Dienstag, 20. Juli 2010

Das Phlogiston, oder Kampf der Theorien

Ich beschäftige mich gerade relativ intensiv mit Wissenschaftsgeschichte, unter anderem mit einem meiner Lieblingsthemen, dem Phlogiston. Ich finde das Thema aus mehreren Gründen spannend, in diesem Artikel sollen aber nicht die chemischen und historischen Details im Vordergrund stehen, sondern vielmehr wie gut Entwicklung und Fall der Phlogiston-Theorie verschiedene in der Geschichte immer wiederkehrende Aspekte des Wissenschafts-Prozesses offenlegt.

Aber ganz kurz aber ein Überblick über die Theorie und einige wesentliche Proponenten: Im 16. und 17. Jahrhundert waren die meisten Konzepte der modernen Chemie, auch solche die heute als Allgemeinbildung gelten, noch völlig unbekannt. Beispielsweise die Existenz der Gase Sauerstoff, Wasserstoff und CO2, oder die Tatsache, dass Wasser eine Verbindung von Wasserstoff und Sauerstoff ist. Auch der Unterschied bzw. Zusammenhang zwischen frei werdender Energie und stofflichen Umsetzungen war nicht klar. Verbrennt Wasserstoff (H2) mit Sauerstoff (O2) zu Wasser (H2O) so kann man dies aus der Sicht der chemischen Reaktion (der stofflichen Umsetzung) betrachten, gleichzeitig aber wird bei dieser Umsetzung  auch Energie frei.

Verbrennung an sich wurde natürlich beobachtet, aber eine Theorie dieses Phänomens fehlte weitgehend. Der deutsche Arzt und Chemiker Georg Ernst Stahl kam zu er Überzeugung, dass bei der Verbrennung etwas entweichen müsse. Diese Substanz nannte er Phlogiston. Daraus folgte unter anderem (1) Stoffe mit hohem "Phlogistongehalt" verbrennen besser als solche mit niedrigerem und (2) die Verbrennung läuft heftiger ab, wenn die Luft weniger mit Phlogiston gesättigt ist.

Diese Theorie war aufgrund der Faktenlage der damaligen Zeit durchaus nicht absurd, und konnte einige Phänomene gut erklären. Problematisch wurde es allerdings ab dem Zeitpunkt, wo Wissenschafter wie Lord Cavendish sowie Joseph Priestley in Experimenten Gase erzeugen konnten die offensichtlich von "normaler" Luft verschieden waren. Cavendish erkannte sogar dass die Verbrennung eines Gases, das er erzeugt hatte Wasser ergab. Das Gas war natürlich Wasserstoff (H2):

2 H2 + O2 ---> 2 H2O

Cavendish und Priestley hatten also vermutlich als erste Wasserstoff und Sauerstoff erzeugt. Allerdings, und an dieser Stelle wird es wirklich interessant, interpretierten Cavendish und Priestley die Ergebnisse nach heutigem Verständnis völlig falsch – eben auf Basis der Phlogiston Theorie. Wasserstoff wurde als "brennbare Luft", Sauerstoff als "enthphlogistierte Luft" bezeichnet. Letzterer nach der Logik, dass die Verbrennung umso stärker ablaufen kann je weniger Phlogiston in der Luft schon enthalten sind.

Selbst die Tatsache, dass die Rückstände mancher Substanzen (beispielsweise von Metallen) nach der Verbrennung schwerer sind als zuvor (weil Metalloxide gebildet werden) löste bei vielen Vertretern der Phlogiston-Theorie keine nennenswerten Zweifel aus. Wäre die Theorie richtig, würde man wohl eher das Gegeteil erwarten: eine Substanz (das Phlogiston) sollte ja die brennende Substanz verlassen, folglich sollten die Rückstände leichter nicht schwerer werden. Einige Vertreter der Phlogiston-Theorie schlugen daher eine negative Masse des Phlogistons vor! Erst Lavoisier (siehe Abbildung rechts) in Frankreich zog die richtigen Schlüsse aus der Vielzahl an Experimenten und verwarf die Phlogiston-Theorie zugunsten der Entdeckung neuer chemischer Elemente. Damit gilt er zurecht als einer der bedeutendsten Naturwissenschafter der Zeit.

Und damit komme ich zum Kern dieses Artikels. Die Phlogiston-Theorie illustriert meiner Ansicht nach eine Reihe von Mechanismen, die in der Geschichte der Wissenschaft – im Wechselspiel zwischen Generationen von Forschern, neuen Experimenten und vorhandenen Theorien – immer wieder zu beobachten sind:

(1) Es liegt ein mangelndes oder falsches Verständnis elementarer Prozesse vor (chemische Elemente, Energieübergänge, chemische Reaktionen)

(2) Ein Phänomen, das auf diesen elementaren Prinzipien aufbaut (Verbrennung), wird zu erklären versucht

(3) Für die Interpretation der Experimente – und das ist einer der wesentlichsten Punkte – ist die etablierte Theorie (Phlogiston) ausschlaggebend. An dieser Stelle wird auch klar ersichtlich, warum rein empirische Ideen nicht funktionieren können: Experimente können nicht im "luftleeren" Raum geplant, durchgeführt und interpretiert werden. Gewisse Ideen über die Natur, das System müssen vorhanden sein um ein sinnvolles Experiment durchführen zu können. Beispielsweise muss ich wissen oder wenigstens die Vermutung haben, dass es "Verbrennung" gibt und dass Substanzen sowie Luft (nach damaligem Wissensstand) daran beteiligt sind. Wie sonst sollte ich auf die Idee kommen Gase zu verbrennen und die Rückstände zu analysieren?

