buch Die Doppelhelix:
"Chargaff, einer der bedeutendsten DNS-Experten, war zunächst gar nicht entzückt, dass zwei krasse Außenseiter das Rennen gewinnen wollten. Erst als John [Kendrew] ihn mit der Bemerkung beruhigte, ich sei kein typischer Amerikaner, ging ihm auf, daß er im Begriff war, einem Verrückten zuzuhören. […] Ihren Höhepunkt erreichte Chargaffs Verachtung, als er Francis das Geständnis entlockte, er könne sich an die chemischen Unterschiede zwischen den vier Basen [der DNS] nicht mehr erinnern."
In einem späteren Brief an John Kendrew fragte Chargaff, "was denn seine beiden wissenschaftlichen Clowns im Schilde führen". Er sollte mit seiner Einschätzung letztlich nicht recht behalten. Zwar dürfte es richtig gewesen sein, dass die Kenntnisse von Watson und Crick zu dieser Zeit noch (erhebliche) Lücken aufwiesen, aber beide hatten sowohl das Talent als auch den Antrieb diese zu schliessen. Das Zusammenspiel der beiden unterschiedlichen Persönlichkeiten dürfte einen wichtigen Beitrag in der konstruktiven Auseinandersetzung mit der komplexen Materie geleistet haben.

Modellbildung vs. Strukturaufklärung?

Indem sie frühzeitig versuchten Modelle zu bauen, schlugen die beiden einen anderen Weg ein als beispielsweise Rosalind Franklin. Sie war der Ansicht, dass die experimentellen Erkenntnisse (Röntgenaufnahmen) noch keine Strukturvorschläge zulassen würden. Sie kritisierte folglich auch die Vorgehensweise Watson und Cricks als vorschnell. Franklins Ansatz war es, zunächst zu soliden und besseren Messungen zu kommen und dann erst Strukturmodelle zu erarbeiten. Auch lehnte Franklin zu dieser Zeit (im Gegensatz zu Watson/Crick und Wilkins) die Idee einer Doppelhelix ab.

Watson hingegen sah sich selbst inspiriert von Linus Pauling, der kurz zuvor einen Strukturvorschlag (alpha-Helix) des Hämoglobins veröffentlicht hatte:
"Ich kam bald dahinter, dass Paulings Leistung ein Produkt des gesunden Menschenverstandes und nicht das Ergebnis komplizierter mathematischer Überlegungen war. Hier und da hatte sich eine Gleichung in seine Beweisführung verirrt, aber in den meisten Fällen hätten es Worte auch getan. Der Schlüssel zu Paulings Erfolg war sein Vertrauen auf die einfachen Gesetze der Strukturchemie. Die Alpha-Spiralle war nicht durch ewiges Anstarren von Röntgenaufnahmen gefunden worden. Der entscheidende Trick bestand vielmehr darin, sich zu fragen, welche Atome gern nebeneinander sitzen. Statt Bleistift und Papier war das wichtigste Werkzeug bei dieser Arbeit ein Satz von Molekülmodellen. […] Wir sahen also keinen Grund warum wir das DNS Problem nicht auf die gleiche Weise lösen sollten."
Letztlich ist das aber zu einfach gedacht. Alleine aus Modellierungs-Versuchen heraus lassen sich derartige Probleme natürlich nicht lösen. Denn auch Paulings Entwurf des Hämoglobins war zunächst eben nur ein Vorschlag, der erst durch Perutz' experimentelle Arbeit bestätigt wurde. Ein plausibel aussehendes "schönes" Modell ist völlig wertlos, wenn es nicht experimentell geprüft wird. In der Geschichte der Wissenschaft gab es viele "elegante", "schöne" Ideen, die sich als falsch herausgestellt haben. In der Praxis ist daher die Strukturaufklärung ein Wechselspiel zwischen experimentellen Daten und darauf folgenden Modell-Vorschlägen, die dann wieder mit (gegebenenfalls neuen) experimentellen Daten geprüft und in vielen Fällen verworfen werden. So wird sich zeigen, dass sowohl Watson/Crick als auch Franklin in ihren Ansätzen zunächst zu extrem waren. Watson und Crick wird der Durchbruch erst gelingen, als sie ihre Modellierung mit Kenntnissen, die von Franklins Experimenten stammen, ergänzen.

Der Rückschlag? Ein DNS-Modell von Linus Pauling

Aber greifen wir nicht zu weit vor. Der nächste (vermeintliche) Rückschlag für die beiden folgte im Jahr 1952: Peter Pauling (der Sohn Linus Paulings) kam nach Cambridge ins Peterhouse-College, um mit John Kendrew zusammenzuarbeiten. Sein Vater schlug ihm vor auch mit Crick Kontakt aufzunehmen. So war Peter Pauling des Öfteren zu Gast im Haus von Francis Crick und seiner Frau Odile. Eines Tages berichtete Peter Pauling von einem Brief seines Vaters, in dem dieser mitteilte, dass es ihm und seinem Mitarbeiter Corey gelungen wäre, die DNS zu "knacken".

Linus Pauling
[Wikimedia Commons]
Watson war am Boden zerstört. Crick fährt mit seiner Schwester auf Skiurlaub, in der Meinung, Linus Pauling hätte das Rennen gewonnen. Denn Pauling galt als einer der bedeutendsten Chemiker der Zeit und eine derartige Ankündigung musste man ernst nehmen.

Ende Jänner 1953 hatten Peter Pauling, Watson und Crick schliesslich einen Vorabdruck des wissenschaftlichen Artikels über Linus Paulings Strukturvorschlag in Händen. Watson erkannte sofort, dass auch dieses Modell nicht stimmen konnte. Es war dem ersten eigenen (falschen) Modell zu ähnlich. Dieses Modell überraschte Watson, denn einem Chemiker wie Pauling hätte auffallen müssen, dass die chemische Struktur, die eigentlich eine Säure sein sollte, eben keine war. Der Artikel machte auf Watson und Crick den Eindruck, als wäre er in aller Eile geschrieben worden und würde nicht die Sorgfalt aufweisen, die üblicherweise Paulings Arbeiten auszeichneten.

Beiden war klar, dass nach der offiziellen Publikation auch andere diese Probleme schnell bemerken würden und Pauling dann alles daransetzen würde, seinen Fehler zu korrigieren. Bis zur Publikation aber – rund zwei Monate später – hätten er und Crick einen Vorsprung um das eigene Modell zu verbessern, beziehungsweise an einem neuen Vorschlag zu arbeiten.

Aufnahme 51

Ein fehlender Baustein zum Verständnis der DNS wurde James Watson eher zufällig von Maurice Wilkins geliefert. Wilkins zeigte Watson die beste DNS-Aufnahme, die er im Labor am King's College zu Verfügung hatte: Aufnahme 51 von Rosalind Franklin. Franklin selbst wußte nicht, dass Wilkins diese Aufnahme Watson zeigte. Ob dies ein Vertrauensbruch oder einfach "normaler" wissenschaftlicher Gedankenaustausch war, ist heute nicht einfach zu beurteilen. Man muss auch bedenken, dass Wilkins offenbar nicht klar war, welche Bedeutung dieser Aufnahme beizumessen ist. Außerdem dürfte Wilkins nicht einmal gewusst haben, dass Watson und Crick nach wie vor an dem DNS-Modell arbeiteten. Watson hingegen verstand sofort, dass dies eine der entscheidenden Informationen war, die Crick und ihm noch gefehlt hatten: Die Doppelhelix ist geboren. Mit Watsons Worten:
"In dem Moment, in dem ich dieses Bild sah, stand ich da mit offenem Mund, und mein Herz begann zu rasen."
Wilkins gab das Foto allerdings nicht aus der Hand. So zeichnete Watson das Muster auf der Zugfahrt von London nach Cambridge aus dem Gedächtnis nach.

Nun ging es schnell voran und auch Bragg gab auf ihr Drängen nach, vermutlich in der Hoffnung Linus Pauling, seinen alten Rivalen, doch noch schlagen zu können. Watson und Crick hatten nun doch den Rückhalt des Cavendish-Labors. Sie bekamen weitere Details über die Arbeiten am King's College (auch von Rosalind Franklin) aus einem Evaluierungs-Bericht, den Max Perutz erhalten hatte. Auch hier ist umstritten, ob es sich um einen Vertrauensbruch gehandelt hatte. Max Perutz antwortete später in einem Artikel auf den Vorwurf, er hätte diesen Bericht nicht weitergeben dürfen, dass er noch jung und unerfahren gewesen wäre und mit solchen Dingen eher informell umging. Zudem wäre dieser Bericht nicht vertraulich gewesen.

Jedenfalls hielten Watson und Crick nun die notwendigen Informationen in den Händen. Dennoch folgten zunächst viele erfolglose Modell-Versuche. Beide waren ratlos.

Chargaffs Beobachtung...

Schwierigkeiten bereitete unter anderem eine chemische Besonderheit der DNS, die Chargaff gefunden hatte: Die Hasenpaare der DNS (Adenosin, Cytosin, Thymin und Guanin) kommen nämlich nicht in beliebiger Konzentration, sondern vielmehr in bestimmten Verhältnissen vor. Die Anzahl der Thymin-Moleküle ist immer gleich der Zahl der Adenin-Moleküle und die Zahl der Cytosin-Moleküle gleich der Zahl der Guanin-Moleküle. Dies war eine ungeheuer wichtige Beobachtung, wenngleich die konkrete Bedeutung zunächst nicht verstanden werden konnte.

… und Donohues Vorschlag

Der letzte und entscheidende Hinweis kam von einem Kollegen des eigenen Labors, Jerry Donohue, einem Chemiker. Die Basen der DNS können in zwei chemischen Formen vorkommen, in einer sogenannten Enol- sowie einer Keto-Form (siehe Abbildung). Donohue schlug vor, statt der Enol-Form, die Keto-Form der Basen zu verwenden. Watson war diese Idee nicht gekommen, weil in damals gängigen Lehrbüchern der Sachverhalt anders dargestellt wurde. Donohue meinte schlicht, dann wären eben die Bücher falsch.

