Mittwoch, 26. Dezember 2007

Unsere Zukunft im "Leapfrogging"?

Ich habe ja hier schon einen Artikel über die Idee des Leapfrogging geschrieben und dort meine Skepsis zum Ausdruck gebracht. Kürzlich verbrachte ich einen Monat in Asien: in Hong Kong und v.a. in Indonesien (Java, Bali, Sumatra) und da verliert man eher die Visionen über die Entwicklung Asiens und damit enger verbunden als den meisten von uns klar ist, der Welt: Über Hong Kong braucht man kaum sprechen, dort wird, wie offensichtlich in den meisten großen asiatischen Städten, Strom verschwendet als gäbe es kein morgen (Stichwort: Geschäftslokale auf Kühlschrank-Temperaturen klimatisiert und dies bei offener Tür). Obwohl, um wieder einmal abzuschweifen, auch wir in Europa tendentiell in vielerlei Hinsicht sicher nicht effizienter sondern ineffizienter werden. Im Oktober in Wien bspw. konnte ich meinen Augen nicht trauen als ich Eisgeschäfte gesehen habe, die ihren ganzen Schanigarten mit Gas-Heizgeräten gewärmt haben um länger im Freien Eis verkaufen zu können. Ähnliches soll sich in Großbritannien im Herbst und Winter vor Pubs abspielen um den Rauchern den Aufenthalt im Freien angenehmer zu machen. Auch in privaten Gärten erleben die Gasheizer einen Boom. Es ist eines einen Wohnraum zu heizen, aber wie zurückgeblieben sind wir, dass wir große Mengen an Erdgas verbrennen um es im Freien in einem ganz engen Radius etwas wärmer zu haben?!
Zurück nach Asien: noch nachdenklicher hat mich natürlich Indonesien sowie ein Artikel gemacht, der auf eine neue Auto-Produktion in China hinweist, Tata Cars: diese Firma möchte PKWs für unter 3000 $ herstellen um eine große Menge an Menschen in Indien, China usw. zu versorgen. (Tata Cars, Worldwatch.org: Indian cars for under 3000 $)

Auf der einen Seite ist es ein klar, dass Inder und Chinesen dasselbe Recht auf Mobilität haben wie wir Europäer und Amerikaner, auf der anderen Seite bedarf es keiner großen Phantasie, dass (derartige) Autos in großer Zahl eine Katastrophe für jede Bemühung darstellen den Treibhausgas-Ausstoss zu verringern um den Klimawandel etwas weniger katastrophal zu halten. Was ebenso wichtig ist, es torpediert natürlich auch jedes Konzept der Planung vernünftiger und nachhaltiger öffentlicher Transportinfrastruktur (Leapfrogging im Bereich der Stadtplanung) , wie man ganz leicht in Städten wie Jakarta, Teheran oder Medan sehen kann. Der ungebremste und ungesund billige Autoverkehr dupliziert die Fehler die v.a. in den USA auf großem Massstab vorlgelebt wurden. Es ist weiters auch klar, dass diese Autos bei diesem Preis kaum über modernes Motormanagement verfügen werden bzw. auf besondere Effizienz hin entwickelt werden.

Welche Plätze auch immer ich in diesen Ländern besucht habe, es war der massive Drang nach mehr Kommunikationsmitteln (Mobiltelefonie, Internet) sowie Mobilität zu spüren. Auf Sumatra, ebenfalls einer großteils recht unterentwickelten Region in Indonesien boomen wie fast überall die Motorräder. Auch diese sind sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss was Effizienz und Umweltbelastung betrifft, und der Trend ist klar: jeder der heute ein Moped besitzt möchte in den nächsten Jahren ein Auto fahren, und zwar ein möglichst großes.

Folgt man der Idee des Leapfrogging, so müssten gerade diese Regionen mit den modernsten Technologien aufrüsten, also z.B. Elektroautos mit Strom der aus Solaranlagen gewonnen wird. Tatsächlich ist (s.o.) genau das Gegenteil der Fall. Es werden die Fahrzeuge dort gebaut und verkauft, die in Europa und Amerika sicher keinen Abnehmer mehr finden würden, und die Energieversorgung geht ganz konventionelle Wege, sprich baut auf fossilen Energieträgern. Ein paar Beispiele:

Der Campus den ich auf Indonesien besucht hatte verfügt natürlich über Warmwasser-Aufbereitung (z.B. für Duschen). Nun liegt Sumatra nahe dem Äquator und der Leapfrogging Idee zu Folge würde es Sinn machen das Warmwasser über Sonnenkollektoren zu produzieren. Tatsächlich findet man elektrische Boiler, die noch dazu von einem lokalen Dieselaggregat mit Energie versorgt werden, weil das Stromnetz derartig überlastet und unzuverlässig ist, dass eine durchgehende Stromversorgung kaum garantiert ist. Nun muss man bedenken, dass eben dieser Campus aber zu den fortschrittlichsten Punkten in der Region zählt, und der Direktor ein wirklicher Visionär im positiven Sinne ist. Er hatte bspw. die Idee der Solarthermie schon angedacht aber sie war mangels Verfügbarkeit der Materialien und wegen mangelnden Wissens der lokalen Arbeiter und Techniker bis jetzt nicht umsetzbar.
Dies scheint auch eine wichtige Lehre zu sein: Es ist eine ehrewerte Idee Entwicklungsländer mit modernen und effizienten Technologien versorgen zu wollen, nur kann dies nur dann funktionieren, wenn die entsprechenden Anreize vor Ort gegeben sind, sich mit diesen Technologien auch entsprechend vertraut zu machen und diese selbst warten zu können. Andernfalls führt dies zu einer für diese Gegenden nicht zu bezahlenden Abhängigkeit zu den Lieferanten. Dazu kommt: wenn jedes Ersatzteil inklusive Techniker aus Jakarta eingeflogen werden muss, ist es mit der Energieeffizienz auch nicht mehr weit her.

Weiters beginnt man scheinbar in Indonesien nun ebenfalls die reichlich vorhandenen Kohle-Vorkommen wiederzuentdecken. Der massiv steigende Energiebedarf und die Tatsache, dass weit entfernte Regionen zu versorgen sind legt dies ökonomisch betrachtet auch nahe. Eine "klare" und nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten logische Strategie wie man an China erkennen kann; meines Wissens nach wird zur Zeit eben in China etwa alle 10 Tage ein neues Kohlekraftwerk gebaut. Derselbe Trend könnte sich in Indonesien abzeichnen. Von einem Land mit massiver Wasserkraft hin zu Kohlekraftwerken.

Wie so häufig in einer verkehrten Wirtschaftswelt: ökonomisch betrachtet kurzfristig sinnvoll,für die Menschen, die Gesellschaft, die Umwelt und natürlich auf für die Wirtschaft langfristig betrachtend aller Voraussicht nach verheerend. Und wichtig zu ergänzen: nicht nur für Menschen, Umwelt und Wirschaft in Indonesien, sondern in einer "flachen" Welt natürlich für die ganze Welt.

Samstag, 15. Dezember 2007

Ewige Wahrheiten, eine Weihnachtsgeschichte

"Truth, in matters of religion, is simply the opinion that has survived", Oscar Wilde
Sollte man nicht erwarten, dass heilige Bücher wie z.B. die Bibel, die ja, glaubt man den Vertretern der jeweiligen Religion, "direkt" von Gott stammen, wenn sie auch durch menschliche Interpreter niedergeschrieben wurden in einer Weise "ewige" Wahrheit sein sollten? Nun gibt es auch heute noch orthodoxe Gläubige, z.B. solche die die Bibel wörtlich auslegen: Über das, was hier zustande kommt, braucht man einem einigermassen aufgeklärten Publikum wohl kaum zu berichten (man denke an die Erschaffung des Menschen, der Erde, die hier angenommenen bzw. aus der Bibel "ausgelesenen" Zeiträume, sowie die Ablehnung der Evolution usw.), hier haben wir es dann ganz offensichtlich mit ewigen Dummheiten und nicht Wahrheiten zu tun.

Im westlichen (ausgenommen amerikanischen) aufgeklärten Kontext ist dies ohnedies eine relativ bedeutungslose Minderheit. "Wir" in Westeurope sind hingegen häufig stolz darauf (also ich weniger, aber anscheinend große Teile der Gesellschaft), dass die meisten Gläubigen hier die Bibel zeitgemäß interpretieren. Die Religionsführer (Pfarrer, Bischöfe, ...) werden dann entweder elegant links liegen gelassen oder sind auf diesen Trend eingeschwenkt.

Nun, das mag aus meinem Mund eigenartig klingen, aber dieser Trend zur Neuinterpretation ist zwar eine sehr menschliche Vorgehensweise, in Wahrheit aber eine Bankrotterklärung die mit Wahrheit nichts zu tun hat. Die Schritte die man erkennen kann sind etwa folgende: Man stellt zunächst fest, dass die Inhalte die bspw. durch die Bibel sowie durch die Religionsgemeinschaften über Jahrhunderte verbreitet wurden "beim besten Willen" nicht mehr tragbar sind. Sie sind jedem intelligenten Menschen nicht mehr zumutbar. Nun tritt das psychologisch interessante Phänomen ein: Die Gläubigen haben nicht den Mut, die klaren Konsequenzen zu ziehen, den fragwürdig gewordenen Glauben zu bezweifeln und bessere Wege zu suchen. Dies ist natürlicherweise für viele schwierig, weil hier erhebliche "Investitionen" gemacht wurden. Immerhin hat man (man erlaube mir den Kalauer) vor Gott und der Welt über lange Zeit behauptet, dass man eben hinter diesem Glauben und den jeweils dazugehörigen heiligen Schriften steht. Nun stellt man aber fest, dass dies beim besten Willen nicht mehr haltbar ist, was also ist die Lösung:

Die zeitgemäße Interpretation.

Und fort ist die ewige Wahrheit, und niemandem ist es aufgefallen, dass diese auf dem Weg der Interpretation hinten runter gefallen ist. Fällt es uns wirklich so schwer, die richtigen Konsequenzen zu ziehen?