(4) Kommt es infolge dieser Interpretationsversuche zu erheblichen Ungereimtheiten (wie einer Massen-Zunahme bei der Verbrennung von Metallen) erfolgt häufig von den Vertretern der "alten" Theorie (Phlogiston) eine Modifikation derselben. Dies ist zunächst nicht verkehrt. Viele Theorien sind ja nicht sofort obsolet wenn widersprüchliche Erkenntnisse auftauchen, sondern bedürfen entsprechender Korrekturen. Ab einem bestimmten Punkt (Annahme der negativen Masse des Phlogistons, Äther der von der Erde mitbewegt wird usw.) werden die Modifikationen aber geradezu absurd. Und dennoch schaffen es viele Vertreter der alten Schule selbst an diesem Punkt nicht die Grundannahmen zu hinterfragen. Auch im 20. Jahrhundert findet man derartige Beispiele, etwa in der Diskussion zwischen Vertretern der Big Bang und der Steady State Theorie um Fred Hoyle.

(5) Meist folgt dann eine Spaltung in mehrere Lager, die häufig auch noch hart umkämpft sind. Die (meist älteren) Vertreter der "alten" Theorie mit noch größerer Autorität bestimmen häufig die Diskussion für eine Zeit. Lord Cavendish aber auch Joseph Priestley waren bis zu ihrem Tod heftige Verfechter der Phlogiston-Theorie, obwohl sie eigentlich selbst die Grundlage zu deren Ablösung gelegt hatten. Auch kämpfen die (meist jüngeren) Vertreter der "neuen" Theorie noch mit den Unzulänglichkeiten der neuen Theorie. Diese ist oft noch nicht so gut ausgearbeitet und führt damit im Detail oft zu schlechteren Vorraussagen als die (an sich falsche) ältere Theorie. Dies konnte im Streit um die Äther-Theorie aber auch in der Diskussion zwischen Vertretern des geo- und heliozentrischen Systems beobachtet werden.

Entgegen der häufigen Annahme ist es eben nicht so, dass das heliozentrische System einfach besser war und nur durch die Autorität der Kirche unterdrückt wurde. Zwar gab es diese Unterdrückung, aber auch auf rein wissenschaftlicher Ebene erlaubte das über lange Zeit ausgearbeitete geozentrische Modell (wenn auch mit komplexen Planetenbewegungen auf Epizyklen) deutlich bessere Voraussagen als das zunächst noch mangelhafte heliozentrische Modell. Erst die weiteren Modifikationen und Verbesserungen etwa durch Kepler (Ellipsenbahnen, Keplersche Gesetze) brachten dann endlich den wissenschaftlich gerechtfertigten Umschwung.

(6) Auch der Tod ist häufig ein wichtiger Faktor für den Meinungsumschwung in der wissenschaftlichen Community; wie Max Plank es ausdrückte: "Eine neue große wissenschaftliche Idee pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner allmählich überzeugt und bekehrt werden – daß aus einem Saulus ein Paulus wird, ist eine große Seltenheit – sondern vielmehr in der Weise, daß die Gegner allmählich aussterben und daß die nachwachsende Generation von vornherein mit der Idee vertraut gemacht wird." Ich denke, dass diese Ansicht etwas zu radikal ist, aber die tiefe menschliche Dimension des Fortschrittes von Ideen zeigt.

(7) Der Umschwung: Letztlich erkennt die Mehrheit der Wissenschafter eines Fachbereiches, dass die neue Theorie gegenüber der alten zu bevorzugen ist, bzw. die alte nur ein Spezialfall der allgemeingültigeren neuen Theorie ist. Es tritt eine neuen Phase, oder, wie Kuhn es ausgedrückt hat, ein neues Paradigma in Kraft.

Eine Schlussbemerkung sei trotz des langen Artikels noch erlaubt: Man darf auch nicht vergessen, dass in historischer Betrachtung, also aus unserem heutigen Blickwinkel, manche Streitigkeiten und das Festhalten an bestimmten Ideen lächerlich wirken mag. Derartige Beurteilungen sollten aber mit Vorsicht geschehen. Mit dem Wissen der heutigen Zeit, mit dem Wissen um die konkreten Irrtümer der Vergangenheit, mit dem Wissen um neue empirische Ergebnisse, lässt sich leicht über die "Starrsinnigkeit" Einzelner urteilen. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass in der wissenschaftlichen Diskussion laufend irgendjemand irgendwelche "alternative" Theorien vorschlägt. Die meisten dieser Vorschläge sind aber einfach falsch oder unsinnig.

Ein gewisses Beharrungsvermögen ist also durchaus im Sinne des Fortschrittes notwendig. Radikale neue Ideen erfordern auch herausragende Evidenz, besonders wenn sie gegen sehr erfolgreiche vorhandene Theorien antreten wollen. Wäre die Wissenschaft laufend von einer "gut klingenden" Idee zur nächsten gehüpft, wären wir mit Sicherheit nicht an dem Punkt des Wissens angelangt an dem wir uns heute sehen.

1 Kommentar:

Cangrande hat gesagt…

Vielleicht von Interesse:

Hier (http://modeledbehavior.com/2011/09/20/pre-copernican-models-and-economic-forecasts/) vergleicht jemand (wenn auch nur beiläufig) den Stand der Wirtschaftswissenschaften mit der prä-Phlogiston-Chemie.

Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)