Keto-Enol Tautomerie: Das Molekül kann
schnell zwischen diesen beiden Formen wechseln
Mit den richtigen chemischen Formen und den Erkenntnissen Chargaffs gelang Watson der Durchbruch. Denn die noch offene Frage war, wie die beiden Stränge der DNS miteinander verbunden wären. Watson hatte zunächst eine "Gleiches mit Gleichem" Theorie vorgeschlagen: So würde sich beispielsweise Guanin mit Guanin binden, Adenin mit Adenin usw. Diese Theorie wurde von Crick kritisiert, da sich damit weder kristallographische Daten korrekt wiedergeben ließen, noch eine Erklärung der Chargaffschen Regeln daraus folgen würden. Als sich Watson näher mit dem Vorschlag Donohues, die Keto-Formen der Basen zu verwenden, auseinandersetzte, machte er eine fundamentale Entdeckung:
"Plötzlich merkte ich, daß ein durch zwei Wasserstoffbindungen zusammengehaltenes Adenin-Thymin-Paar dieselbe Gestalt hatte wie ein Guanin-Cytosin-Paar […]"
Damit ließ sich die Verbindung zwischen den beiden Strängen der DNS kristallographisch korrekt darstellen. Wenn zur Bindung immer entweder ein Adenin-Thymin-Paar oder ein Guanin-Cytosin-Paar notwendig waren, so erklärt dies natürlich auch die experimentellen Daten Chargaffs.

Watson und Cricks DNS-Struktur-Modell
(C) Cold Spring Harbor Laboratory Library & Archives

Februar 1953: Am Ziel angelangt!

Der Legende nach, hat Crick am 28. Februar 1953 im Pub "The Eagle" verkündet, das Geheimnis des Lebens gefunden zu haben. Aus wissenschaftlicher Sicht bedeutsamer als die Verkündigung in einem britischen Pub war natürlich die Publikation in einem Fachjournal; nichts anderes zählt in der Wissenschaft um darzustellen, dass man als erster durchs Ziel gegangen ist. So senden Watson und Crick einen Artikel an Nature. Der nur eine Seite lange Artikel beginnt mit den Worten:
"Wir wollen eine Struktur für das Salz der Desoxyribonukleinsäure vorschlagen. Diese Struktur hat neuartige Eigenschaften, die von besonderem biologischen Interesse sind."
DNS-Doppelhelix
Phosphatrückgrat außen, gelb
Basenpaare:
Grün: Adenin
Violett: Thymin
Blau: Guanin
Orange: Cytosin
[Wikimedia Commons]
Sie schlagen in dem Artikel eine helikale Struktur aus zwei Strängen vor, die sich um dieselbe Achse "wickeln". Das Rückrat dieser Ketten wird von einer Phosphatdesoxyribose gebildet, einem Kette, die aus immer wiederkehrenden chemischen Elementen besteht. Spannend ist die Verbindung dieser beiden Ketten, die eben durch die genannten Basenpaare erfolgen (siehe Abbildung).

Berühmt ist auch der folgende Satz aus diesem Artikel:
"Es ist uns nicht entgangen, dass diese spezifische Art der Paarbildung, die wir vorgeschlagen haben, sofort einen möglichen Kopier-Mechanismus für das genetische Material nahelegt. (It has not escaped our notice that the specific pairing we have postulated immediately suggests a possible copying mechanism for the genetic material.)"
Mit britischem Understatement wird in diesem Artikel eine weitere Bombe gezündet. Was Watson und Crick andeuten ist ein entscheidender Durchbruch: Denn ihr Modell erklärt auch, wie genetische Information kopiert werden kann. Löst sich ein Strang der DNS ab, so kann dieser kopiert werden, indem die nun nicht gepaarten Basen sich ihre entsprechenden Partner aus der Umgebung "schnappen" und somit den zweiten Strang wieder aufbauen.

Das offensichtliche Problem war jedoch, dass die gesamte experimentelle Arbeit nicht von ihnen, sondern vielmehr am King's College (v.a. von Franklin) durchgeführt worden war, und sie diese Daten offiziell nie bekommen hatten. In diesem Artikel erwähnen Watson und Crick daher die Leistungen Donohues, sowie "unveröffentlichte experimentelle Ergebnisse und Ideen" von Wilkins, Franklin und deren Mitarbeitern. Auch erschien in derselben Ausgabe von Nature ein Artikel von Franklin und Gosling in der auch das Foto 51 gezeigt wird, sowie die Vermutung, dass die Aufnahme eine helikale Struktur nahelege. Für Leser blieb es aber verborgen, dass gerade diese Aufnahme von Watson und Crick verwendet wurde. Auch den Herausgebern von Nature war dieser Zusammenhang nicht klar, andernfalls hätten sie wohl auf eine deutliche Klarstellung bestanden. Auch Donohue meinte später, dass sein Beitrag nicht angemessen dargestellt worden wäre:
"Sehen wir es wie es ist, wenn der Zufall nicht dafür gesorgt hätte, dass Watson und Crick mit mir eine Büro geteilt haben, würden sie immer noch mit den Enol-Formen der Basen herumspielen."
Ob dies zutrifft oder nicht, ist im Nachhinein kaum zu beurteilen. Einerseits stimmt es, dass Watson und Crick Informationen von verschiedensten Seiten erhalten hatten. Andererseits hat Erfolg immer viele Väter und Mütter, und erzeugt Neid bei denjenigen, die am Ende nicht im Rampenlicht stehen.

Jahre der Prüfung

Apropos Rampenlicht: es wäre ein Irrtum anzunehmen, der heute legendäre Nature-Artikel des Jahren 1953 von Watson und Crick hätte in der wissenschaftlichen Gemeinschaft wie eine Bombe eingeschlagen, und von heute auf morgen das Verständnis der DNS verändert. Derartige spontane Umbrüche widersprechen wissenschaftlichen Prinzipien und kommen daher auch nicht vor (auch wenn sie im Nachhinein gerne so dargestellt werden).

Vielmehr hatte es Jahre gedauert, bis die Bedeutung des Vorschlages anerkannt wurde. Das ist nicht unverständlich, sondern vielmehr gute wissenschaftliche Praxis. Einerseits gab es konkurrierende Modelle, etwa das Modell von Linus Pauling. Franklin hielt das Modell für einen Vorschlag, der erst gründlich geprüft werden müsse. Auch Chargaff blieb lange skeptisch und viele andere warteten nur auf den Zeitpunkt, wo sich dieses Modell (wie alle anderen zuvor) als Irrtum herausstellen würde.

Die Webseite des Kings College London schreibt über diese Zeit (und die Rolle von Maurice Wilkins):
"Dies war der Beginn von weiteren sieben Jahren Arbeit für Maurice Wilkins und seine Kollegen um Watson und Cricks hypothetisches Modell zu prüfen und zu verifizieren. Für diese Arbeit, sowie seine früheren Röntgendiffraktions-Studien wurde Wilkins gemeinsam mit Watson und Crick der Nobelpreis des Jahres 1962 verliehen."
Dies ist eine realistische Einschätzung des Sachverhaltes. Ein Modell vorzuschlagen ist eine Sache. Zu prüfen, ob es sich in der Realität bewährt dann weitere, oft jahrelange, mühsame Arbeit. Eine mühsame, aber mindestens ebenso bedeutende Arbeit, die einen Nobelpreis rechtfertigen kann; wenngleich eine, die oft im Schatten derjenigen steht, die die ursprüngliche Idee präsentieren.

In der Wissenschaft kommt es (entgegen der populären Darstellung) so gut wie nie vor, dass ein "Genie" einen bahnbrechenden Vorschlag unterbreitet und in kürzester Zeit diese Nachricht wie eine Lawine die Wissenschaft verändert. Gerade vermeintlich spektakuläre Vorschläge, wie das Modell von Watson und Crick, müssen besonders gründlich untersucht werden. Denn die meisten "völlig neuen und bahnbrechenden" Vorschläge erweisen sich als Irrtum. Erst eben diese Jahre der Prüfung machten das Modell "legendär" und stellten klar, dass es sich um die korrekte Darstellung der DNS-Struktur handelt.

Die Anerkennung für das Modell sowie die geleistete Arbeit erhalten Maurice Wilkins, James Watson und Francis Crick in Form des Nobelpreises des Jahres 1962.

Weiterführende Literatur

Montag, 12. November 2012

Die Struktur der DNS, Teil 1: Watson und Crick

James Watson: Ein Amerikaner in Cambridge


James Watson wurde am 6. April 1928 geboren. Schon mit 15 Jahren besuchte er die Universität von Chicago. Mit 17 Jahren fiel ihm Schrödingers "Was ist Leben" in die Hände, das sein Denken, wie auch das vieler anderer junger Wissenschafter der Zeit, stark beeinflusste. Er schrieb: 
"Dieses Buch schlägt auf sehr elegante Weise vor, dass Gene die wesentlichste Komponente lebender Zellen wären und, dass wir begreifen müssen wie Gene funktionieren um zu verstehen, was Leben ist."
So wandte sich Watson der Genetik zu und wechselte an die Universität in Indiana, wo der hoch angesehenen Max Delbrück arbeitete. Seine ersten Studien beschäftigten sich mit Viren. Diese Arbeiten brachten ein Post-Doc Fellowship in Kopenhagen, wo er mit dem Biochemiker Herman Kalckar zusammenarbeitete.

Im Jahr 1951 traf er auf einer Konferenz in Neapel Maurice Wilkins vom King's College London, der dort seinen Professor (Randall) vertrat. Watson kannte zwar weder Randall noch Wilkins, war aber von dessen DNS-Vortrag fasziniert. Besonders eine Röntgenaufnahme der DNS überraschte ihn. Ihm war bis zu diesem Zeitpunkt nicht klar, dass die DNS regelmässig genug ist um zu kristallisieren. Dies aber ist eine Voraussetzung um Röntgendiffraktometrie zur Strukturaufklärung einsetzen zu können. Es erschien ihm unbedingt erforderlich mit Wilkins Kontakt aufzunehmen. Zu diesem Zweck spannte er sogar seine mitreisende Schwester ein. In seinen eigenen Worten: 
"[…] wenn Maurice meine Schwester wirklich mag, so ist es unvermeidlich, dass ich mit seiner Arbeit an der DNS in engen Kontakt komme." 
Der Zusammenhang zwischen einem Näherkommen seiner Schwester mit Wilkins einerseits und der Annäherung Watsons an die DNS andererseits konnte wissenschaftliche bis heute nicht geklärt werden – unter anderem auch deshalb nicht, weil der Versuch fehlschlug. Tatsächlich wird sich der Kontakt zwischen Wilkins, Watson und Crick erst später in England vertiefen.