Machen wir ein Gedankenexperiment mit ein paar zugegeben unwahrscheinlichen aber notwendigen Annahmen: (1) Es gibt einen Gott (2) dieser hatte einen Sohn der (3) auf die Welt gekommen ist um uns (4) göttliche Wahrheiten zu offenbaren die es (5) in eine "heilige" Schrift geschafft haben, die (6) die Basis für Millionen Gläubige ist.

Nun stellen wir heute (zurecht!!) fest, dass dieser Text und die darauf aufbauenden Kirchen über weite Strecken schlicht und ergreifend unakzeptabel geworden ist. Was lernen wir nun daraus? Nicht etwa, dass die obigen Annahmen vielleicht falsche waren, und wir die entsprechenden Konsequenzen ziehen müssen. Nein! Wir schließen daraus, dass diese fragwürdigen Annahmen unbedingt (warum eigentlich??) gehalten werden müssen und stellen damit fest, dass Gott nicht in der Lage war sich in seinen heiligen Texten klar auszudrücken (bzw. seine Propheten nicht unter Kontrolle hatte dies zu tun), und es folglich unserer Weisheit bedarf seine fragwürdigen Aussagen interpretativ gerade zu ziehen.

Das ist doch eigenartig, oder nicht? In diesem Sinne sind doch wohl die bibeltreuen und sonstigen orthodoxen Gruppen die ernsthafteren und auf eine ganz eigenartige Weise die ernst zu nehmenderen Gläubigen. So furchtbar natürlich deren Lebenspraxis und Glaube häufig ist; er ist immerhin konsistent! Auch wenn sie die Realität vollständig auszublenden müssen um eine Schrift und deren angenommene Wahrheit zu verteidigen.

Sie zeigen uns damit unbewusst die volle Absurdität der "überlieferten" Wahrheit! Warum wollen wir das nicht erkennen und endlich die richtigen Schlüsse ziehen: nämlich dass man sich von bestimmten lieb gewordenen Angewohnheiten einfach auch mal trennen können muss, wenn deren Absurdität so offensichtlich geworden ist.
"[...] the evidence of history makes it clear that, as time has passed, people's moral sense about what is permissible and what is heinous has shifted, and along with it their convictions about what God loves and hates.", Daniel C. Dennett, Breaking the Spell, Penguin (2006)
Erkennen wird doch endlich, dass es keine metaphysischen Eingebungen und vor allem keine ewigen Wahrheiten gibt. Was sich z.B.in der Bibel manifestiert sind nichts anderes als Vorstellungen die von Menschen der Zeit eingebracht wurden, die zum Teil auf alte historische Quellen und Traditionen wurzeln. Dies ist der Grund, warum die Bibel heute nicht mehr relevanter ist als viele andere Texte der Zeit ist (und in einem solchen historischen Kontext durchaus studiert werden kann, Seite an Seite mit Platos Gesellschaftsvorstellungen und Aristoteles' Ethik.) und warum es keine einzige historische Gottesvorstellung gibt, die die Zeit überdauert hätte. Ein wahrer Gott hätte das nicht verdient, lernen wir daraus!
"[...] modern theists might acknowledge that, when it comes to Baal and the Golden Calf, Thor and Wotan, Poseidon and Apollo, Mithras and Ammon Ra, they are actually atheists. We are all atheists about most of the gods that humanity has ever believed in. Some of us just go one god further.", Richard Dawkins quoted in Daniel C. Dennett, Breaking the Spell, Penguin (2006)

Donnerstag, 29. November 2007

Es ist ja "nur Geld"?

In öffentlichkeitswirksamen Diskussionen wird fallweise das "Killerargument" eingeworfen, es ginge ja "nur um Geld", und man könnte doch ein Menschenleben nicht wegen einer bestimmten Summe riskieren. Z.B. in Diskussionen wo mit diesen Argumenten besonders teure Behandlungsformen gerechtfertigt werden sollen, und auf der anderen Seite z.B. die Vertreter von Krankenkassen sitzen. Die Rollenverteilung ist dann doch recht klar: Die Vertreter der Krankenkassen sind böse, die "nur Geld" Argumentierer sind die guten Humanisten.

Dies ist nur ein Beispiel, denn dieses Muster findet man in verschiedenen Kontexten wieder. "Es kann doch nicht sein dass nur wegen (beliebige Summe einsetzten) dies und jenes nicht verwirklicht werden kann". "Am Geld darf doch dies und jenes nicht scheitern (mehr Lehrer, Pensionserhöhung)."

Geld ist für uns immer noch ein abstrakter Begriff, und wir vergessen in diesen Diskussionen leider, dass es eben nicht "nur" um Geld in einem abstrakten Sinne geht, sondern dass eben dieses Geld tatsächlich für Möglichkeiten steht. Das Geld repräsentiert Optionen, Resourcen und wie wir diese nutzen ist gut abzuwägen. Investieren wir 100.000 Euro in die Behandlung einer einzelnen Person (um ein Beispiel zu nennen), so bedeutet dies, dass diese 100.000 Euro für viele andere Dinge nicht mehr zur Verfügung stehen: z.B. für Forschung und Wissenschaft, für Kinderbetreuung, für den Strassenbau, für Präventivmassnahmen im medizinischen Bereich, die eventuell tausenden zu gute kommen oder für Dienstwägen von Politikern.

Allgemeiner gesagt, Resourcen sind immer ein begrenztes Gut und insofern muss es uns klar sein, dass wir eine "Ausgabe" eine "Verwendung" auf der einen Seite mit einem Entzug oder jedenfalls einem Nicht-Einsatz an einer anderen Stelle erkaufen.

Das soll natürlich nicht bedeuten, dass es nicht gute Gründe geben kann in einzelne Personen 100.000 Euro für medizinische Behandlungen zu investieren. Wir können und sollen dies vermutlich tun, es muss uns nur klar sein, was mir mit solchen Entscheidungen tatsächlich bewirken. Kaufen wir statt dieser 100.000 Euro einen Dienstwagen weniger ist dies vermutlich eine gute Entscheidung. Investieren wir deswegen 100.000 Euro weniger in medizinische Forschung muss dies gut durchdacht werden.

Um den Einwand gleich vorwegzunehmen: sicherlich können Resourcen zu einem gewissen Maße vermehrt , effizienter eingesetzt werden usw. Aber auch dies bedeutet wiederrum Resourceneinsatz der vorher notwendig ist, z.B. in effizienzsteigernde Maßnahmen oder in Forschung usw. Geld übrigens, dass selten von denjenigen kommt, die es so leichtfertig als Argument gebrauchen. Und das Geld anderer, die Resourcen "der Gesellschaft" (wieder ein abstrakter Begriff) lässt sich natürlich immer leicht ausgeben.

Es ist also eigentlich niemals "nur Geld", es ist tatsächlich immer eine Abwägung welchem Problem wir welche Aufmerksamkeit und welche Beachtung, und damit auch welchen Resourceneinsatz widmen. Dies wird über den Faktor Geld ausgedrückt. Und damit haben wir eine Diskussion auf einer ganz anderen Ebene! Und die Diskussionen sollten dann auch tatsächlich auf der richtigen Ebene geführt werden also z.B.:
  • Wie wollen wir begrenzte Mittel möglichst gerecht verteilen
  • Wie wollen wir begrenzte Mittel und Resourcen effizienter einsetzen
  • Wie wollen wir die vorhandenen Mittel vermehren (z.B. durch gerechte Beiträge zu Krankenkassen und gerechte Steuersysteme)
  • Was bedeuetet eigentlich "gerecht", "ethisch" usw. im jeweiligen Kontext
Nehmen wir also einerseits "Geld" ernster und lösen wir uns damit auch gleichzeitig davon indem wir die Diskussion auf das tatsächliche Thema zurückführen!

Samstag, 24. November 2007

Über die Unfähigkeit in Systemen zu denken

Gerade habe ich eine eindrucksvolle "Aula" von Prof. Friedrich Schmidt-Bleek zum Thema Ungebremster Raubbau an der Natur gehört. Er hat mich (leider) wieder in meinem Glauben bestätigt, dass wir als Menschen im allgemeinen und ganz besonders als Gesellschaft kaum in der Lage sind systemische Probleme als solche zu betrachten und zu versuchen einer Lösung zuzuführen.

Was typischerweise passiert ist, dass wir irgendeines Symptoms gewahr werden, z.B. dem Zuwachs and CO2 in der Atmosphäre und den entsprechend beunruhigenden Konsequenzen, dass wir aber nicht in der Lage sind einen Schritt zurück zu machen und versuchen das System im Ganzen zu betrachten. Wir fokussieren und nun in geradezu manischer Blindheit darauf, wie wir z.B. den CO2 Ausstoss von Autos oder gar Flugzeugen verringern können. Vielleicht gelingt es Autos zu bauen, die statt 8 Litern mit 5 Litern auskommen?! Oder Flugzeuge die etwas ökonomischer Fliegen, oder LKWs, die etwas weniger Russ-Partikel auswerfen.

Schmidt-Bleek versucht nun das System als ganzes wieder in den Blickwinkel zu bringen; er zeigt z.B. dass die Herstellung eines goldenen Ringes von wenigen Gramm, wie wir ihn am Finger tragen mit etwa 2 Tonnen an Materialumsatz bei Abbau und Produktion verbunden ist, ebenso die Produktion von vielen Industriegütern wie Autos: Betrachtet man die Lebensdauer eines Autos (200-250.000 km) so macht der Benzinverbrauch laut Schmidt-Bleek nur etwa 15-20 Prozent des Gesamtenergieverbrauches (!) aus. D.h. des Energieverbrauches, der durch Produktion, Transport usw. des Fahrzeuges angefallen ist. Wir diskutieren nun, wie man diesen verhältnismässig kleinen Anteil um wenige Prozenz zu verringern, anstatt das ganze Bild zu betrachten. Die notwendige Infrastruktur um das Auto zu betreiben (Strassen, Tankstellen, etc) brauchen nochmals einen Faktor 10 mehr an Energie.

