Dienstag, 1. Juli 2008

Das Beschleunigungs-Paradoxon

In einer der letzten SWR2 Aulas spricht Prof. Rosa über die zunehmende Beschleunigung vieler Aspekte unserer Gesellschaft ("Immer schneller und immer oberflächlicher" gibt es sowohl als Audio als auch als Transkript).

Ich stimme den Ausführungen von Prof. Rosa weitgehend zu, allerdings meine ich, dass das Problem in Wahrheit noch deutlich tiefer ist als besprochen. Er spricht u.a. von verschiedenen Bemühungen der "Verlangsamung" (wie Slow Food, Slow Cities und andere historische Beispiele) und dass diese historisch immer gescheitert sind. Er analysiert weiters, dass unsere Bemühungen effizienter und schneller zu sein oft ein Schuss nach hinten sind, und de facto die Beschleunigung zusätzlich anheizt. Auch mit den genannten Problemen die bis zu schweren persönlichen Störungen wie Depressionen führen können.

Ich schließe mich im wesentlichen all diesen Ausführungen an aber ich denke, dass wir es mit einem viel fundamentalerem Problem zu tun haben. Wir haben es in den letzten Jahrhunderten mit einer exponentiellen Entwicklungen auf verschiedenen Ebenen zu tun wie der Bevölkerungsexplosion. Gleichzeitig haben wir Menschen Wissenschaft und Technik "entdeckt". Beide Phänomene lösen aber einen Wettlauf aus der systemimmanent und nicht etwa geplant ist. Sobald wir beginnen Technik einzusetzen, und dies auf globalem Massstab (der wieder exponentiell wächst) treten wir eine Lawine los. Man könnte sagen, Wissenschaft und Technologie funktionieren immer nur mit einem Kredit auf die Zukunft. Um dies etwas genauer auszuführen:

Eine wesentliche Überlegung ist folgende: Egal welchen Stand der technischen Entwicklung der letzten 200 Jahre (oder mehr) wir betrachten, keiner ist nachhaltig. Entweder ginge (ganz verkürzt gesagt) bei einer Stagnation auf einer Entwicklungsstufe irgendein oder mehrere Rohstoff(e) aus, oder die Menschen leiden so substantiell an den Effekten, dass sie die Situation verbessern wollen (oder müssen). Jeder Versuch der Verbesserung ist oft tatsächlich eine solche (kurfristig) führt aber fast immer zu einer noch veschärften Problematik (in einem anderen Bereich) dies dann aber langfristig. Aus Optionen werden Zwänge...

Dieser Kreis ist nur ganz schwer zu durchbrechen, falls überhaupt.

Dazu kommt die ebenfalls stark zunehmende Furcht jedes Einzelnen vor allen Anderen. Früher haben wir uns mit unseren Nachbarn gemessen. Da konnte man sich auch in Frieden mit gewissen Unterschieden arrangieren (das "Gesetz" der kleinen Gruppe). Heute arbeitet jeder von uns de facto in einer globalen Konkurenz (ganz besonders in der Wissenschaft und Technik). Auch die Zahl der Wissenschafter und Techniker hat nun exponentiell zugenommen. Dies ist auch notwendig um die immer komplexeren Technologien kontrollieren zu können. Aber das nur am Rande.

Nun fühlt sich jeder unter Druck (global) und das führt zu einer weiteren Beschleunigung. Dazu kommt, dass niemand hinter erreichten Wohlstand zurückfallen möchte und wohl auch korrekt annimmt, dass an ihm alleine, an seinem Konsum, Resourcenverbrauch alleine die Welt ja nicht zugrunde gehen wird. Warum sollte also er sich alleine reduzieren, und die anderen tun es ja auch nicht (die Peer-Group-Psychologie funktioniert nunmal nicht global...). In Summe aber... (siehe Chris Jordan). Da dann doch besser gemeinsam untergehen als vorher auf etwas verzichten.