Zurück in Kopenhagen überlegte Watson, wie es ihm trotz mangelnder Kenntnissen in Kristallographie gelingen könnte, in das Feld der Untersuchung der DNS einzusteigen. Die erste Adresse wäre seiner Ansicht nach Linus Pauling am Caltech gewesen. Pauling selbst bekam 1954 einen Nobelpreis für Chemie für die Untersuchung chemischer Bindung und die Anwendung auf komplexe chemische Verbindungen. 1962 wird Pauling den Friedensnobelpreis erhalten, im selben Jahr wir Watson und Crick ihren Nobelpreis für Medizin. Noch sind wir im Jahr 1951 und bis dahin ist noch ein weiter Weg zu gehen; mit Watsons Worten: 
"Linus war ein zu bedeutender Mann, um seine Zeit mit dem Unterrichten eines mathematisch unterbelichteten Biologen zu verschwenden."
Cambridge erschien ihm leichter zugänglich zu sein und so bewarb er sich  im Labor von Max Perutz um dort Kristallographie zu studieren und zunächst an Pflanzenviren zu arbeiten. Auch Max Perutz hatte einen internationalen Ruf als hervorragender Kristallograph, der im Bereich der Strukturaufklärung von Biomolekülen arbeitete. Zwar führte dies zu einigen Schwierigkeiten mit Watsons Stipendium, aber Cambridge war der richtige Ort, um mehr über den Stand der Forschung an der DNS zu erfahren. 

Während das "Paar" Maurice Wilkins und Rosalind Franklin sich nicht riechen konnte, verstand sich Watson sofort blendend mit dem zwölf Jahre älteren Francis Crick, der schon in Cambridge am Cavendish Labor arbeitete. Zu dieser Zeit untersuchte man in Cambridge zwar verschiedene Biomoleküle, aber noch niemand beschäftigte sich mit der DNS.

Ein Vortrag von Rosalind Franklin am King's College (1951) motivierte Watson sich nun intensiver mit der DNS zu auseinanderzusetzen. In den folgenden Wochen begann er (unter anderem auf Basis der Information dieses Vortrages) gemeinsam mit Crick an einem Modell der DNS zu arbeiten. John Kendrew, einer der "Seniors" im Cavendish Lab, bestand darauf, dass die beiden ihr Modell dem Team des King's College zeigen. Dieses Treffen mit Rosalind Franklin, Maurice Wilkins und anderen fand auch kurz darauf statt. Franklin war vom Modell Watson und Cracks alles andere als begeistert und kritisierte höflich aber sehr bestimmt.

Kurz gesagt, dieses erste Modell war ein Fiasko. Bragg, der Leiter des Cavendish Labors, war von der Vorstellung eher peinlich berührt – immerhin wurden mehrere Wissenschafter vom King's College eingeladen – und  forderte Watson und Crick auf, die Arbeit an der Modellierung einzustellen. Bragg vereinbarte mit Randall (dem Leiter des King's College), dass die Arbeit an der DNS nur am King's College weitergeführt werden solle. Diese Vereinbarung ist vermutlich auch so zu verstehen, dass beide Labors vom selben Geldgeber finanziert wurden. Randell und Bragg  wollten auf diese Weise doppelte Forschung und die Verschwendung von Forschungsgeldern vermeiden. Damit war die (offizielle) DNS-Modellierung zunächst an ein jähes Ende gelangt.

Aber Watson und Crick geben ihr Unterfangen nicht auf. Werfen wir noch einen Blick auf den zweiten Wissenschafter, Francis Crick, bevor wir uns in die nächsten Entwicklungen vertiefen, die letztlich zur Aufklärung der Struktur der DNS führen werden.

Watson und Crick in Cambridge
Watson und Crick in Cambridge
(C) Cold Spring Harbor Laboratory Library Archives

Francis Crick: DNS-Modellierung und "Ohrensausen"

Francis Crick wurde am 8. Juni 1916 als Sohn eines Schuh- und Stiefelfabrikanten aus Northampton geboren. Er war also, im Gegensatz zu Watson, waschechter Brite. Seine Eltern hatten keine universitäre Ausbildung, aber seine Mutter förderte seine Neugier von Kindheit an. Ein Stipendium für die Mill Hill Schule in London war zweifellos hilfreich, denn dort wurde eine fundierte Ausbildung in den Naturwissenschaften, Chemie, Physik und Mathematik ermöglicht. Aber Cricks später durchaus ausgeprägtes Selbstbewusstsein wird auch dem Einfluss dieser Schule zugeschrieben. Das Studium der Physik führte ihn ans University College in London. Dort begann er auch sein Doktorat über das "langweiligste denkbare Thema": die Viskosität von Wasser. Allerdings wurde die Doktorarbeit vom Krieg unterbrochen und er wird in der militärischen Forschung eingesetzt. 

Nach dem Krieg wandte er sich, ebenfalls motiviert von Erwin Schrödingers Buch "Was ist Leben", der Biologie zu. Crick schrieb: 
"Schrödinger erweckte den Anschein, als stünden großartige Dinge unmittelbar bevor. (Schrödinger made it seem as if great things were just around the corner)"
Wie auch John Kendrew beschäftigte er sich mit der Frage, wie die Grenze zwischen lebender und toter Materie definiert werden könne. 1949 bewarb er sich für Birkbeck unter J. D. Bernal, wurde aber (ebenso wie Rosalind Franklin) abgelehnt. Kendrew und Perutz nahmen ihn noch im selben Jahr am MRC in Cambridge auf. 

Crick wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht viel über Röntgenstrukturaufklärung, hatte aber die Arbeiten von Perutz über Hämoglobin gelesen und Perutz führt ihn in Cambridge in die notwendigen Grundlagen ein. Perutz wie auch Bragg motivierten ihn, trotz seines fortgeschrittenen Alters von 33 Jahren, sich wieder für ein Doktoratsstudium zu einzuschreiben. Seinen Doktor über Röntgenstrukturaufklärung von Polypeptiden und Proteinen erhielt er im Jahr 1953, aber wir greifen vor… 

Francis Crick war mit Sicherheit kein trockener Wissenschafter. Er genoß das Leben in Cambridge. Er war zum zweiten Mal mit einer Französin verheiratet; beide waren an Kunst und gutem Essen interessiert. Partys und Einladungen von Freunden und Kollegen sind an der Tagesordnung. Dieses Ambiente zog nicht nur den jüngeren James Watson, sondern auch Maurice Wilkins an, der beide häufig in Cambridge besuchte. 

Crick war aber auch für sein Auftreten bekannt, vielleicht sollte man eher sagen: berüchtigt. Er war selbstbewusst und hielt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg und redete (wenn man Watson Glauben schenken darf) pausenlos. Wenn er von sich selbst durchaus überzeugt war, so traf dies etwa auf seinen Chef Bragg kaum zu. Bei einem Seminar stellte Max Perutz vor Gästen sein aktuelles Hämoglobin-Modell vor und Crick vernichtete diesen Ansatz vor versammeltem Auditorium. Bragg, der Crick ohnedies nicht besonders gut leiden konnte, war wütend. Perutz selbst schien diese öffentliche Kritik weniger persönlich zu nehmen und arbeitete auch später noch gerne mit Crick zusammen. 

Bragg hielt Crick für aufdringlich, übertrieben selbstsicher und wenig produktiv. An einem Punkt wollte Bragg nur mehr, dass Crick seine Arbeit (die nichts mit DNS zu tun hatte) fertigstelle und und danach so schnell wie möglich das Labor verließe. John Kendrew und Max Perutz schienen Bragg dann aber wieder beruhigen zu können. Watson schrieb über den Konflikt: 
"Bragg hatte sich inzwischen auch wieder beruhigt, und die Sache mit Francis' Entlassung wurde stillschweigend begraben. Ihn zu behalten fiel Bragg jedoch nicht leicht. Eines Tages, in einem Augenblick der Verzweiflung, gestand er, Crick verursache ihm Ohrensausen. Außerdem konnte ihn nichts davon überzeugen, daß man Crick braucht. Seit fünfunddreißig Jahren habe Francis nun schon ununterbrochen geredet, und bisher sei so gut wie nichts von entscheidendem Wert dabei herausgekommen."
Aber Cricks Zeit wird noch kommen. Die Entschlüsselung der DNS-Struktur gemeinsam mit James Watson wird nur eine der bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen werden, die Francis Crick zuzuschreiben sind. So formulierte er beispielsweise 1957 das "zentrale Dogma der Genetik": Nicht nur bestimmen die Nukleinsäuren Aussehen und Funktion von Proteinen, sondern der Informationsfluss geht nur in eine Richtung: von der DNS zur RNS zum Protein. Eine wesentliche Grundlage, die die Forschung für die nächsten Jahrzehnte prägen wird.

Später wird Crick die molekulare Biologie verlassen und in die Neurowissenschaft wechseln; James Watsons spätere Forschung beschäftigt sich mit der Frage den genetischen Zusammenhängen bei der  Entstehung von Krebs. Auf die Frage, was er für eine vergleichbar bedeutende Frage (wie Struktur und Funktion der DNS) der heutigen Zeit hielte, verweist Watson auf die Funktionsweise des Gehirns – etwa in welcher Weise Information gespeichert wird. Crick hätte sich die letzten 30 Jahre seines Lebens mit dieser Frage beschäftigt, wäre aber nicht sehr weit gekommen.

Liste aller Artikel dieser Serie

Montag, 5. November 2012

Rosalind Franklin - Wissenschaft in Perfektion


"Rosalinds science came always straight from the heart.", Brenda Maddox

Schon als Kind ein "Geek"?

Rosanlind wurde am 25. Juli 1920 als jüngstes von sechs Kindern geboren. Ihr Vater war Unternehmer und Patriarch – sowohl in der Familie, wie auch im Unternehmen. So erlaubt er beispielsweise keine weiblichen Angestellten in seiner Firma. Zum Rollenverständnis passte, dass Rosalind als Sechsjährige als "alarmierend gescheit" bezeichnet wurde – und das war nicht unbedingt als Kompliment gemeint. Dennoch hatte Rosalind eine behütete Kindheit. Die finanzielle Situation der Eltern erlaubte auch viele Reisen. Eine Leidenschaft, die Rosalind über ihr ganzen Leben begleiten wird.

Trotz der traditionellen Einstellung in der Familie, wurde Rosalind auf eine vergleichsweise progressive Schule (St.Pauls) geschickt. Diese Schule war vom Motto geleitet, eine gescheite Frau solle ihr Talent nicht verschwenden. Schon mit 16 interessierte sie sich besonders für die Naturwissenschaften Chemie, Physik und auch Mathematik. Auf Tanzveranstaltungen fühlte sie sich deplatziert. Nach heutigem Verständnis würde man sie vielleicht als prototypischen Geek bezeichnen.