Er bringt neben vielen anderen ein weiteres sehr bedenkenswertes Beispiel: Im Ruhrgebiet, wo massiv Kohle abgebaut wurde/wird, und dies offensichtlich für lange Zeit kommerziell sehr erträglich, gibt es nun große Gebiete (von etws 70-25.000 ha Größe) wo die Oberfläche im Schnitt um 6 m abgesunken ist. Diese Gebiete die heute großteils bewohnt sind, würden nun zu einem erheblichen Teil mit Wasser vollaufen: d.h. es muss das Wasser abgepumpt werden. Für diese Pumpen (Produktion und Betrieb) muss natürlich Energie aufgebracht werden. Es wird also ein Zeitpunkt in der Zukunft kommen, wo der Energieverbrauch der durch den Abbauvorgang, den Pumpvorgang etc. dem entspricht, der durch die Kohle vorher gewonnen wurde.

Gerade dieses Beispiel zeigt sehr schön, dass viele der Aktivitäten, die wir heute unternehmen nichts anderes als ein Kredit an der Zukunft ist. Nun ist gegen einen Kredit im Einzelfall vielleicht nichts einzuwenden. Wenn wir aber wieder versuchen das System, die Gesellschaft als ganzen zu betrachten, muss die Frage erlaubt sein, ob es sehr sinnvoll ist einen solchen Energie-Kredit aufzunehmen, um damit Energiverschwendung wie sie in heutigen westlichen Lebensstilen üblich ist, zu finanzieren.

Schmidt-Bleek stellt die meines Erachtens nach sehr wichtige Forderung auf, den "Rucksack" der mit jedem Produkt das wir kaufen oder verwenden verbunden ist, also der Material und Energieumsatz der für Produktion und Transport erforderlich ist, transparent zu machen und diesen als Basis für die Preisgestaltung von Produkten heranzuziehen.

Ich würde gerne ergänzen, dass auch andere gesellschaftliche und politische Kosten hier hinzuzufügen wären: Leider spiegeln sich ja die realen Kosten bei vielen Resourcen keineswegs mehr in den Preisen wieder. Ich habe kürzlich über Benzin- und Ölpreise diskutiert. Ehrlicherweise müssten in diese Preise ja auch (um nur einen Aspekt zu zitieren) auch Militärkosten eingerechnet werden. Wenn die USA eine massive (und wohl massiv überdimensionierte) Armee betreibt, so tut sie dies ja zu einem wesentlichen Anteil auch zur Resourcen-Sicherung. Dies kann dadurch geschehen, dass Kriegsschiffe auf Routen patroullieren, die von Tankern befahren werden, dass man andere Länder bedroht oder dadurch dass man in den Irak einmaschiert. Diese Kosten aber werden nicht ehrlicherweise auf den Ölpreis geschlagen, sondern durch allgemeine Steuermittel kaschiert. Dasselbe trifft zu, wenn wir Kosten im Gesundheitssystem haben, der bspw. von Feinstaub verursacht wird, der wiederrum von Industrie, Hausbrand und Verkehr emittiert wurde. usw.

Natürlich wird man das nicht leicht alles quer-verrechnen können, die systemischen Abhängigkeiten sind sicherlich äußerst komplex aber es wäre hoch an der Zeit sich Strategien zu überlegen, wie man zu einer gerechten Bepreisung von Gütern und Dienstleistungen kommen könnte.

Ich möchte diesen Artikel gerne noch mit einem Zitat von Rupert Riedl aus "Neugier und Staunen" abschliessen:
"Unser Ursachenkonzept simplifiziert die Welt in dreifacher Weise: Wir stellen uns lineare Zusammenhänge vor, reden von Ursache und Wirkung, als ob, wie im selbst gebastelten Experiment, ein erster Anfang einem folgenlosen Ende gegenüberstünde, und wir scheuen die Vorstellung rekursiver Kausalität, dass es im Grunde keine Wirkung gibt, die nicht letztlich auf die eigene Ursache zurückwirkt. [...] Tatsächlich haben alle Industrien über ein Jahrhundert Ursachenketten gerade gerichtet, Materialien ein- und Produkte ausgeworfen und nicht beachtet, wie das, was herauskommt, auf das wirkt, was hineingesteckt wird.

Und zuletzt ist auch unser Konzept von der Hierarchie der Zwecke in der komplexen Welt unangepasst, anthropozentrisch verdreht. Fragen wir einen, warum er Ziegel in ein Wäldchen karrt, wird er's auf sein Bauen, das nächste Obersystem zurückführen, den Zweck des Bauens auf seine Bedürfnisse, seinen eigenen Zweck noch bestenfalls auf Wertschöpfung; fragt man aber weiter nach den Zwecken seiner Gesellschaft und der Biosphäre, wird sich die Zweckvorstellung umkehren. Er wird annehmen, dass die Gesellschaft für seine Zwecke, die Biosphäre zum Zweck der Gesellschaft da wäre; wo er doch ganz offenbar, selbst ein Teil seiner Gesellschaft und der Biosphäre, für deren Erhaltungsbedingungen beizutragen hat. Ein Gutteil der Umweltproblematik geht auf solche Anthropozentrik zurück."

Sonntag, 18. November 2007

Menschenwürde und Klonen

Seit kurzem gibt es ja sowohl von "Gehirn und Geist" als auch vom "Spektrum der Wissenschaft" Blogs: wissenslogs und brainlogs. Mir gefallen diese neuen Blogs sehr gut, weil sie neben den Heft-Artikeln eine direktere Interaktion und Diskussion mit Autoren und Redakteuren erlauben.

Heute ist mir da auch gleich ein Beitrag ins Auge gestochen: "Send in the Clones". In diesem Beitrag setzt sich der Autor kritisch mit der seiner Ansicht nach übertriebenen Interpretation der Menschenwürde in Hinsicht auf das Klonen von Menschen auseinander:
"Doch was haben diese unmenschlichen Greuel mit dem reproduktiven Klonen gemein? Inwieweit würde ein Kind, das durch einen Zellkerntransfer entstanden ist, in seiner Würde verletzt? Ist es demütigend, mit einem Genotyp zur Welt zu kommen, der schon existiert? Eineiige Zwillinge scheinen dies nicht so zu empfinden! Kann mir also bitte irgendjemand ein Licht aufstecken?"

Ich teile durchaus die Ansicht, dass der Begriff der "Menschenwürde" einer (neuen) gründlichen Diskussion bedarf. Allerdings meine ich auch, dass in diesem Blog Artikel ein wenig zu schnell geschossen wird, respektive, ein zu schneller, nicht wirklich durchdachter Schluss gezogen wird: Denn der Vergleich zu Zwillingen hinkt aus zwei wesentlichen Gründen:

(1) Die Anzahl der (möglichen) Zwillinge oder allgemeiner Mehrlinge ist durch die Natur doch sehr eng begrenzt. Mir ist es medizinisch nicht wirklich klar wieviele eineiige Zwillinge maximal geboren werden können, aber nehmen wir einfach mal die Anzahl der Mehrlinge an: und dies sind sicherlich maximal 4-5.

Anders gesagt: jeder Zwilling kann naturgemäß nur sehr wenige genetisch gleichartige Brüder/Schwestern haben. Eine derartige Einschränkung ist grundsätzlich gedacht, beim Klonen natürlich nicht gegeben; theoretisch können beliebig viele genetisch identischer Klone von einer "Quelle" erzeugt werden. Und in diesem Fall meine ich, macht diese "Quantität" wohl einen Unterschied in der Betrachtung!

(2) Natürliche Zwillinge sind zwangsläufig immer gleich alt. D.h. die Entwicklung der Geschwister läuft parallel ab. Klone können völlig unterschiedlichen Alterns sein, und dies könnte natürlich bisher ganz unbekannte psychologische Effekte haben! Man denke sich ein Szenario, wo ein Klon weiß, dass ein anderer Klon, bspw. 25 Jahre älter, ein höchst erfolgreicher Wissenschafter, Musiker etc. ist. Dies könnte den jüngeren Klon einem Druck aussetzen, der bisher nicht bekannt ist: denn der ältere Klon hat ja nunmal dieselben Anlagen, warum ist dann bspw. der jüngere nicht so erfolgreich usw. Auch das Gegenteil könnte passieren: Ein jüngerer Klon könnte psychologisch unter Druck geraten, wenn ältere Klone systematisch unter bestimmten Krankheiten leidet, kriminell ist o.ä.

Kurz gesagt: ich glaube, dass die Forderung, den Begriff der Menschenwürde neu zu diskutieren gut und richtig ist, die Argumentationslinie in Bezug auf das Klonen halte ich aber in dieser kurzen Form für eher oberflächlich und nicht ganz durchdacht.

Donnerstag, 1. November 2007

Reisen

Ich denke in den letzten Wochen auch sehr viel über das Reisen an sich nach, wie wir heute hektisch von einer Destination zur nächsten jetten. Einerseits glaube ich schon, dass das Reisen auf dieser breiten Basis wie es heute unternommen wird positive Wirkungen hat. Ich denke, dass diejenigen, die Reisen durch die Vielzahl der Eindrücke auch mehr Respekt und Verständnis gewinnen; andererseits führt die Globalisierung auch zu einer Vereinheitlichung, Nivellierung (und dies nicht immer nach unten). Wie ich schon in einem der ersten Postings geschrieben habe: wird man an irgendeinem Flughafen der Welt ausgesetzt fällt es auf Anhieb kaum leicht zu erkennen wo man gestrandet ist; überall dieselben Geschäfte, Restaurant-Ketten, Bekleidung.