Weiters kommt dazu, dass wir nicht in der Lage sind exponentielle Vorgänge als solche wahrzunehmen, wir laufen also auch in den Abgrund weil das Tempo nicht korrekt erkennen und die tatsächliche Lage erst viel zu spät als ernsthaft wahrnehmen.

Und die Politik? Die die stark vernetzen Systeme und deren gegenseitigen Wirkungen gar nicht mehr erkennen und schon gar nicht mehr steuern kann? Aber das führt in eine andere Diskussion.

Chancen

Gleichzeitig ist diese Beschleunigung aber vermutlich auch unsere (kurzfristig?) einzige Chance. So paradox das auch klingen mag. Die Beschleunigung ist Fluch und einzige Chance zugleich. Nehmen wir ein konkretes populäres Beispiel, die globale Energieversorgung:

Wenn wir hier unsere globalen Bemühungen in der Suche und Entwicklung von Alternativen nicht noch dramatisch beschleunigen sondern im status quo stagnieren, passiert etwa folgendes: die fossilen Energieträger werden langsam aber sicher zur Neige gehen und kontinuierlich im Preis steigen. Damit gerät Wirtschaft und Gesellschaft die von dieser Energieform total abhängig geworden ist in eine Situation für die sie keine Alternativen parat hat. Dies muss in einer globalen Katastrophe enden.

Dies kann kaum wünschenswert sein. Kurzfristig ist allerdings die andere Alternative: nämlich die Anzahl der Menschen oder den globalen Verbrauch erheblich zu reduzieren kaum machbar, jedenfalls nicht ohne ebenfalls beschleunigte Forschung und politische Aktivität die signifikant über die heutige hinausgeht.

Gut, hier können wir also nicht entschleunigen. Beschleunigen wir aber in dieser Sache, so könnten wir mit viel Glück (!!) diese Hürde noch mit zwei blauen Augen meistern. Aber gleichzeitig ist es sehr wahrscheinlich, dass wir das nächste Problem lostreten, von dem wir jetzt noch gar nichts wissen. Man denke an versuche mithilfe von gentechnischer Manipulation Bakterien zu züchten die ganz vereinfacht ausgedrückt in großtechnischem Massstab CO2 in Energie umwandeln können (Craig Venter forscht beispielsweise in dieser Richtung s. TED talk 2005, oder besser TED talk 2008). Dies wäre eine wunderbare Alternative, gleichzeitig ermöglicht natürlich dieses Wissen auch die Produktion von Bakterien, die wir uns gar nicht vorstellen wollen.

Fazit

Also der langen Rede (relativ) kurzer Sinn, wir haben ein viel fundamentaleres Problem, denn wir stehen vor dem Dilemma, dass Beschleunigung lebensbedrohlich und gleichzeitig lebensnotwendig ist (notwendig aus gesellschaftlichen, technologischen, wissenschaftlichen und psychologischen Gründen, die ich oben nur kurz anreissen konnte).

Ich denke, dass wir daher nicht einfach die Beschleunigung beenden können, weil schlicht und ergreifend unser Leben davon abhängt. Allerdings sollten wir auch nicht so weitermachen wie bisher. Wir können nicht im Sinne eines Umsturzes unser System ändern, aber wir sollten bei allen weiteren Schritten die wir als Gesellschaft unternehmen Aspekte der Nachhaltigkeit, systemische Effekte und Seiteneffekte frühzeitig versuchen zu bedenken. Die Idee wäre es, zu versuchen auch die Wurzeln unserer Probleme zu suchen und zu versuchen neben "Quick Fixes" (die so schnell ja gar nicht sind, nur "quick" in dem Sinne, dass sie relativ leicht in unser bestehendes System eingeführt werden können) um die wir kurzfristig nicht umhinkommen auch die Ursachen der Probleme zu bekämpfen wie die Bevölkerungsexplosion, Wucherungen des Kapitalismus, Umweltzerstörung, um nur wenige zu nennen.

Ja, es wird immer komplizierter aber das ist der Preis den wir fürs Überleben werden zahlen müssen.

Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)