Sie mag wenig Interesse an Burschen gehabt haben, war aber nicht zurückgezogen oder schüchtern, sondern vielmehr scharfzüngig und offen. Auch dies sind Eigenschaften, die sie in ihrem weiteren Leben begleiten, und so manche Konflikte nicht einfacher machen werden.

Ihr letztes Schuljahr war von Hitlers Machtübernahme (1936) und dem entsprechenden Widerhall in London überschattet. Die politische Situation hatte auch direkte Auswirkungen auf ihre Familie, denn ihr Vater nimmt zwei österreichische Kinder auf. Eines davon ist ein Mädchen, deren Vater ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert worden war. 

Nach Cambridge

Kurz vor ihrem 18. Geburtstag machte sie die Aufnahmeprüfung in Cambridge. Damals gab es noch eine strikte Trennung zwischen Frauen und Männern. Für Frauen standen nur zwei Colleges zur Verfügung: Girton und Newnham. (Während alle Colleges – auch Girton – in Cambridge heute für Männer und Frauen offen stehen, ist das Newnham-College nach wie vor ein Undergraduate-College das nur Frauen aufnimmt.) Beide Colleges boten ihr einen Studienplatz an und sie entscheidet sich für Newnham. Trotz der Tatsache, dass es Colleges für Frauen gab, waren Frauen in den 1930er Jahren im akademischen Umfeld stark benachteiligt. So gab es eine generelle Quote nach der maximal 10% der Undergraduate Studeten weiblich sein durften.

Franklin galt als ausgezeichnete Studentin und erlangte – auch wenn sie fallweise an ihren eigenen Leistungen zweifelte – sehr gute Noten. Schon während ihres Studiums lernte sie die noch recht neue Technik der Röntgenstrukturanalyse kennen. Dabei werden Kristalle mit Röntgenstrahlen durchleuchtet. Diese Röntenstrahlen werden von den Atomen abgelenkt und hinterlassen Muster auf fotografischen Platten. Allerdings wurde diese Methode Ende der 30er Jahre hauptsächlich auf kleine Kristallstrukuren wie bspw. Kochsalz angewandt. Franklin wird einen großen Teil ihrer späteren Forschung mit dieser Methode arbeiten und sie auf wesentlich komplexere Moleküle anwenden.

Krieg in Cambridge

Während des zweiten Weltkrieges wird auch Franklin für "kriegswichtige" Tätigkeiten verpflichtet, wie der Suche nach ausbrechenden Feuern währen Bombenangriffen. Cambridge wird allerdings von den Deutschen nie bombardiert. Sie setzt ihr Studium fort und liest unter anderem Linus Paulings Standardwerk über chemische Bindungen. Sie beschäftigte sich auch mit der Faltung von Proteinen, sowie mit Viren, die Kristalle bilden können. Diese Kenntnisse werde weitere wesentliche Eckpunkte ihrer späteren herausragenden Forschungstätigkeit.

Franklin betrieb auch regelmässig Sport. Sie ruderte, spielte Hockey, Squash und Tennis und fuhr Rad. Auch war sie durchaus auf ihr Aussehen und Auftreten bedacht, zeigte aber auch am College wenig Interesse an männlichen Bekanntschaften. War sie davon überzeugt im Recht zu sein, wich sie im beruflichen Umgang Konfrontationen auch mit (männlichen) Autoritäten nicht aus. Ihr direkter Stil und die oftmals harte Art in Diskussionen machen ihr das Leben nicht immer leicht.

Während des Krieges war es für sie trotz ihrer Fähigkeiten schwer eine vernnünftige, ihr angemessene Position in der Forschung zu finden. Schliesslich ging sie in die Kohleindustrie und arbeitete dort in einem sehr gut ausgestatteten Labor. 

Politisch war sie im Gegensatz zu anderen Wissenschaftern (wie Bernal) moderat und sowohl vom Faschismus, wie auch von der Gegenbewegung (dem Pazifismus) abgestossen. Schon diese moderat linke politische Position war aber für ihren Vater schockierend. 

Die beste Zeit ihres Lebens – Frankreich

Mit einer Freundin verbrachte sie unmittelbar nach dem Krieg einen Urlaub in Frankreich. Sie liebte das Land, die Sprache, die Menschen und auch das Essen. Da kam ein Job-Angebot in Paris, im Labor von Jacques Mering, äußerst gelegen. Mering erkannte die Fähigkeiten Franklins sehr schnell. Sie nahm den Job an und vertiefte ihre Kenntnisse in Röntgenstrukturaufklärung, arbeitete dabei aber weiterhin an Kohle. In Paris fühlte sie sich wohl. Sie war lebensfroh und unternahm viel mit Freunden. Sie wird diese Jahre später als die beste Zeit ihres Lebens bezeichnen. Auch wissenschaftlich begann sie sich langsam auch international einen Namen zu machen.

Franklin fühlte sich auch zu Mering hingezogen und ihre Gefühle wurden wohl erwidert. Aber Mering war noch verheiratet und dachte offenbar nicht an eine Scheidung. Beide scheinen keinen Ausweg aus dieser Situation gefunden zu haben, und so zog sich Franklin zurück. 

London – Konfliktreiche Forschung am King's College

1949 bewarb sie sich (wie auch Francis Crick) für Birkbeck unter Bernal, wird aber (ebenso wie Crick) abgelehnt. Crick ging nach Cambridge. Sie blieb noch in Paris, ließ sich von der Ablehnung aber nicht beirren und konzentrierte sich weiter auf ihre Arbeit. 1950 veröffentlichte sie ihren ersten Artikel in der angesehenen Fachzeitschrift Nature.

Rosalind Franklin
(C) Cold Spring Harbor Laboratory
Library & Archives
1951 schliesslich erhielt sie ein Angebot ans Kings College London unter John Turton Randall zu kommen. Sie nimmt an, verlässt Paris aber nur sehr ungern. In einem Brief schriebt sie: "Ich kann das immer noch nicht glauben, dass ich nächsten Jänner [aus Paris] weggehen werde. [...] Ich bin mir sicher, das ist der größte Fehler meines Lebens." Aus persönlicher Sicht mag sie damit Recht gehabt haben, aus wissenschaftlicher Sicht bringt ihr Wechsel ein neues Arbeitsgebiet in dem sie wesentliche Beiträge liefern wird.

Bereits im Jahr 1951 hatte das Team im King's College große Fortschritte in der Aufklärung der DNS gemacht. War sie bisher hauptsächlich in der Kohleforschung tätig, so begann Franklin sich nun mit den Prinzipien des Lebens auseinanderzusetzen. Ziel war es, biologische Phänomene auf der Basis chemischer und physikalischer Prinzipien zu erklären. Diese Arbeit ist auch motiviert von den Erkenntnissen Erwin Chargaffs und dem Buch Erwin Schrödingers, "Was ist Leben". Beide waren übrigens Österreicher, die wie so viele, nach der Machtübernahme Hitlers das Land verlassen haben.

Auch Maurice Wilkins (einer der Nobelpreisträger des Jahre 1962) arbeitete am selben Institut, in das Franklin nun wechselt. Gerade zu der Zeit aber, wo sie ans Institut kam, war er abwesend. Diese Abwesenheit mag einer der Gründe dafür gewesen sein, dass die Aufgaben und Rollen der beiden nicht von Anfang an klar definiert worden waren. Daraus entwickelte sich eine Beziehung zwischen Wilkins und Franklin, die nicht einfach zu verstehen ist. Beide arbeiteten an sehr ähnlichen Themen, und Wilkins sah sich (nicht ganz zu unrecht) als der Senior. Er arbeitete schon länger mit Randall zusammen (er ist seit 1946 am Biophysics Lab im King's College). Auch war ihm wohl  zunächst nicht klar, welche Leistungen Franklin bereits in Paris erbracht hatte. Franklin brachte ihre Erfahrung in der Röntgenkristallographie ans King's College und verbesserte dort die Methodik weiter. Kurz gesagt: ihre Expertise in diesem Bereich übertraf die der Kollegen, und auch die von Wilkins. 

Wilkins sah sich dennoch in höherer Position (was formal auch zutreffend war), Franklin hingegen sah sich als gleichgestellt. Eine Mitverantwortung für diese Probleme lag vermutlich auch beim Laborleiter Randall. Er galt als erstklassig im Auftreiben von finanziellen Mitteln für Labor und Mitarbeiter, andererseits definierte er Arbeitsbereiche und Verantwortungen nicht klar genug. Vor diesem Hintergrund sollte man die Konflikte zwischen Wilkins und Franklin sehen. Man muss Randall aber zugute halten, dass er Frauen sehr gute Karrieren ermöglichte. In den 1950er Jahren war dies noch eine Seltenheit an Universitäten. Trotz aller Probleme trafen Franklin und Wilkins sich noch längere Zeit regelmässig um über ihre Arbeit und auch andere Dinge zu sprechen. 

Während Franklin im Labor als zurückhaltend galt, taute sie im privaten Umfeld auf. Sie war auch eine sehr interessierte Köchin, vor allem an der Küche des "Kontinents" interessiert. Sie lud regelmässig Freunde ein, denen sie französische und italienische Gerichte aufwartete. Eine klare Trennung dieser privaten von der beruflichen Seite war ihr wichtig. Wilkins war, soweit bekannt ist, nie Gast einer dieser privaten Einladungen. Er kannte wohl nur die professionelle Franklin.

Die Beziehung zwischen Franklin und Wilkins verschlechterte sich zunehmend, obwohl Wilkins Anstrengungen unternahm diese zu verbessern (Schokolade als Geschenk war einer der trivialeren Bemühungen). Neben den bereits genannten Gründen für den Konflikt, kam noch dazu, dass beide über ein sehr unterschiedliches Temperament verfügten. Franklin neigte in fachlichen Dingen zu hitzigen Diskussionen, während Wilkins als eher ruhig und zurückhaltend galt. Er fühlte sich des öfteren vom Stil der Auseinandersetzung überfahren. Somit hatte Franklin vermutlich auch einen nennenswerten Anteil an der verfahrenen Situation. 

Der Konflikt eskalierte nach einer Konferenz (organisiert von Max Perutz) in Cambridge: Wilkins stellte seine neuesten Ergebnisse der Untersuchung der DNS vor. Nach dem Vortrag forderte Franklin ihn auf, seine Arbeit an der DNS einzustellen, denn sie sah dieses Feld als ihre Domäne an. Ein Grund für Franklins Ausbruch mag an einer Zusicherung Randalls gelegen haben: In einem Brief hatte er deutlich gemacht, dass alleine Franklin an der Röntgenkristallographie der DNS arbeiten würde. Eine Zusage, die sie nun gebrochen sah. Die Hintergründe und Motive solcher Auseinandersetzungen  sind im Nachhinein schwer zu durchschauen und werfen meines Erachtens nach kein sehr gutes Licht auf alle beteiligten Persönlichkeiten.