Gerade Bandung, wo ich mich zur Zeit aufhalte, vermittelt mir hier zwiespältige Erinnerungen; bei einem meiner ersten Besuche hier, wurde ich zu einer indonesischen Musikveranstaltung eingeladen wo mit traditionellen Instrumenten (Anklungs unter anderem) gespielt wurde. An sich eine potentiell sehr interessante Erfahrung, weil Anklungs sehr schöne Instrumente sind, mit einer ganz anderen Musiktradition im Hintergrund als bei uns bekannt. Nun war dies aber eine Touristenveranstaltung schlimmster Sorte (und das in Bandung, wo man ohnedies kaum westliche Touristen trifft): Das an sich gute Orchester hat nicht etwa indonesische Musikstücke gespielt, was ich erwartet und erhofft hatte, sondern unter anderem Mist wie "Tulpen aus Amsterdam".

Man stelle sich das lebhaft vor: man ist Mitten in Indonesien und auf traditionellen indonesischen Instrumenten wird europäischer Mist gespielt. Das alleine wäre schlimm genug gewesen; was mir dann allerdings tatsächlich den Glauben an die Menschen angekratzt hat war die Beobachtung der anderen Touristen. Ich hätte erwartet, dass sich eine gewisse peinliche Stimmung ausbreiten würde. Tatsächlich haben meine europäischen Kontinentsleute aber fröhlich mitgeschunkelt und mitgesungen. Was darf man sich dabei denken?


Was überwiegt nun, die positiven oder die negativen Effekte? Ich persönlich bedaure zwar einerseits, dass wir es mit einer Amerikanisierung sondergleichen zu tun haben (auch hier in Bandung an jedem Eck ein McDonalds, Circle K, Kentucky Fried Chicken, Dunkin Donuts, Starbuck, Burger King usw.), andererseits entfernen internationalen Einflüsse aber auch Borniertheiten aller Art schneller als es alle anderen Aktivitäten zu tun in der Lage waren. Nicht ohne Grund verlieren bspw. Religionen oder radikale politische Strömungen dort am schnellsten und am stärksten an Einfluss wo es den meisten internationalen Einfluss gibt. (Dies alleine spricht gegen Ausgrenzungen aller Art!) Natürlich würde man das vor Ort kaum zugeben (und vereinzelte Spinner die leider wie in Indonesien Bomben zünden oder andere Dummheiten ausbrüten verzerren das mediale Bild dramatisch), aber de facto werden viele dieser kulturellen Eigenarten einfach auf folkloristische Attrappen reduziert und das ist nicht immer ein Fehler. D.h. mich persönlich stört weniger, dass wir immer stärker einer Art der globalisierten Identität zustreben, das wäre für mich wenig erschreckend; was mich stört ist die Art der Identität die wir anstreben.

Es ist eben weniger eine von (humanistischen) Idealen geprägte Identität sondern leider oft eine der geradezu brutalen Ökonomisierung und des rauschhaften Konsums.


Ich habe über die Art des Reisens und die entsprechenden Einflüsse auch darum nachgedacht, weil ich mich gerade ein wenig mit Demokrit beschäftigt habe. Dieser war einer der reisefreudigsten Philosophen des antiken Griechenlands. Man sagt er hätte sich in Griechenland, Ägypten dem alten Persien von den jeweils ansässigen Gelehrten ausbilden lassen und wäre bis nach Indien vorgedrungen (und hat dabei das Vermögen seines Vaters durchgebracht, das nur am Rande).

Wenn man versucht sich diese Art der Reise, die sich zweifellos über Jahre gezogen hat vorzustellen. Es gab wohl kaum eine touristische Infrastruktur die wir heute automatisch überall erwarten; ich kann mir auch nur schwer vorstellen, wie die sprachlichen Barrieren überwunden wurden. Immerhin hat er sich ja offenbar nicht nur die Pyramiden angesehen, sondern in all diesen Ländern auch "studiert"! Man denke an die Strapazen und Gefahren einer solchen Reise bis nach Indien, und die unwahrscheinlichen Unwägbarkeiten. Es gab ja auch keine Landkarten, Reiseführer sowie keine einheitlichen Kalender oder Währungen und dergleichen.

Wenn man dies weiterdenkt stelle ich mir wirklich die Frage ob wir wieder an einem Punkt angelangt sind (wie ich kürzlich in einem anderen Posting über die Quantentheorie geschrieben habe), wo wir eigentlich semantische Verwirrung stiften, wenn wir für die heutigen Aktivitäten sowie die damalige dasselbe Wort nämlich "Reisen" verwenden. Natürlich, in beiden Fällen fährt man von einem Ort weg um zu einem anderen zu gelangen, aber alles weitere muss sich so dramatisch unterscheiden, dass wir mit diesem Work kaum dieselbe Aktivität beschreiben können.

Aber um zum Reisen zurückzukommen: Die Reisenden dieser Zeit haben sicherlich auch nicht unerheblich zum kulturellen Wandel beigetragen, aber einerseits auf längeren Zeitskalen, andererseits geprägt von Reisen gebildeter Menschen die neue Ideen verbreitet haben. Da wir zum Glück mehr und mehr in Demokratien leben, ist es vermutlich schon der richtige Weg einer breiteren Basis von Menschen die Möglichkeit des Reisens zu geben.

Es wäre nur schön, wenn wir alle diese Möglichkeit auch konstruktiver nutzen würden und unseren Begriff des Reisens wie wir in heute verstehen wieder ein wenig hinterfragen würden: Vielleicht wieder hin zu der Idee eine Reise als einen länger dauernden Prozess zu verstehen, dem auch genug Zeit eingeräumt wird um bestimmte Dinge besser zu erkennen und verarbeiten zu können; auch abseits vom hermetisch abgeschlossenen Ferienghetto westlicher Prägung.

Donnerstag, 25. Oktober 2007

Systeme und Strukturen

In den letzten Tagen habe ich wieder intensiver über Systeme nachgedacht und dabei ist mir der Gedanke gekommen, dass man vermutlich besser zwischen Systemen und Strukturen unterscheiden sollte. Beide wechselwirken in einer intensiven Art und Weise miteinander, bedingen einander, das ist klar. Die Struktur übt aber eine überaschend bestimmenden und auch Hemmenden Einfluss auf die Möglichkeiten und Freiheitsgrade, die ein System hat aus (und das ist vielleicht der überraschendere Teil der Überlegung):

Ich denke, die meisten sind sich über die systemische Natur unserer Umwelt im weitesten Sinne bewusst, denken aber, das diese prinzipiell recht flexibel und modifizierbar sind. Also bspw. das politische System eines Landes, die Struktur eines Unternehmens, Lebensstil, oder die Art und Weise wie Wissenschaft gemacht wird. In diesem Sinne sind die systemischen Eigenschaften eher die dynamischen, auf Interaktion bezogene Eigenschaften also z.B. die direkt an den Menschen gekoppelt sind, also eben das Verhalten der Menschen selbst, die Kommunikation im allgemeinen (wer kommuniziert mit wem, wann, wie...), die getroffenen Aussagen im besonderen, die Mobilität (z.B. Reisen), Finanzflüsse etc. Die strukturellen Eigenschaften wären dann eher Artefakte, statische Dinge wie Gebäude, Kommunikationsnetze, Strassen, Flughäfen, aber auch Bibilotheken, Bücher, Filme (nicht der Inhalt derselben, sondern die "Hardware", also die Formate, Art und Weise wie diese produziert werden).

Die Strukturen sind also, in der ersten Betrachtung, ein Produkt der Systeme. Um ein Beispiel vom letzten Posting aufzugreifen: wenn ich ein Auto erfinde, und dieses sich systemisch/konzeptionell beginnt durchzusetzen so benötigt dies weitere Änderungen die sich aber nun strukturell niederschlagen: Tankstellen, ein Tanstellenversorgungssystem, Ölindustrie, Tanker, Strassen usw. dies ist eine Mischung aus neuen Systemen die entstehen (also z.B. petrochemische Betriebe) aber auch Strukturen die geschaffen werden (z.B. die Tankstellen, der Strassenbau), zunächst nur der Unterstützung eines neuen Systemes (dem Autoverkehr) dienen.

Beharrende Effekte von Strukturen

Dies ist aber eben nur die erste Betrachtung, und vielleicht sollte in dieser Hinsicht mein voriger Artikel etwas erweitert werden. Systeme sind in sich schon häufig äußerst resistent gegenüber Veränderungen (bzw. werden in ihrere Komplexität und Vernetzung dramatisch unterschätzt und Änderungen an Parametern haben ganz andere Auswirkungen als geplant). Bleiben wir aber zunächst beim Auto-Beispiel: Selbst wenn die Auto Industrie bessere (weniger umweltschädliche) Autos herstellen könnte, bspw. basierend auf alternativen Energieformen so müsste sie starke innere systemischen Widerstände beseitigen um diese auf den Markt bringen zu können. Bspw. ist das Marketing auf klassische Autos geschult, ebenso die Verkäufer und Mechaniker. Weiters ist die "Fachpresse" also Automagazine, Fernsehshows, Film, Unterhaltung sowie das "Mindset" des Konsumenten auf eben diesen bekannten Typ von Fahrzeug geprägt, so lächerlich das bei neutraler Betrachtung auch erscheinen mag. Daß dies ganz unwahrscheinliche Dimensionen annehmen kann kann man an verschiedenen Beispielen sehen:

Mercedes brachte in den 80er oder 90er Jahren Modelle auf den Markt wo man von den 8 Zylindern einige abschalten konnte um ökonomischer fahren zu können. Ein Fehlschlag, der Köufer wollte das nicht, das war nicht das "Fahrerlebnis" das er gewohnt war. Egal wie viel Benzin wir unnötig verbrauchen weil die Leistung nicht benötigt wird, wir wollen 8 Zylinder hören... Elektroautos kämpfen scheinbar mit Akzeptanzproblemen, weil Fahrer an die Dynamik von Benzinmotoren gewohnt sind, und Elektromotoren nunmal ein etwas anderes Fahrverhalten zeigen. Oder man denke an die unglaublich bornierte Diskussion die in Europa über Jahrzehnte gelaufen ist, wo sich die Automatikschaltung lange nicht durchsetzen konnte. Nicht etwa aus rationalen Motiven (bspw. weil diese etwas mehr Benzin verbrauchte, was natürlich ein wichtiges Argument gewesen wäre!) sondern weil die Fahrer ihr Stangerl hin und her schieben wollten, und sich davon nicht lösen wollten. Die Industrie hat diesen Fahrern dann de facto Automatikautos verkauft wo sie dann doch noch ein wenig mit dem Schaltknüppel rumrudern konnten wenn ihnen danach war.