1951 fuhr Franklin gemeinsam mit Dorothy Hodgkin auf eine Konferenz nach Stockholm und traf dort auf Linus Pauling. (Dorothy Hodgkin arbeitete in Oxford ebenfalls an der Strukturaufklärung komplexer biochemischer Substanzen und erhielt im Jahr 1964 für ihre Arbeiten den Nobelpreis für Chemie.) Pauling war einer der führenden Chemiker der Zeit, der auch wusste sich zu präsentieren. Aber auch J. D. Bernal von Birkbeck besuchte diese Konferenz, dessen Dissertantin Hodgkin gewesen war. Der Vortrag Bernals beeindruckte Franklin. 

A- und B-Form der DNS - ein Durchbruch

Die Arbeit an der DNS geht weiter. Wilkins Untersuchen und die Berechnungen ihres Kollegen Alec Stokes legten nahe, dass die DNS die Form eine Helix (zylindrische spirallform) hat. Franklin arbeitete ebenfalls intensiv an dem Problem, war aber offenbar zu dieser Zeit noch nicht von der Helix-Form überzeugt. (Zumindest legen dies die Aussagen von James Watson nahe.) Allerdings machte sie eine andere bedeutende Entdeckung: sie stellte fest, dass es zwei Formen der DNS gibt. Die eine Form nannte sie B-Form (hydriert, "nass"), die andere, die "trockene" Variante, die A-Form. Der Grund, warum bisher keine wirklich scharfen Aufnahmen der DNS gelungen waren, lag daran, dass immer eine Mischung beider Formen gemessen worden waren. Es gelingt Franklin und Ray Gosling diese beiden Formen zu trennen und sehr scharfe Aufnahmen anzufertigen. Ihr Kollege Aaron Klug  (Nobelpreisträger für Chemie 1982) ist in einem Interview davon überzeugt, dass Franklin nur einen Schritt von der Aufklärung der DNS-Struktur entfernt war.

Wilkins sieht diese Erfolge und schlägt Franklin vor, gemeinsam mit ihm und Stokes an der Aufklärung der Struktur zusammenzuarbeiten. Diese Idee war für Franklin aber ein rotes Tuch. Sie explodiert. In diesem Labor fühlte sie sich ohnedies wie das fünfte Rad am Wagen; diese Erfolge sind ihr alleine gelungen und sie hatte nun den Eindruck, der ranghöhere Wilkins möchte sich mit ihren Ergebnissen schmücken. Sie fühlte sich nicht anerkannt und schwankt zwischen Wut und Verzweiflung und spielt mit dem Gedanken das Labor zu verlassen. Randall erkannte die Eskalation des Konfliktes und forderte in einer Aussprache, dass Franklin alleine an der A-Form, Wilkins an der B-Form der DNS arbeiten sollen. Damit gelangte aber auch die Kommunikation zwischen Franklin und Wilkins endgültig an ein Ende.

Franklin arbeitete weiter sehr produktiv – wenn auch in Isolation – während Wilkins öfter nach Cambridge fuhr und dort den Kontakt zu Francis Crick und James Watson suchte. Während andere an Modellen der DNS arbeiten, sah Franklin die Zeit dafür noch nicht gekommen – es mangle noch an experimentellen Daten. Am 21. November 1951 präsentierte Franklin bei einem Kolloquium am King's College einen Zwischenstand ihrer Arbeiten. Im Auditorium war auch James Watson. In Folge dieses Treffens bauten Watson und Crick erste (noch falsche) DNS-Modelle, die von Franklin auch in deutlichen Worten kritisiert wurden.

Franklin werden die Konflikte und die Situation im Labor zu viel. Sie versuchte sogar (vergeblich) ihren alten Job in Paris wiederzubekommen. Trotz ihrer Unzufriedenheit im King's College arbeitete sie hart an den DNS-Proben und ihre Aufnahmen wurden immer besser. 1952 besuchte sie Dorothy Hodgkin (eine herausragende Kristallographin) in Oxford. Sie beneidet Hodgkin um deren gute Arbeitsatmosphäre. Hodgkin zeigte sich begeistert von der Qualität ihrer Bilder und unterstützte Franklin bei der komplexen kristallographischen Interpretation der Aufnahmen. 

Franklins Stimmung besserte sich, als sie erfuhr, dass sie im Team von J. D. Bernal in Birkbeck arbeiten könne und Radall dem Wechsel zustimme. Im Jänner 1953 – sie war immer noch im King's College – sprach es sich in London herum, dass Linus Pauling und Robert Corey angeblich die Struktur der DNS aufgeklärt hätten. Franklin schrieb sofort Corey und bat um Details. Ende Jänner hielt sie wieder einen Vortrag, den auch Maurice Wilkins und James Watson besuchten. Watson erzählte Franklin Details über das Modell Paulings und erklärte, wo seiner Ansicht nach Fehler steckten. Mit der Ankündigung Paulings ist das Rennen um die Struktur in eine heiße Phase gelangt. Pauling galt als einer der bedeutendsten Chemiker, und somit war es nach Ansicht vieler nur eine Frage der Zeit, bis Pauling das Problem gelöst hatte. Auch Franklin versuchte nun angestrengt eine Lösung zu finden.

Im Jänner zeigte Gosling (der mit Franklin zusammenarbeitete und an seiner Doktorarbeit schrieb) Franklins berühmte Aufnahme 51 Maurice Wilkins. Dies war in keiner Weise ungewöhnlich, denn Wilkins war Vize-Direktor des Institutes und derartige Ergebnisse (vor allem auch als Teil einer Doktorarbeit) wurden nunmal intern diskutiert. Kritisiert wird aber immer wieder die Tatsache, dass Wilkins diese Aufnahme ohne das Wissen Franklins auch James Watson zeigte. Watson war kein Mitglied des Forschungsteams. Für ihn war gerade diese Aufnahme das fehlende Puzzlestein zur Lösung der DNS-Strukturaufklärung.

Der Artikel von Linus Pauling erschien im Februar in Nature. Franklin war sofort klar, dass Pauling sich irrte und schrieb ihm dies auch in einem Brief. Pauling aber war unbeeindruckt und blieb bei seinem Vorschlag.

Ohne Franklins Wissen, arbeiteten Watson und Crick schon seit über einem Monat, unter anderem mit den Informationen aus ihrer Aufnahme 51, intensiv an der DNS. Ende Februar, nachdem sie einige andere Arbeiten fertiggestellt hatte, begann sie selbst dieses Bild auszuwerten und kam zu der Erkenntnis, dass es sich um eine Helix aus zwei Ketten handeln müsse. Sie war fast am Ziel angelangt. Allerdings gelang es ihr zu diesem Zeitpunkt nicht, andere wesentliche Teile des Modells (die Basenpaarung) richtig darzustellen. 

RAF-Bar im "The Eagle" Pub in Cambridge

Der Legende nach hat Francis Crick am 28. Februar 1953 im Pub "The Eagle" verkündet, das Geheimnis des Lebens gefunden zu haben. Die relevante wissenschaftliche Publikation erfolgte kurz darauf in Nature. Franklins (unfreiwilliger) Beitrag wurde dort immerhin erwähnt: Watson und Crick schreiben, dass sie von unveröffentlichten Arbeiten des King's College und den Ideen von Wilkins und Franklin angespornt wurden

Aufnahme beim "Weisen" am Birkbeck College

Als Franklin das Kings College verlässt schreibt Maurice Wilkins an Watson und Crick: "... unsere dunkle Dame verlässt uns diese Woche." ("... our dark lady leaves us this week.")

Der Wechsel zu Bernal ans Birkbeck College war für Franklin ein wichtiger Befreiungsschlag. Zum Abschied sagte sie selbst: "Ich bin hier nicht gewollt – wir [sie und Wilkins] waren nie in der Lage zusammenarbeiten. Es ist unmöglich für mich hier zu bleiben." So arbeitete sie von Mitte März 1953 bis zu ihrem frühen Tod 1958 am Birkbeck College,  wo sie sich wieder der Untersuchung von Viren (wie dem Tabakmosaik-Virus) zuwandte.

Rosalind Franklin im Labor 1954
(c) Henry Grant Collection / Museum of London

J. D. Bernal war schon zu Lebzeiten eine Legende und galt als Universalgelehrter. Bernals Begabung lag aber auch darin, hoch-begabte junge Wissenschafter anzuziehen, exzellente Teams zu formen und Finanzierung für diese Teams zu beschaffen. In der konkreten Arbeit überlässt er sie dann sich selbst. Im Grunde ein Rezept für Erfolg, denn in der Auswahl und Zusammensetzung der Teams liegt der wesentliche Baustein für erfolgreiche wissenschaftliche Arbeit. Hochmotivierte Wissenschafter benötigen in der Regel niemanden, der ihnen täglich die Hand führt.

In dieser Zeit war Franklin auch schon international bekannt und wurde zu zahlreichen Vorträgen eingeladen, so auch in die USA. Diese Reise gestaltete sich aber aufgrund finanzieller Probleme als schwierig. Bernal unterstützte die Reise, zumal er selbst aufgrund seiner politischen Ansichten nicht in die USA einreisen konnte. Franklin hielt zahlreiche Vorlesungen, wurde allerdings aufgrund ihrer Expertise in der Kohleforschung eingeladen. Sie traf auch wieder mit James Watson zusammen, mit dem sie eine gute Gesprächsbasis aufbaut und ihre Arbeit am Tabakmosaikvirus diskutierte.

In Birkbeck fand sie endlich in Aaron Klug einen gleichgesinnten Arbeitspartner. Trotzdem galt sie auch in Birkbeck eher als Aussenseiterin. Einerseits aufgrund ihrer forschen Art, andererseits wegen der im Labor vorherrschenden politischen Einstellungen. Viele im Team Bernals waren Kommunisten. Sie selbst engagierte sich nicht politisch. Manche der Kollegen waren wohl auch der Ansicht, dass sie aufgrund ihrer familiären Herkunft einer anderen Klasse angehörte, einer, die sie im Grunde bekämpften. Dennoch war ihre Position in Birkbeck wesentlich stärker als im King's College, nicht zuletzt auch wegen des Respektes, den Bernal ihr entgegenbrachte. Sie baute ein starkes Team auf und arbeitete auch wieder mit dem nach England zurückgekehrten Watson zusammen. 

Auch ihr Verhältnis mit Francis Crick und dessen Frau Odile war sehr gut. Sie unternahm mit beiden nach einer Konferenz in Madrid 1956 sogar eine Tour durch Spanien.

Zu früher Tod

Nach der Rückkehr von einer weiteren ausgedehnten Reise im Jahr 1956 in die USA, stellte man bei ihr zwei große Tumore in den Eierstöcken fest. Sie unterzog sich sofort einer Operation. Heute wird vermutet, dass möglicherweise mangelnder Strahlenschutz im Umgang mit den Röntgenstrahlen eine Ursache für die Erkrankung gewesen sein könnte.

Zurück am Birkbeck College erhielt sie unter anderem von James Watson (aus den USA) einen Brief mit Genesungs-Wünschen. Sie selbst hielt sich nicht lange mit ihrer Krankheit auf, sondern setzte ihre Forschung energisch fort. 1957 hatte sie aufgrund ihrer Erkrankung aber oft nur mehr die Energie halbe Tage zu arbeiten. Die Behandlungen waren leider nicht erfolgreich und der Krebs kehrte zurück. Es folgen weitere endlose Untersuchungen und Therapien. Als sie ihren Arzt nach einer klaren Prognose fragt, machte er ihr unmissverständlich klar, dass er keine Hoffnung sähe. Sie selbst setzte ihre letzte Hoffnung auf eine neue Cobalt-Strahlentherapie, behielt aber auch dies weitgehend für sich und arbeitete immer noch im Labor.

Die weitere Finanzierung ihres Teams bereitet ihr große Sorgen und sie versuchte unerlässlich diese Probleme noch zu lösen. Die Erkrankung traf sie selbst und ihre Forschungsgruppe am Zenit der Leistungsfähigkeit. So kam etwa Max Perutz persönlich nach London um Franklin und Klug einzuladen, ihre Arbeit im neu gegründeten Labor in Cambridge fortzusetzen.

Ende 1957 wurde ihr klar, dass sie keinen Sieg über ihre Krankheit erringen würde. Sie setzt ihr Testament auf. Da sie wusste, dass Aaron Klug mit Frau und Sohn unter finanziell schwierigen Bedingungen arbeiten musste, macht sie ihn zu einem der Haupt-Begünstigten. Im März 1958 ging sie wieder tageweise ins Labor. Aber bereits Ende März musste sie wieder in die Klinik.

Es geht zu Ende. Einer der letzten Besucher an ihrem Bett ist Jacques Mering. Er ist geschockt vom Anblick Franklins, die nur mehr aus Haut und Knochen besteht. 

Am 16. April 1958 stirbt sie im Alter von nur 37 Jahren. 

Nach ihrem Tod macht Bernal ihre Rolle als Wissenschafterin in einem Nachruf in Nature deutlich: Er bezieht sich auf die außerordentliche Klarheit, ja geradezu Perfektion ihrer Arbeit. Auch ihren Beitrag zum Verständnis der DNS versucht er deutlich zu machen, indem er die Rolle ihrer Röntgen-Aufnahmen verschiedener Formen der DNS herausstrich. Er schrieb:
"Ihre Fotografien gehören zu den besten Röntgenbildern die von irgendeiner Substanz je gemacht wurden. Diese Exzellenz war nur durch extreme Sorgfalt bei der Vorbereitung der Präparate möglich, sowie besonderem Geschick bei der Aufnahme selbst. Sie hat nahezu alle Arbeitsschritte selbst durchgeführt. Gleichzeitig war sie eine bewunderswerte Leiterin eines Forschungsteams und hat alle ihre Mitarbeiter zu ähnlichen Höchstleistungen angespornt. Selbst am Ende ihres Lebens hat sie noch herausragende Forschung geleistet. Obwohl sie um ihr Schicksal wusste, führte sie ihre Arbeit bis an ihr Ende fort."

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Weiterführende Information

Montag, 29. Oktober 2012

Max Perutz und das Geheimnis des Lebens


"1936 habe ich meine Heimatstadt Wien verlassen um den "großen Weisen" [Sage, Bernal] in Cambridge aufzusuchen. Ich habe ihn gefragt, 'Wie kann ich das Rätsel des Lebens aufklären?'. Er antwortete, 'Das Geheimnis des Lebes liegt in in der Struktur der Proteine, und Röntgenstrukturaufklärung ist die einzige Möglichkeit es zu lösen'"

Eine unbeschwerte Jugend in Wien

Max Perutz wird am 19. Mai 1914 in Wien in eine gutbürgerlicher Familie geboren. Sein Vater Hugo ist Textilfabrikant. Vater und Mutter Dely gehörten einer gebildeten und vergleichsweise wohlhabenden Gesellschaftsschicht an. Theater, Musik, Bücher umgaben Max von Kindheit an. Seine Eltern schicken ihn ins Theresianum in Wien, eine Schule mit dem Flair von Internationalität und Geld. Unter seinen Schulkameraden waren Söhne von Botschaftern und Adeligen. Und dennoch hatte gerade dieses Umfeld einen eher ernüchternden Einfluss auf Max. Der Umgang mit "Adeligen" hätte ihn für den Rest seines Leben von Snobismus jeder Art kuriert. Denn diese Leute waren keinen Deut gescheiter als alle anderen.

Trotz dieses Umfeldes sagt er von sich selbst, er wäre kein sehr ambitionierter Schüler gewesen; es hätte ihn wenig gekümmert, welche Noten er bekam. Einer der wenigen Lehrer, die Max beeinflusst hatten, war sein Chemielehrer. Dr. Arthur Praetorius hatte nicht nur an der Schule, sondern auch an der Technischen Universität in Wien unterrichtet. Max war von der Kompetenz des Lehrers beeindruckt. Eine Kompetenz und Motivation, die er offenbar bei anderen in dieser Form nicht wiederfand. Dr. Praetorius erlebte sogar noch den Nobelpreis seines ehemaligen Schülers Max Perutz. Aber wir greifen vor...

Das Interesse für Chemie hält nach der Schule an, und Max möchte Chemie studieren. Dieses Vorhaben stieß nicht gerade auf große Begeisterung bei seinen Eltern, besonders nicht bei seinem Vater. Denn sein Bruder studierte bereits ein Ingenieursstudium in der Schweiz (um die technische Seite der väterliche Firma übernehmen zu können). Für Max war das Jus-Studium vorgesehen. Welche Verschwendung eines naturwissenschaftlichen Talentes wäre das gewesen? 

Von Kindheit an war Max Perutz an den Bergen interessiert und ist in seiner Schulzeit auch hervorragender Skifahrer. Die Liebe für die Berge wird ihn bis an sein Lebensende nicht loslassen. Die Expedition im Sommer 1933 zeigt Perutz Verbundenheit mit der Natur. Er fährt mit studentischen Freunden in den Norden und gelangt bis zur arktischen Insel Jan Mayen, 600 km nördlich Islands, die nur eine meteorologischen Station beherbergte. Aber auch für seine spätere Karriere erweist sich der Bergsport als hilfreich. Max Eirich, einige Jahre älter als er selbst, lernt er beim Skifahren kennen. Eirich unterrichtet an der Universität Wien Chemie. Erst ihm gelingt es, Vater Hugo Perutz zu überzeugen, Max im Oktober 1932 Chemie studieren zu lassen. 

In einem späteren Interview sagt Perutz, er wäre nie besonders an Politik interessiert gewesen, sondern hätte sich lieber mit Bergsport beschäftigt. Ganz zutreffend dürfte diese späte Aussage besonders für die Zeit in Wien nicht gewesen sein. Es ist bekannt, dass er sich in den 30er Jahren sehr intensiv mit dem politischen Aufstieg Hitlers auseinandergesetzt hatte. Denn auch für jüdische Studenten begann das Leben in Wien zunehmend gefährlich zu werden. An den Universitäten patrouillierte nationalsozialistischer Mob, der nicht davor zurückschreckte, Studenten zu schikanieren oder zu verprügeln. Schon 1933 machte seine Familie erste Pläne nach Prag zu fliehen, sollten die Nazis in Österreich die Macht übernehmen. Aber noch bleibt die Familie Perutz in Wien.

1935 nahm er an einem Kurs für Eiweiß-Chemie des Chemikers Friedrich von Wessely teil. Dieser Kurs war für den weiteren wissenschaftlichen Weg wichtig, weil ihm zum ersten Mal klar wurde, welche Bedeutung die Chemie für das Verständnis biologischer Prozesse hat. Ausserdem stammten viele Beispiele aus diesem Kurs von Sir Frederick Gowland Hopkins aus Cambridge. In Wien wurde kaum nennenswerte Forschung in diesem Gebiet betrieben. So wuchs in Perutz der Wunsch nach Cambridge zu gehen, um sich in dieses Fach unter kompetenter Betreuung vertiefen zu können. Wieder erzählte er seinem Freund Eirich von seinen Plänen. Eirich hatte Kontakte nach Cambridge und verspach zu helfen. Nicht zuletzt galt es wieder die Bedenken seiner Eltern zu überwinden. Über mehrere Ecken wurde der Kontakt zu J. D. Bernal hergestellt, der sich auch bereit erklärte Perutz aufzunehmen. Damit war für Max Perutz die Entscheidung gefallen. Aber noch lange sind nicht alle Hindernisse überwunden... 

Auch fiel diese Entscheidung keinen Moment zu früh. Symbolhaft für die zunehmende Verschärfung  der Situation in Österreich – auch an den Universitäten – war die Ermordung eines Philosophen des Wiener Kreises. Moritz Schlick wurde im Juni 1936 von einem geistig verwirrten Studenten vor der Universität Wien erschossen. Zwar war Schlick kein Jude und der Student auch nicht politisch motiviert, aber Schlick hatte von seiner Ablehnung der Nazi-Ideologie in Vorlesungen keinen Hehl gemacht. Von faschistischer Seite wurde in der Folge die Tat des Mörders relativiert und sogar entschuldigt.

"It was Cambridge that made me" – Ankunft in Cambridge 

1936  kommt Max Perutz schließlich als Graduate Student  in das Labor von J. D. Bernal. Seine Eltern sorgten für die notwendige Ausstattung und finanziellen Mittel für die erste Zeit. Leiter des Cavendish Labs war Ernest Rutherford. Cambridge war aber nicht nur eine bedeutende Universitätsstadt, sondern auch ein Brennpunkt politischer Diskussion. So stellte er gleich bei seiner Ankunft fest, dass Bernal (und viele seiner Mitarbeiter) engagierte Sozialisten sind. Er war hauptsächlich an der wissenschaftlichen Arbeit interessiert und arrangierte sich mit den politischen Aktivitäten. 