Dies sind alles systemische Eigenschaften und Probleme, und noch dazu unglaublich banale, ja geradezu dumme möchte man sagen. Nun scheitert(e) so manche Innovation schon an solchen lächerlichen systemischen Problemen. Hinzu kommen aber, und das ist nun der oben angeführte Gedanke, zusätzlich noch strukturelle Probleme. Ich bleibe beim Auto Beispiel: es werden sich bestimmte Antriebe auf lange Zeit nicht durchsetzen weil die vom vorigen System (flüssige Kohlenwasserstoffe) geschaffenen Strukturen noch viel persistenter sind als die systemischen Eigenschaften wie z.B. das Tankstellensystem. Für Wasserstoffautos bräuchte man ganz andere Tanksysteme, ebenso für innovative neue Ansätze wo Metallhydrate in Pellet-Form "getankt" werden usw. Dies wird auf massive strukturelle Widerstände stossen.

Die innovativste :-) aller Strukturen: Die Wissenschaft

Ein anderes Beispiel aus der Wissenschaft. Wir sind an die Art und Weise gewohnt, wie Wissenschaft sich austauscht: Konferenzen, Publikationen in Zeitschriften und Büchern. Dies hat systemische Aspekte (in unseren Köpfen) aber auch strukturelle: z.B. Konferenztourismus, Verlagshäuser mit Publikationstradition, Verankerung dieser Traditionen in universitären Strukturen.

Nun könnte man, meine ich, mit großer Berechtigung die Frage stellen, ob der oft geradezu mit Langeweile durchgeführte Prozess einer wissenschaftlichen Konferenz wirklich noch die Struktur hat, die für heutige Wissensvermittlung erforderlich ist? Wir erfahren heute viel über das Internet, natürlich auch noch Bücher (die immer mehr zu lebendige elektronische Formen werden, siehe Strategien wie O'Reilly Safari Books), Foren, Podcasts, Videos, Interviews etc. wir haben digitale Bibliotheken wo wir bei Bedarf in Publikationen suchen können. Ist die traditionelle Form der Konferenz überhaupt noch sinnvoll, oder eigentlich nur mehr ein strukturelles Vehikel, damit Wissenschafter die geforderten Publikationen irgendwo abliefern können?

Natürlich gibt es "Leuchttürme" in der Konferenzlandschaft, aber auch dort ist doch eigentlich meist das interessanteste die eingeladenen "Keynote" Speaker sowie selektierte Vorträge und natürlich der soziale Aspekt Kollegen treffen zu können und Erfahrungen auszutauschen (und dieser Aspekt ist sicherlich nicht zu unterschätzen!).

Warum haben wir also nicht den Mut zu sagen: Hören wir doch auf mit diesem dummen "Session" Modell, wo in n-parallel Sessions jeder Teilnehmer seine Powerpoint Folien vorliest, die Zuhörer zu 1/3 zuhören, zu 1/3 schlafen und zu 1/3 im WLAN surfen, Mails schreiben und andere Arbeiten erledigen. Dann irgendwann am Nachmittag gehen wir noch gelangweilt bei den ausgestellten Postern vorbei. Was soll das? Dieses Modell ist strukturell aus dem letzten Jahrhundert und fühlt sich genauso an. Diese Strukturen sind systemisch und strukturell geprägt von der Art und Weise wie es "immer" (zumindest in den letzten hundert Jahren) gemacht wurde, wie Hotels und Unis konstruiert sind, wie Verlage und wissenschaftliche Reputationsgewinnung funktioniert. Haben wir nicht den Mut festzustellen, dass das Vorlesen irgendwelcher Folien heute einfach keinen Platz mehr hat? Warum fokussieren wir uns nicht z.B. mehr auf den kommunikativen Aspekt? Auf konkrete Diskussions-Sessions beispielsweise wo ein bestimmtes Thema im Vordergrund steht und nicht eine Reihe von Präsentationen, wo die Vertreter der entsprechenden Publikationen mit anderen über ihre Erkenntnisse diskutieren, anstatt diese vorzutragen. Nur um eine Idee zu bringen. Es gibt auch andere Ansätze z.B. Barcamps. Alles wäre einen Versuch wert.

Wissenschaft ist doch Diskussion und Konfrontation von Ideen und nicht ein Vorlese- und Vortragswettbewerb, wo 20 Minuten vorgetragen und 5 Minuten kurz Fragen gestellt werden können. Was soll das? Es ist doch erbärmlich dass gerade die Community, die von sich selbst behauptet die innovativste zu sein, in Strukturen des vorigen Jahrhunderts verharrt! Aber eben auch hier haben wir Strukturen geschaffen die wir kaum mehr los werden und die uns gegen alle Vernunft treiben in relativ sinnentlehrten Strukturen weiterzumachen. Um eine alternativen Vorschlag zu machen: muss wirklich jeder seine Arbeit präsentieren? Warum selektiert man nicht eine kleine Anzahl an repräsentativen Arbeiten, die tatsächlich vorgetragen werden, die restlichen werden inhaltlich gruppiert von Session Chairs kurz zusammengefasst und dann unter Teilnahme der Autoren diskutiert und die Autoren auch tatsächlich gefordert ihre Ideen zu verteidigen und nicht nur gelangweilt zu präsentieren "weil es sich halt so gehört".

Vielleicht bin ich aber auch schon zu sehr am System verhaftet und es gibt noch viel bessere Ideen.

Vorschläge?

Jedenfalls, um die Beispiele zu verlassen und zum konkreten Thema zurückzukehren: Strukturen sind einerseits zunächst das Ergebniss von Systemveränderungen und von neuen Systemen, andererseits sind sie wie das Skelett von Lebewesen: einmal evolutionär entstanden gibt es kaum mehr einen Weg zurück, kaum mehr Änderungen und sie üben wiederrum eine massive strukturierende Wirkung auf die Systeme aus, die sich (schon entgegen inneren Widerständen) versuchen zu verändern. Dies ist der Grund, warum viele Reformen ein Gezänk an der Oberfläche bleiben, warum bestehende wirtschafts- und Finanzstrukturen auch wenn sie nachweisbar negative Effekte haben kaum zu ändern sind.

Strukturen und die Imitation des Menschen

Allerdings, und dies ist der letzte Punkt den ich einbringen möchte: Strukturen sind auch der Beweis dafür, dass systemische Ideen funktionieren. Ein Hochhaus übt also einen strukturellen Druck auf die Gesellschaft aus, zeigt aber zum gleichen Zeitpunkt auch, dass die Idee des Hochhauses (der Statik, Logistik, ...) funktioniert. Dasselbe gilt für Finanz- und Wirtschaftsstrukturen. Haben sich solche Strukturen (vielleicht sogar global) gebildet beweist dies zwar keinesfalls, dass diese die bestmöglichen sind, aber immerhin, dass die Systeme die darauf aufbauen in sich in in Bezug auf andere funktionieren (jedenfalls in einem bestimmten Kontext). Wir Menschen sind nun ganz massive "Nachahmungstäter", d.h. von Kindheit an (das ist jedem klar) bis zum Tod (das ist den wenigsten klar) ahmen wir nach, was wir um uns herum sehen, wir werden geprägt und strukturiert davon, was um uns herum geschieht. Systeme üben schon eine anziehende Wirkung aus, massive Strukturen aber sind für uns fast unwiderstehlich: Wir können uns dann kaum vorstellen, dass es anders auch gehen könnte; wenn es alle auf eine bestimmte Art und Weise machen (und dies durch die entsprechenden Strukturen wiedergespiegelt wird) so wird es schon das Richtige sein und es gibt uns Sicherheit weil wir das nicht weiter hinterfragen müssen: wie man wohnt, wie und ob man reist, wie man kommuniziert, was man liest, wie man Sex hat, wie man sich kleidet, was man richtig und falsch findet.

Sicher, manche sind manchmal in der Lage einzelnde Dinge zu hinterfragen, aber dann doch zumeist wieder innerhalb der möglichen Strukturen. Erlauben es die Strukturen nicht, so gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten: (1) Das Denken und kritische Hinterfragen bleiben lassen und sich auf das zurückziehen, was die Strukturen erlauben (2) Man versucht die Strukturen zu ändern und neue zu schaffen (3) Man sucht sich andere Strukturen.

Etwas konkreter zu Punkt (1) dies ist offensichtlich die Strategie die die meisten Menschen fast immer und praktischalle Menschen meistens anwenden; (2) ist manchmal eine Möglichkeit: in einem Land, wo Zensur herrscht könnte man versuchen Untergrundmedien zu gründen, oder sich in anderer Weise zu vernetzen; man könnte auch Umweltaktivist sein, und mit dem Auto(bus) zur Demonstration gegen die Klimaerwärmung fahren; jedenfalls ist es typischerweise ein langfristiger Prozess und zu (3) man könnte bspw. Auswandern. Dies war beispielsweise der klassische Weg mancher Dissidenten zu Zeiten des Ostblocks. Allerdings dürfen wir eines nicht vergessen: wir leben tatsächlich in einer immer stärker globalisierten Welt wo gleichartige Strukturen sich gnadenlos und gleichmässig über die ganze Welt verteilen (unter anderem auch, weil gleichartige Strukturen weltweit natürlich effizienter sind, als Systembrüche, das wurde noch gar nicht erwähnt. Auch dann, wenn individuelle Strukturen lokal besser sein könnten).