Aber auch die Ankunft in Cambridge war nicht ohne Probleme. Denn seine Versuche schon vorweg in einem College aufgenommen zu werden waren nicht erfolgreich gewesen. Er entschied sich dennoch nach Cambridge zu kommen und zu versuchen, das Problem vor Ort zu lösen. Mit Hilfe eines Komilitonen und eines Empfehlungsschreibens vom "Weisen" Bernal gelang schliesslich die Aufnahme ins Peterhouse College, dem ältesten (1284 gegründeten) und kleinestem College in Cambridge.

Perutz macht sich an die (wissenschaftliche) Arbeit: Man hatte gerade entdeckt, dass chemische Rektionen in Zellen von Enzymen katalysiert werden, und dass Enzyme Proteine sind. Gene hielt man ebenfalls für Proteine. Man wusste aber so gut wie nichts über die Struktur von Proteinen, und schon gar keine Details über deren Funktionsweise. Die Aufklärung der Struktur von Proteinen wurde langsam als das zentrale Problem der Biologie erkannt. Bernal ist einer der Mentoren, die Perutz klar machen, wie bedeutsam die Struktur komplexer Moleküle für deren (biologisch) Funktion ist. Der Weg, die Struktur dieser Moleküle aufzuklären war, das betonte Bernal immer wieder, die Röntenstrukturanalyse. Bereits 1934 machte Bernal selbst einen bedeutenden Schritt mit der Aufnahme der ersten Protein-Kristalle (Pepsin).

Die Grundlagen der Röntgenstrukturaufklärung  wurden schon rund 20 Jahre zuvor gelegt. Kristalle sind sehr regelmässige Strukturen, in denen bestimmte Strukturen (Einheitszellen) sich immer wieder in großer Regelmässigkeit wiederholen. Max von Laue vermutete, dass die Wellenlänge von Röntgenstrahlung ungefähr in der Dimension dieser Strukturen liegen müsste. Daraus ergaben sich folgenreiche Experimente: bestrahlt man Kristalle mit Röntgenstrahlung so werden diese von den Atomen gebeugt. Aufgrund der Regelmässigkeit der Kristallstruktur erhält man (im Idealfall) sehr regelmässige Beugungsmuster auf einer fotografischen Platte. William Bragg erarbeiteten in der Folge grundlegene mathematische Prinzipien der Röntgenbeugung an Kristallgittern. All dies war zu der Zeit, als Max Perutz nach Cambridge kam, bereits bekannt. Aber bislang wurde im wesentlichen an einfachen (anorganischen) Kristallen gearbeitet. Bernal vermutete frühzeitig, dass sich diese Methode auch auf komplexere Moleküle anwenden ließe.

Strukturformel des Häm B
(Wikimedia Commons)
Die Strukturaufklärung von Proteinen ist aber im Gegensatz zur  Untersuchung einfacher anorganischer Salze eine wesentlich komplexere Problemstellung. Perutz war von diesen Fragestellungen begeistert und begann mit Hämoglobin zu arbeiten, einem komplexen Proteine, das bei vielen Tieren und auch beim Menschen die Funktion hat, Sauerstoff zu transportieren. Hämoglobin hatte den Vorteil leicht verfügbar zu sein und ist gleichzeitig eines der wenigen Proteine, das man kristallisieren konnte. Kristalle sind, wie gesagt, eine Voraussetzung für die Röntgenstrukturanalyse. Diesem Vorteil stehen aber erhebliche Probleme gegenüber: Jedes Hämoglobin Molekül besteht aus vier komplexen Untereinheiten. Jede dieser Einheiten enthält eine (nicht Protein) Häm-Gruppe. Diese Häm-Gruppe hat im Zentrum ein Eisen-Molekül an dem sich ein Sauerstoff Molekül binden kann. Ein Hämoglobin-Protein kann daher vier Sauerstoff-Moleküle transportieren. Wenn man sich vor Augen führt, dass die Masse der Häm-Gruppen nur rund 4 Prozent der Gesamtmasse des Hämoglobins ausmacht und Hämoglobin aus tausenden Atomen zusammengesetzt ist, kann man ermessen, wie komplex dieses Protein ist, und welche Herausforderung die Strukturaufklärung darstellte.


Bändermodell des Hämoglobins. Die vier grünen Teile sind die Häme (s.o.).
(Wikimedia Commons

Daher wurde die Arbeit an derart komplexen Molekülen von den meisten Wissenschaftern der Zeit auch als zu komplex erachtet. Als Perutz nach Cambridge kam, hatte man noch nicht einmal einfache Zuckermoleküle mit Röntgenstrukturaufklärung untersucht, und dennoch machte er sich an Proteine, die aus tausende von Atomen bestehen – vielleicht getrieben von jugendlichem Leichtsinn.  Derartiger "Leichtsinn" war schon des öfteren die Voraussetzung völlig neue Wege zu versuchen und dabei in manchen Fällen auch große Entdeckungen zu machen. Man denke nur an Marie Curie die jahrelang Tonnen von Gestein "auskochte" um kleinste Mengen von Radium darzustellen. Daran sieht man aber auch, dass  Begeisterung alleine natürlich nicht ausreicht. Was für Max Perutz folgt, ist über viele Jahre harte, oftmals repetitive und auch frustrierende Arbeit im Labor. Er stand auch mit Bernal in regelmässigem Kontakt. Er teilte ihm seine Forschungsergebnisse mit und bat ihn 1937 um Unterstützung, weil seine finanziellen Mittel zu Ende gingen.

1937 starb Ernest Rutherford. Sir Lawrence Bragg, der Begründer der Röntgenstrukturanalyse, folgt ihm als Cavendish-Professor nach. Sofern man dies über einen Todesfall sagen darf, war dieser Wechsel an der Spitze des Labors für Perutz ein Glücksfall. Die Schwerpunktsetzung des Labors änderte sich nun zu seinen Gunsten. Rutherford war als Entdecker des Atomkerns stark on Atomphysik interessiert. Bragg hingegen (als Begründer der Röntgenanalyse) interessierte sich besonders für die Arbeiten von Perutz. Bragg hatte die Methodik entwickelt und auf einfache anorganische Salze angewendet. Die Idee, dass diese Methode auch komplexe organische Moleküle untersuchen kann faszinierte ihn. 

Kriegswirren

Diese neue Anerkennung kommt für Perutz gerade zur richtigen Zeit. Denn mit der Machtübernahme Hitlers verfügt er über keine eigenen finanziellen Mittel mehr. Von seinen Eltern hatte er einen fixen Betrag für die erste Zeit erhalten, aber das Geld wird knapp. Bragg half ihm nun ein Stipendium der Rockefeller-Foundation zu bekommen. Aber nicht nur seine eigene, auch die Lage seiner Eltern wurde sehr schwierig. Sie waren mittlerweile vor den Nazis nach Prag geflohen. Es gelang Perutz mit erheblichem Aufwand seine Eltern nach Cambridge zu holen, wo sie gemeinsam in Emanuel Road 15 wohnten. Seine Mutter, gewöhnt an ein Leben in Wien mit großer Wohnung und hinreichend finanziellen Mitteln, konnte sich an die kleinen britischen Wohnungen und die neue Lebenssituation, geprägt von finanziellen Sorgen und neuer Umgebung, nicht gewöhnen. 

"Christ's Piece" Park in Cambridge mit Blick auf das ehemalige Haus von Max Perutz (links) 

Der Krieg brachte weitere Schwierigkeiten mit sich. Perutz wird als Österreicher mit einer Zahl anderer Einwanderer aus Österreich und Deutschland in Großbritannien interniert. Da viele der anderen ebenfalls Wissenschafter waren, gründeten sie eine Art Universität in ihrem Lager. Der langweiligen, aber vergeleichsweise gemütlichen Internierung in England folgt eine Abschiebung nach Kanada. Bernal und Bragg versuchten ihr Möglichstes Perutz das Lager in Kanada zu ersparen. Sie schrieben amerikanischen Kollegen um ihm zu einem Job an einer amerikanischen Universität zu verhelfen. Der Versuch scheiterte aber zunächst. Die Überfahrt und die Lager in Kanada waren alles andere als angenehm. Dazu kommt, dass von allen Kriegsgefangenen die Juden die schlechtesten Bedingungen erfahren. Nach etlichen Monaten sind die Bemühungen verschiedenster Professoren (unter ihnen auch Linus Pauling und die Rockefeller Foundation) erfolgreich. Perutz darf zurück nach Cambridge. In England lernte er dann auch seine spätere Frau Gisela Peiser (eine Deutsche) kennen.

Ende 1942 wurde er, obwohl er Österreicher war, und kurz zuvor noch interniert war, für die Kriegsforschung im Projekt Habbakuk eingesetzt. Allerdings wurden ihm die meisten Details des Projektes (wie er in einem Interview knapp vor seinem Tod erzählt) vorenthalten. Er machte sich dennoch einen Reim vom Umfang des Vorhabens. Der Kopf hinter Projekt Habbakuk war Geoffrey Pyke, ein eher unkonventioneller Charakter; ein Journalist, Lehrer und Erfinder. Das Projekt galt als streng geheime militärische Forschung. Kritiker sahen es eher als Science Fiction. Die Idee war, eine Art Flugzeugträger aus mit Holzstoff verstärktem Eis anzufertigen. Dieses bewaffnete Riesen-Schiff (oder schwimmende Hafen) hätte in der Mitte des Atlantik stationiert werden sollen. Perutz wurde als "Experte für Eis" hinzugegzogen, weil er 1938 bei einer Gletscher-Forschungs-Expedition in der Schweiz teilgenommen hatte.  Diese Arbeit erforderte nun längere Aufenthalte in London. Auch Bernal ist diesem Projekt zugeordnet. Letztlich schlief dieses Unterfangen nach etlichen Tests wieder ein. Die Idee war viel zu komplex, und das Herstellen eines derartig großen, künstlichen Eisberges wäre viel zu energieaufwändig gewesen.

1944 kehrte Perutz wieder zu seiner regulären Forschungstätigkeit nach Cambridge zurück. In diesem Jahr wird auch seine Tochter Viviene geboren.