Ich schreibe diesen Artikel gerade in Hong Kong. Hong Kong ist China und China eines der letzten (pseudo-)kommunistischen Länder. Wenn ich hier aus dem Fenster blicke bin ich von mehr westlich orientierten Wirtschaftsstrukturen umgeben als in jedem anderen europäischen Land, das ich kenne. Die 7-Eleven Dichte pro Quadratmeter ist vermutlich sogar höher als in New York. Ist der 7-Eleven und McDonalds und Nokia Samen mal gefallen so pflanzt er sich also scheinbar in einer immer massiveren Sogwirkung globaler Strukturen auch weiter fort.

Fazit

Die Lehre ist also vermutlich, dass deutliche Systemänderungen in der heutigen Zeit ebenso massive Strukturänderungen zur Folge haben müssen, dass man also gegen zwei massiv Widerstand leistende Effekte ankämpfen muss, und dass neue Systeme meist eben auch neuer Strukturen bedürfen. Je globaler und persistenter diese Strukturen nun sind, desto drängender müssen die Probleme und Motivationen sein, die in der Lage sind diese Widerstände zu überwinden.

Dies ist auch genau einer der Gründe, warum es in der Geschichte der Menschen so gut wie niemals weiter vorausschauende Politik gegeben hat, weil eben die Motivationen, die Probleme die ein bestimmtes momentanes System in der Zukunft auslösen kann/könnte (1) nie so sicher waren, dass man es nicht verdrängen konnte und (2) eben weil die Effekte deutlich in der Zukunft liegen der Leidensdruck im Jetzt nicht groß genug war. Heute ist der erste Punkt aber bei manchen Problemen nicht mehr gegeben, weil die Wissenschaft in manchen Prognosen ziemlich sicher sein kann (z.B. Klimaprognosen); der zweite Punkt ist aber leider nach wie vor gültig.

Und dies ist einer der Gründe warum es so schwierig ist eine globale Klimapolitik zu machen, bevor Hamburg und New York unter Wasser stehen. Dasselbe gilt für eine Wirtschaftspolitik die nicht nur die (im Augenblick! mächtigen) Gewinner im Auge hat.

Sonntag, 14. Oktober 2007

Im System gefangen

Systemisches Denken

Rupert Riedl beschreibt ein "Umweltquiz", das er in einer seiner Vorlesungen mit Studenten durchgeführt hat (Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985) S 184)

"Angenommen wurde: eine Papierindustrie hätte die Mur ruiniert, und die Schuldfrage sollte gelöst werden. Folgende Liste der Verschulden wurden geboten:
  1. Der Schleusenwärter der Firma - er hat den Wasserhochstand nicht abgewartet. (Nun stieg ich in der Stufenleiter der Verantwortlichkeiten)
  2. Der Abteilungsleiter - seine Direktiven waren zu wenig eindeutig.
  3. Der Direktor - er setzte diePriorität des Baus der Kläranlage nicht durch.
  4. Die Besitzer der Anteilspapiere - sie beeinflussen die Prioritätenliste.
  5. Die Gewerkschaft der Firma - sie setzen Vollbeschäftigung vor Kläranlagen.
  6. Die Nachbarindustrie - sie macht das gleiche Papier billiger.
  7. Die deutsche Papierindustrie - sie exportiert Papier noch billiger.
  8. Die Konsumenten - sie kaufen bei gleicher Qualität das billigere Papier.
  9. Die Werbung - sie empfielt stets bessere Qualität.
  10. Das Handelsministerium - es errichtet keine Schutzzölle.
  11. Die EG - sie nimmt uns bei Schutzzöllen Landwirtschaftsprodukte nicht ab. (Nun stieg ich wieder ab)
  12. Das Bautenministerium - es soll statt Straßen Umweltanalagen fördern.
  13. Die Gewerkschaften - sie drängen auf Straßenbau (wegen der Pendler)
  14. Der Schleusenwärter - er unterstützt die Gewerkschaft."

Es geht hier nun keinesfalls um eine detailierter Analyse dieses Beispiels, sondern um die grundlegende Idee. Man könnte eine ganze Reihe ählicher Beispiele konstruieren: z.B. wer ist verantwortlich für Entlassungswellen in florierenden Unternehmen? Der CEO? Er arbeitet aber doch nur unter dem Druck der Aktionäre, also die Aktionäre; diese reagieren doch nur auf den Druck des Gesamtsystems und der Banken. Also die Banken: aber diese müssen doch hohe Renditen fordern, weil sie damit u.a. die hohen Zinsforderungen der Pensionsfonds und Sparguthaben der Bürger decken wollen. Also am Ende der Entlassene selbst, weil ihm ein Pensionsfond für die Zukunft sowie jedes Jahr ein neuer Fernseher wichtig ist. Oder doch die Politik die...

Wir sollten also eigentlich leicht erkennen wie vernetzt die heutigen Entscheidungsstrukturen sind, und wie systemisch getrieben viele Entwicklungen passieren, und doch können oder wollen wir das nicht wahrhaben und suchen lieber nach "dem Schuldigen". Wieder Riedl (ebenda, etwas später):

"Unsere 'faule Vernunft' wie Kant gesagt hätte, verhält sich so, als ob Ursachen von einem einzigen Kettenglied ausgingen. Zerschießen beispielsweise zwei Fußballmannschaften eine Fensterscheibe des Nachbarn, dann gilt jener Junge als Gesamtursache, von dessen Fuß der Ball zuletzt abgesprungen ist. Ruiniert eine Industrie einen Fluß,so will man die Ursache bei einem einzigen Direktor, Gesetzgeber oder Gewerkschaftler finden. Die aus Fortschritt, Konkurrenz, Ansprüchen und Volksdichte bestehenden komplexen Hintergründe bleiben unbeklagtes Panorama. "

Es ist also nicht nur so, dass wir offenbar prinzipielle Schwierigkeiten haben, systemische Zusammenhänge zu erkennen und im System zu denken, sondern wir sind uns dieses Schwäche nichtmal bewußt, sondern glauben, dass wir Probleme, die systemisch zu denken und zu lösen wären (falls überhaupt) durch konkrete Schuldzuweisungen an einzelne Beteiligte oder durch "Verstellen" singulärer Parameter verändern können. Leider oftmals ein fataler Irrtum, der sich in vielen Krisen der modernen Welt zeigt. (Dasselbe gilt auch für exponentielle Entwicklungen, für die unser "Erkenntnisapparat" nicht ausgestattet ist, weil wir versuchen alles zu Linarisieren. Dumm nur, dass viele moderne Entwicklungen sowohl systemischer als auch exponentieller Natur sind).

Als Beispiel könnte man das oftmalige Versagen der modernen Medizin nennen: und dies liegt nicht an mangeldern Kenntnis einzelner Beteiligter, vielleicht sogar im Gegenteil. Hier stellt sich heraus, dass die Systeme zwar immer teuerer werden (ebenso die Pharmaka), aber die Qualität der Behandlung deswegen keinesfalls steigen muss (siehe dazu die letzte Science Friday Episode). Es wird verstärkt mit immer stärkerem Spezialistentum an Einzeleffekten (im wahrsten Sinne des Wortes) herumzudoktern und nicht das System Mensch (wissenschaftlich, nicht esoterisch!!) systemisch gedacht. Man denke weiter an die Probleme die durch die Globalisierung der Märkte auf dem Arbeitsmarkt auftreten: Gewerkschaften die kleinkariert die letzten Besitzstände ihrer lokalen Clientelen zu verteidigen versuchen, anstatt zu erkennen, dass die Probleme in einem größeren Maßstab gemeinsam anzugehen sind. Oder Politiker, die glauben, sie könnten Demokratie herbeibomben und nicht verstehen, dass Demokratie eine Qualität ist, die nur aus bestimmten gewachsenen Systemen mit der notwendigen Zeit entstehen kann.

Aus Optionen werden Zwänge

Eine weitere systemische Eigenschaft die mir erst kürzlich richtig bewusst geworden ist möchte ich noch kurz ansprechen. Ich stelle fest, dass es häufig zu beobachten ist, dass neue Qualitäten in einem System sich zunächst als interessante Optionen darstellen. Dies trifft solange zu, solange nur wenige Teile des Systems sich dieser neuen Qualitäten bedienen. Daher kommen sie typischerweise auch "harmlos" daher und es werden zunächst von der Mehrheit ignoriert und kaum deren negativen Aspekte betrachtet (weil es ja eine Option und kein Zwang ist!). Die erfolgreicheren jedoch durchdringen aber schrittweise das komplette System und ebenso schrittweise mutieren diese vorherigen Optionen zu Zwängen. Nicht etwa weil sie sich in der individuellen Qualität geändert haben, sondern weil sie von einer individuellen Option zu einer systemischen Eigenschaft geworden sind.

Konkrete Beispiele: das Auto war zu Beginn in dem vorherrschenden gesellschaftlichen System eine "drollige" Spielerei einzelner Technik-verliebter. Später vielleicht eine Option: Mit dem Auto fahren statt mit dem Zug oder Fahrrad. Also keinesfalls etwas, das bestehende Strukturen gefärdet hätte. Mit der Zeit aber nimmt die Zahl der Autos zu (all das geschieht graduell und zunächst nicht explosiv), und so passen sich ebenso graduell bestehende Systeme an: es werden Strassen gebaut, Tankstellen, Parkplätze. Und es geht weiter: lokale Versorgung (Greißler, Handwerker...) werden zunehmend überflüssig weil man ja leicht zum größeren Shopping Center fahren kann. Und plötzlich stellen wir fest: es ist keine Option mehr! Was vorher gerade noch eine nette Alternative war, eine Erleichterung, wird unversehens zum Zwang. Wir kommen kaum mehr zum Einkaufen ohne Auto, und die Pendlerpauschale (ein Paradebeispiel für dümmste Politik, die jedes Verständnis für Systeme vermissen lässt) hat nicht nur dafür gesorgt, dass die bisherigen Pendler sich das Auto leisten können, sondern natürlich auch dafür, dass nun viel mehr Bürger (die bisher in der Nähre ihres Betriebes gewohnt haben) es sich leisten können Kilometer entfernt vom Arbeitsplatz wohnen zu können. Und wiederum: plötzlich wird die Erleichterung, die Option: das Auto zur Notwendigkeit, zum Zwang, die Pendlerpauschale zur Überlebensnotwendigkeit der Systemblinden.