Das Geheimnis des Lebens

"Die gesamte Chemie der Zelle hängt an Proteinen, sie sind die Arbeitstiere der Zelle. Alles Leben hängt an ihnen. In den 1930er Jahren war das prinzipiell klar, aber nur sehr wenig über die Funktion der Proteine bekannt.", Max Perutz
Das änderte sich nach dem zweiten Weltkrieg, und Max Perutz hatte wesentlichen Anteil an den neuen Erkenntnissen. Auch wuchs das Team um Perutz stetig. John Kendrew stieß 1945 hinzu und arbeitete mit einem zweijährigen Stipendium an einem sehr komplexen Problem, ebenfalls an Hämoglobin. Er verglich fötales mit adultem Hämoglobin. Dann drohte sowohl Perutz wie auch Kendrew wieder einmal das Geld auszugehen. Auch diesmal haben sie Glück und einflussreiche Fürsprecher: David Keilin, der mit Sir Edward Mellanby (Leiter des Medical Research Council) befreundet war, setzte sich für die beiden ein. In der Folge erhalten sie finanzielle Unterstützung vom MRC. Sie gründeten die erste Abteilung für Molekulare Biologie. Ein bedeutender Schritt vorwärts! Aber nicht nur für ihre Forschungstätigkeit in Cambridge. Ebenso bedeutend war die Tatsache, dass sich molekulare Biologie als eigenständige Disziplin zu formieren beginnt.

Diese neue Forschungsrichtung zog zahlreiche talentierte junge Forscher an. Zu den ersten zählten Francis Crick, James Watson und Hugh Huxley; allesamt begabte junge Wissenschafter, hoch motiviert aber noch mit (zu) wenig Kompetenz in Biochemie. Die Idee ein interdisziplinäres Labor zu gründen stand im Raum. In den späten 1950er Jahren stieß dann der bedeutende Biochemiker Fred Sanger, der gerade das Insulin sequenziert hatte, zu ihnen. (Insulin war das erste Protein, das man sequenzieren konnte. Unter Sequenzierung versteht man die Bestimmung der Reihenfolge der Aminosäuren, die ein Protein aufbauen.)

Obwohl es nach außen hin stetig voran geht, waren die 50er Jahre für Perutz eine schwierige Zeit. Bragg verlässt Cambridge und wird Direktor der Royal Institution in London und versucht mit allen Mitteln John Kendrew und dessen ganze Arbeitsgruppe nach London zu holen. Kendrew möchte einerseits Cambridge nicht verlassen, andererseits scheint er nicht besonders gerne mit Perutz zusammenzuarbeiten. Warum, ist für mich nicht mehr leicht nachzuvollziehen. Jedenfalls hatte Perutz kein Problem mit Kendrew, sondern unterstützte ihn nach Kräften bei dessen Forschungstätigkeit. Er selbst hatte in dieser Zeit verschiedenste private Probleme. Der Stress über die ungeklärte Zukunft des MRC macht ihm stark zu schaffen und wird immer wieder krank. Vielfach wird angenommen, dass es sich um psychosomatische Erkrankungen gehandelt hatte.

Trotz der Schwierigkeiten ist Max Perutz angesehen. Während Bragg Francis Crick nicht ausstehen konnte, erkannte Perutz dessen Talent. Crick bestätigt später, dass es eines von Max Perutz Talenten war, eine gute Arbeitsamtosphäre zu schaffen. Auch wird Perutz 1954 Fellow der Royal Society und gilt damit als einer der Top-Forscher Großbritanniens. (Die Initiative zur Ernennung kam wohl von "Sage", J. D. Bernal.)

Max Perutz
(c) Bildarchive der Nationalbibliothek Österreich
Perutz selbst kämpfte immer noch mit der Strukturaufklärung des Hämoglobins. Als er im Jahr 1937 mit der Strukturaufklärung eines Proteins begonnen hatte, glaubte außer Bernal kaum jemand daran, dass diese Arbeit von Erfolg gekrönt sein könnte. Und tatsächlich ist die Komplexität, das zeigt sich nach Jahren der Forschungsarbeit, enorm. Die Arbeit am sauerstofftransportierenden Hämoglobin begleitete ihn und sein Team auch noch für die nächsten 60 Jahre. Aber im Jahr 1951 gelingt ein entscheidener Durchbruch. Perutz kann einen Strukturvorschlag von Linus Pauling (Alpha-Helix) experimentell belegen! Er verfeinerte seine Methode und legte auch die experimentelle Grundlage für die Strukturaufklärung von Myoglobin durch John Kendrew. Perutz selbst beschreibt die Aufklärung der Proteinstruktur nach der langen Durststrecke mit der Entdeckung eines neuen Kontinents.

Perutz und Kendrew teilten sich für die Strukturaufklärung der ersten Proteine den Nobelpreis 1962. Perutz ist 48 Jahre alt und er empfand den Nobelpreis als große Anerkennung für lange Jahre der Forschungstätigkeit, in der er selbst häufig an seinen Fähigkeiten gezweifelt hatte.

Die Arbeit von Wissenschaftern wie Perutz und Kendrew machten aber eine weitere Sache deutlich: Rund hundert Jahre zuvor, hatte Charles Darwin ein neues Zeitalter der Biologie eingeläutet: Evolution ist seit damals das Fundament moderner Biologie. Nun wurde deutlich, dass sich Evolution nicht nur auf der Ebene von Lebewesen, Tieren, Menschen, Pflanzen abspielt, sondern auch auf molekularer Ebene zu beobachten ist. Ein Beispiel, das von Perutz immer wieder gebracht wurde, sind Mutationen des Hämoglobins, die es dem Lama erst ermöglichen in höher gelegenen Regionen zu leben. Denn diese Mutationen erlauben eine höhere Sauerstoffsättigung im Blut.

Das "neue" Medical Research Council Laboratory of Molecular Biology

Nach den Nobelpreisen 1962 stand der Finanzierung eines neuen Labors südlich von Cambridge nichts mehr im Wege. Noch 1962 zogen die Wissenschafter ein. Dieses neue Labor war tatsächlich die Zusammenlegung von 4 Labors:  Fred Sanger vom Biochemie Labor in Chambridge, vom Cavendish Labor John Kendrew, Francis Crick und seine eigene Gruppe, vom Birkbeck College Aaron Klug, Hugh Huxley vom University College London. Das neue Labor für Molekulare Biologie startete mit etwa 30 Mitarbeitern, die alle vom Medical Research Council bezahlt wurden und hatte nochmals etwa dieselbe Zahl an Studenten, und Besuchern. Auch die technische Ausstattung des Labors war beachtlich.

Die Verbesserung der Kommunikation zwischen Wissenschaftern und vor allem auch zwischen den Teams war immer ein Ziel von Perutz. Das begann beim Entwurf der Cafeteria und endet bei der Nutzung von Geräten. Diese wurden nicht einzelnen Gruppen oder Personen zugeordnet, sondern sollten gemeinschaftliche genutzt werden. Auch waren alle Türen ohne Schlösser. Dies galt selbst für Perutz, der seine Tür direkt auf den Gang, für alle zugänglich öffnete. Ein Gegensatz zur früher üblichen Abschirmung durch das Sekretariat.

Bemerkenswert ist auch die Weitsicht und der damit verbundene lange Atem, den das Medical Research Council unter Harold Himsworth an den Tag legte. Denn gerade in den ersten Jahren gab es wenig herzeigbare Erfolge. Nicht endloser Papierkrieg, sondern direkte Gespräche waren die Regel. Perutz schreibt später:
"Dieses System garantierte effiziente Arbeit, aber der Thatcherism hat nun viel davon zerstört. Unter der alles durchdringenden Regel der 'Rechenschaftspflicht' hat sich die Bürokratie vervielfacht und die Direktoren werden unter Bergen von Papier begraben, was ihnen kaum mehr Zeit für eigene Forschung lässt. Und Forschung war es, wofür sie ihre Positionen erhalten hatten, nicht  für das Ausfüllen von Formularen."
Perutz Motto war es, talentierte Leute einzustellen und sie das machen zu lassen, was sie interessierte. Seine Rechnung ging auf. Das von ihm gegründete Labor "produzierte" 13 (!) Nobelpreisträger.

Wissenschaft und Gesellschaft

Ein gerne übersehener Aspekt großer Forscher ist die Arbeit, die sie für die nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeit leisten. Einen Einblick in seine wissenschaftlichen Erkenntnisse aber auch in die Arbeit eines Wissenschafters gibt Max Perutz in mehreren Bücher wie: "Is Science Necessary" (1989), "Science is Not a Quiet Life" (1997), "I Wish I'd Made You Angry Earlier" (1998, 2002). 

In den 1960er Jahren stelltE er seine Forschung gemeinsam mit John Kendrew einer breiteren Öffentlichkeit in der BBC Serie "Eye on Science" vor. Auch war Perutz über die zunehmend wissenschaftsfeindliche Haltung der 1970er Jahre beunruhigt. Die Ansicht, Wissenschaft würde mehr Schaden als Nutzen anrichten, war ein (Mode-) Trend, vielleicht auch eine Gegenbewegung zu der Haltung der 50er und 60er Jahre. Sie schoss – so sah es wohl auch Perutz – weit übers Ziel hinaus. Er bemühte sich hier zu einer Objektivierung und Versachlichung der Diskussion beizutragen. Als Beispiel kann man einen Artikel im New Scientist nennen: "Why we need Science".

Er räumte sehr deutlich mit dem Mythos einer idyllischen und romantisierten Vergangenheit auf. Ein Bild, das wir leider bis heute in vielen Diskussionen implizit oder explizit wiederfinden. Er leugnete nicht die Gefahren, die neue Erkenntnisse und Technologien bringen können, stellt aber klar, dass diese immer im Verhältnis zum Nutzen betrachtet werden müssen. Ebenfalls eine Aussage, die wir uns heute wieder stärker zu Herzen nehmen sollten. Vielen Menschen ist überhaupt nicht klar, wie unser Leben ohne moderne Wissenschaft aussehen würde.

Gleichzeitig war Perutz aber kein Phantast, wie so manche Wissenschafter, die heute Bestseller schreiben, in denen alleine Wissenschaft und Technik die zunehmenden Probleme der Menschheit lösen werden und zu einer vermeintlichen Singularität, einer merkwürdig verklärten und romantisierten totalen Verschmelzung von Mensch und Maschine führen soll. Er war sich der Grenzen moderner Wissenschaft bewusst und kritisierte übertriebene Versprechungen anderer.

Die letzten Jahre

Wie viele Forscher seines Kalibers kannte er das Wort Ruhestand oder Pension nicht. 2001, im Alter von 87 veröffentlicht er noch eine wissenschaftliche Arbeit, gemeinsam mit Alan Windle, im angesehenen Fachmagazin Nature. Im gleichen Jahr wurde Leberkrebs diagnostiziert. Er arbeitete dennoch bis fast zum Ende.

Max Perutz stirbt nach einem langen Leben für die Wissenschaft im Februar 2002.

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Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)