Das kann man weiterdenken zu den billigen Transporten, wo es nichts mehr kostet Wein aus Australien nach Europa zu verschiffen oder Kartoffeln von Süditalien zum Nordkap und zurück: eine wunderbare neue Option, zunächst: plötzlich aber bauen darauf Systeme von Händlern und Transporteuren auf, lokale Strukturen werden verdrängt und was zunächst eine schöne Alternative war, wird zum ökologischen und systemischen Desaster. Und wiedereinmal: keiner will es gewesen sein, jeder hat nur auf systemischen Zwang reagiert.

Man könnte leicht fortsetzen: Das Mobiltelefon; Erleichterung zunächst unterwegs mit Freunden und Familie oder geschäftlich Sprechen zu können wird zum Zwang: man erwartet von uns erreichbar zu sein; das Firmen-Mobiltelefon wird oftmals zum "Überwachungsinstrument". Das GPS im Auto mit Flottenmanagement verknüpft mit mobiler Datenübertragung...

Ich möchte wirklich nicht falsch verstanden werden: auch ich nutze gerne moderne Technologien (wie man an diesem Blog erkennen kann), aber ich finde es ist einen Gedanken wert sich zu überlegen, wie sehr wir manchmal in Systemen und Zwängen gefangen worden sind. Ein letzter Gedanke hierzu: Ich habe kürzlich ein wenig auf den Greenpeace Webseiten gestöbert: Greenpeace ist ja sicherlich eine Organisation die sich hehren Zielen verschrieben hat. Die also eigentlich auch gegen systemische Zwänge kämpfen müssten; und was sieht man? Sie nutzen das Internet so modern wie kaum jemand anderer (Webseiten, Video, Audio Podcasts, Streams, Blogs...), sie haben Schiffe, moderne Technologie wo man nur hinsieht.

Ist das nicht erstaunlich? Eigentlich nicht: Klar ist natürlich, dass man in der heutigen Welt nur mit zeitgemässen Mitteln "kämpfen" kann, gleichzeitig bedeutet dies aber natürlich auch die Aufgabe von Werten: Das Internet mit allen Computern, die Telekom Industrie, die Schiffs- und andere Hi-Tech Betriebe ist von kapitalistischen Strukturen abhängig, die sich wenig um Ökologie scheren, den Sondermüll nach China exportieren, daneben dort Arbeitskräfte ausbeuten und Energie im Übermass verschwenden. D.h. man muss sich paradoxerweise in dieses System einklinken - obwohl es all diese Fehler hat und all das macht, was man kritisieren möchte - um noch irgendeine Chance zu haben etwas ändern zu können.

Das ist die systemische Paradoxie der heutigen Zeit. Was als neue Freiheit beginnt (und so vermarktet wird) endet nicht oft als systemischer Zwang, dem man beim besten Willen nicht mehr entgehen kann.

"Ich war in den Vereinigten Staaten bei Rockkonzerten, wo viele Leute glauben, dass sie rebellieren. Stattdessen dürfen sie auf diesen Festivals nicht mehr als nur eine Biermarke kaufen und eine Art von Sandwich essen. Sie sind im Konsumsystem gefangen. Dasselbe denke ich, wenn ich die jungen Leute im Netz sehe.", Ted Nelson

Montag, 8. Oktober 2007

Kosten von Studienabbrechern

Um peinlichen Nachfragen von vornherein zu entgehen: Nein, ich lese diese "Zeitung" "Heute" nicht; allerdings fällt es leider schwer, wenn man in der U-Bahn unterwegs ist, von den Schlagzeilen nicht belästigt zu werden. Und die heutige war so aufdringlich dumm dass ich etwas entgegnen möchte.

Eine kleine Abschweifung möchte ich mir an dieser Stelle noch erlauben, die mir schon seit langem auf der Zunge liegt:

Ich finde es überraschend, dass Käufer(innen?) von Sex-Magazinen und dergleichen sich offensichtlich genieren und man diese in der Öffentlichkeit eigentlich niemals sieht (außer am Zeitungsstand), da die Käufer diese wohl sofort gut verstecken. Nun könnte man doch argumentieren, dass Käufer derartiger Magazine eigentlich nur einem menschlichen (und offenbar sehr starkem) Trieb folgen. Sie genieren sich also ihre Magazine auch nur offen zu tragen geschweige denn zu lesen (gut, "lesen" ist vielleicht nicht der richtige Begriff in diesem Zusammenhang).

Andererseits verspüren auch durchaus intelligente Menschen anscheinend keinerlei Scham sich mit Drucksorten wie "Kronen Zeitung" oder "Heute" in aller Öffentlichkeit zu zeigen.

Und dieser tatsächlich peinliche Befund ist bei näherer Betrachtung vielleicht wieder keine so weite Abschweifung vom Thema dieses Blog-Artikels wie ursprünglich angenommen: Hätten wir eine besser gebildete (nicht "ausgebildete") Bevölkerung, eine die auch im kritischen Denken besser geschult ist-und zwar egal ob sie ein Studium nun abgeschlossen oder nur begonnen hat-wir würden vielleicht in der Gesellschaft die Fronten wieder geraderücken:

Es würden sich dann vielleicht diejenigen zurecht genieren, die in der Öffentlichkeit mit Krone, Heute & Co unterwegs sind.

Aber zurück zum eigentlichen Thema:

"Uni-Abbrecher kosten Staat eine Milliarde Euro!"

lautet die Schlagzeile und gleich geht es schockierend weiter im Text:
"Diese Zahl schockt ganz Österreich: Laut Ministerium brechen bis zu 70 Prozent der 233.000 Studenten ihre Uni-Karriere vorzeitig ab. Der Campus-Hammer: Damit kosten die Hochschul-Deserteure den Staat knapp eine Milliarde Euro, insgesamt liegen die Kosten noch höher! Jetzt wird teuren 'Blindgängern' der Kampf angesagt."
Abgesehen von der zu erwartenden desolaten Sprache kann man solche Aussagen meiner Ansicht nach aus verschiedenen Gründen so nicht stehen lassen:

Zunächst sind Aussagen wie "bis zu..." mit großer Skepsis zu lesen. Was soll das bedeuten? Tatsächlich ist die Situation mit Sicherheit komplex und daher differenziert zu betrachten: Es gibt eine große Zahl verschiedener Studienrichtungen, Universitäten usw. und hier sind erhebliche Unterschiede zu beachten. Ich kann hauptsächlich aus eigener Erfahrung von Informatik und anderen technischen Studien berichten. In der Informatik z.B. gibt es sicherlich eine erkleckliche Anzahl an Abbrechern. Nun ist es aber gerade hier so, dass viele Studenten während ihres Studiums arbeiten und dann häufig in einen "Interessenskonflikt" geraten.

Die typische Biographie ist dann, dass zunächst während des Studiums ein wenig daneben gearbeitet wird; dann nimmt die berufliche Arbeit mehr und mehr Raum ein, und schliesslich wird das Studium fallengelassen. Dies ist oft eine unerfreuliche Situation, und es wäre vermutlich eher im Sinne des Studenten das Studium abzuschliessen, aber gesellschaftlich betrachtet ist dies kaum eine Katastrophe und zwar aus verschiedenen Gründen:

Nur weil jemand das Studium nicht abgeschlossen hat bedeutet das nicht, dass er nichts im Studium gelernt hat. Er/sie hat unter Umständen nur aus verschiedenen Gründen heraus nicht die Motivation gehabt einen Abschluss zu machen. Viele finden auch erst im Umfeld des Studiums ihren Beruf. Insoferne kann bei diesen Fällen kaum von großem gesellschaftlichen Schaden gesprochen werden.

Natürlich gibt es eine Vielzahl an anderen Gründen, warum Studien nicht beendet werden. Bspw. kann es sein, dass die initiale Studienwahl sich als unpassend herausgestellt hat. Ein "irren" muss erlaubt sein und ein Wechsel ist immer noch besser als der Abschluss des "falschen" Studiums. Zwar gibt es Studienberatungen und andere Aktivitäten zur Unterstützung für Schüler/beginnende Studenten aber dennoch ist es nunmal für viele schwer die tatsächlichen Inhalte einer bestimmten Studienrichtung richtig einzuschätzen.

Am anderen "Ende" gibt es sicherlich auch solche Studenten, die nie eine ernste Absicht verfolgen das gewählte Studium ernsthaft zu betreiben (vielleicht weil sie von den Eltern getrieben werden, oder aus welchen anderen Gründen auch immer). Und in diesen Fällen kann ich (als Universitätsangestellter) etwas zynisch nur sagen: "her damit", von denen brauchen wir viel mehr!!

Denn: diese Studenten kommen wenig bis gar nicht in die Vorlesungen und Übungen und machen üblicherweise auch kaum Prüfungen und verbrauchen daher auch fast keine Uni-Resourcen. Seit Einführung der Studiengebühren zahlen sie einen (wenn auch geringen) Studienbeitrag. Wo ist also der finanzielle/gesellschaftliche Schaden zu sehen? Es wäre vermutlich besser diese Personen dazu zu motivieren etwas konstruktiveres mit ihrem Leben zu anzufangen, aber Schaden für das Uni-System bereiten sie kaum.

"Deserteure und Blindgänger"

Ich finde es auch wirklich unpassend Studienabbrecher als "Deserteure" oder "Blindgänger" und sei es nur in Anführungszeichen, zu bezeichnen. Das ist eine völlig unakzeptable Verrohung und Verdummung der Sprache. Nur weil jemand ein Studium abbricht, macht ihn das noch lange nicht zum "Blindgänger".

Ich weiß, in einer Zeit wo sich alles an unmittelbaren und kurzfristigen (und oft eigenartigen) Metriken zu definieren hat sind "Bildungsideale" oder langfristige Überlegungen weniger gefragt (siehe auch eines meiner anderen Postings "Wissen ist Macht"). Aber ich bin der Ansicht, dass höhere Bildung niemandem Schaden wird, am wenigsten der Gesellschaft. Selbst wenn jemand ein Studium nicht beendet, so denke ich, dass der Kontakt mit eben diesem Studium in vielen Fällen positive Auswirkungen haben wird.

Einerseits sollte unsere Gesellschaft langsam verstehen, dass Lernen nicht immer ein "positiver" Weg ist (in dem Sinne das man etwas positiv/erfolgreich fertigstellt); manchmal scheitert man an etwas, bricht ab, aber gerade dieser Abbruch, dieses scheinbare Scheitern ist ein wichtiger (Lern-) Schritt im eigenen Leben.

Welcher Schaden ist angerichtet, wenn jemand nur wenige Semester Informatik, Philosophie, Sprachen, Chemie usw. studiert? Die Person hat damit etwas gelernt, vielleicht einen weiteren Horizont bekommen, und das letzte was wir in der heutigen globalen Situation brauchen können, sind engstirnige Menschen; auch wenn unser Bildungssystem diese in immer stärkeren Maße hervorbringt.

Man kann hinzufügen, dass gebildete Menschen bei manchen politischen Vertretern und auch bei Herausgebern z.B. der hier zitierten "Medien" wenig beliebt sind, zumal sie sich weniger leicht manipulieren lassen, öfter gewillt sind selbst zu denken, und nicht jeden Unsinn glauben wollen, den uns die Medienindustrie gerade veröffentlicht.

Zahlenspiele

Dankenswerterweise zitiert der Fachartikel in "Heute" auch noch konkrete Zahlen, diese sollen nicht verschwiegen werden:
"Damit werfen im Jahr schon Tausende Studiosi vorzeitig das Handtuch. Das Ministerium ist alarmiert, denn: 'Bei durchschnittlich 7000 Euro pro Student und Jahr für Infrastruktur, Förderung und Material hat der Staat immense Kosten zu tragen', sagt eine Sprecherin. Immens ist noch untertrieben: Denn laut Experten kommen die 'Blindgänger' mit einer Milliarde Euro teuer zu stehen!"
Nun, zum Glück haben das Experten ausgerechnet (was würden wir nur tun, wenn es keine Studienabbrecherkostenverursachungsexperten gäbe??), sonst würde ich das nicht glauben! Es sind wohl auch solch hochkarätige und gleichzeitig geheime Experten, dass man sie sicherheitshalber nicht nennen möchte.

Nun könnte man sich neben allen Argumenten, die ich oben gebracht habe, auch überlegen, ob der "Durchschnitt" ein geeignetes Maß ist, um den Schaden zu berechnen: Durchschnitt bedeutet, dass die Gesamtkosten durch die Anzahl aller inskribierten Studenten geteilt wird. Nun ist es aber eben so, dass gerade die Abbrecher nicht unbedingt diejenigen sein müssen die im System große Kosten verursachen; denn würden sie intensiv studieren so würden sie das Studium ja vermutlich auch beenden.

D.h. die Zahl durch die zu teilen ist, wird deutlich niedriger ausfallen, oder anders gesagt: der aktiv Studierende wird de facto mehr kosten als 7000 Euro (dies ist eine andere Diskussion, die man natürlich führe kann, ob dies zu teuer ist), der weniger aktive Student jedoch sicher deutlich weniger.

Oder anders gesagt ist es vermutlich eine einfache, wenig überraschende und triviale Wahrheit: Bildung kostet etwas, und diejenigen, die studieren konsumieren eben diese Leistungen. Diejenigen die intensiv studieren kosten folglich mehr, diejenigen die weniger intensiv studieren weniger.

Wer dann einen Abschluss macht ist wiederrum eine andere Frage, denn Bildung lässt sich nicht unbedingt direkt mit Abschlüssen messen und der Erfolg der Uni-Ausbildung lässt sich folglich ebenso nicht direkt in Abschlusszahlen ausdrücken.

Montag, 10. September 2007

Schlangenträume

Ich höre regelmässig "Braincast" von Arvid Leyh, ein schöner Podcast im Umfeld der Gehirn und Geist Zeitschrift aus dem Spektrum Verlag (auch schön, lese ich auch gerne).

Weniger schön ist dass im letzten Podcast über Kreativität mal wieder das unselige Kekule Beispiel bemüht werden musste. Es ist eigentlich unwahrscheinlich wie sehr sich manche Mythen auf einer globalen Basis festsetzen obwohl sie seit Jahrzehnten widerlegt sind. Nur zur Erinnerung: der Mythos (vermutlich von Kekule selbst ins Leben gerufen) besagt, dass Kekule der erste war, dem die cyklische Struktur des Benzols (heute ja eigentlich Benzen) eingefallen ist. Nun sei er darauf ja nicht etwa nur durch intensives Nachdenken alleine gekommen, nein: es musste ein Traum sein indem ihm eine Schlange erschienen ist, die sich selbst in den Schwanz beißt (man verzeihe mir den leichten Zynismus *g*).

Nett.

Aber falsch. Vor Jahren wurde das ausgiebig in der (sehr guten!) ORF Wissenschaftssendung Köpfe diskutiert. Tatsächlich hat Jahre vor Kekule der österreichische Wissenschafter Joseph Loschmidt (übrigens eine äußerst interessante Wissenschafterpersönlichkeit) vorgeschlagen. Nicht nur das. Es gibt auch historisch sehr klare Belege, dass Kekule von diesen Vorschlägen Loschmidts gewusst hatte. Es hat diese Ideen für abwegig gehalten, vielleicht auch deshalb weil Loschmidt "formal" nicht auf seinem Niveau war, denn Loschmidt hatte nicht einmal einen Doktortitel. Das ändert nun aber nichts an der Tatsache, dass es (1) Loschmidts Idee war und und er diese auch publiziert hatte und (2) Kekule davon wusste und er (3) diese Idee zunächst für abwegig gehalten hatte.

Gegen diese drei Punkte gibt es zunächst nichts einzuwenden. Wissenschaft ist nicht immer ein gerade Pfad, und man muss nicht jede Idee die irgendein "dahergelaufener" Kollege vorschlägt sofort ernstnehmen und unterstützen. Gelinde gesagt kühn ist es jedoch Jahre später eben diese Idee auf die eigene Fahne zu heften und noch dazu mit dem Mythos einer Eingebung im Traum zu würzen.

Immerhin muss man zugestehen, dass Kekule ein sehr gutes Gespür für die "Stickiness" von Geschichten hatte (um einen Begriff von Malcolm Gladwells "Tipping Point" zu verwenden), denn diese Geschichte hält sich obwohl falsch so hartnäckig in der Wissenschaftsberichterstattung wie kaum etwas anderes.

Donnerstag, 30. August 2007

Ist der Frosch tot?

Seit Jahren geistert im englischen der Begriff des "Leapfrogging" durch die Literatur. Gemeint ist damit im allgemeinen, dass man neue, moderne Technologien verwenden kann, ohne über die Zwischenschritte gehen zu müssen; man überspringt (leapfrog) sozusagen die Zwischentechnologien. In der Wirtschaftswissenschaft ist damit z.B. gemeint, dass man nicht jedes Update einer Software mitmacht (das haben auch Microsoft und Co erkannt und verbieten dies mit den neuen Lizentmodellen de facto: der Abhängige will gemolken werden!).

Meist wird es jedoch im Kontext von Schwellen- und Entwicklungsländern verwendet. Die gut gemeinte Idee ist, dass diese Länder ja nicht alle Fehler machen müssen, die wir als Industriestaaten gemacht haben, sondern gleich "weiter oben" einsteigen können. Damit ließe sich, so weiter, der ausufernde Resourcenverbrauch der jetztigen "dritten Welt" eindämmen: durch Leapfrogging würden sie sozusagen auf denselben Entwicklungsstand wie wir kommen, aber mit geringerem Resourcenverbrauch (wieso gelingt uns das dann eigentlich nicht in den Industriestaaten?!).

Erfolgreiche Beispiele (für Leapfrogging, weniger für geringeren Resourcenverbrauch) gibt es durchaus: z.B. wird gerne das Mobiltelefon genannt. Dieses hat tatsächlich eine unglaubliche Verbreitung in Entwicklungsländern erreicht und de facto wurde dort das Festnetztelefon in vielen Regionen "übersprungen".

Viel mehr wirklich nennenswerte Beispiele sind aber leider nicht zu nennen. Jedenfalls sind mir keine bekannt. (Falls der Leser gute Beispiele kennt...?) Zwar gibt es immer wieder vereinzelte Projekte wo in Entwicklungsländern nachhaltige Wirtschaft versucht wird (Solarenergie...), aber de facto sieht die Realität leider anders aus. Ein gutes Beispiel hierfür wurde in einer der letzten Science Friday Radiosendung genannt: Einige amerikanische Bundestaaten investieren bspw. in "grüne" Technologie und deaktivieren schmutzige Kohlekraftwerke. Ein guter Schritt! Sicher. Ein schmutziges Kohlekraftwerk weniger.

Falsch.

Tatsächlich hat sich ein Markt für Industriebetriebe und deren Maschinen entwickelt, die in Industrienationen nicht mehr verwendet werden (z.B. weil sie zu alt, abgeschrieben sind, oder die lokalen Auflagen nicht mehr erfüllen usw.). Im Beitrag wurde von einem kompletten Kohlekraftware berichtet, das in den USA abgebaut und irgendwo in Südamerika wieder aufgebaut wurde. Dort feuert es natürlich weitere 20 Jahre und produziert CO2 und andere Abgase mit Technologie von gestern. Also durchaus ein Leapfrog, aber in die falsche Richtung!

Legende sind auch die amerikanischen Schulbusse, die in Amerika ausser Betrieb genommen in Staaten wie Guatemala noch Jahrzehnte weiter im Einsatz sind. Soviel zum Thema "Leapfrogging". In der Tat scheint leider eher das gegenteilige Phänomen zu beobachten zu sein. Nicht nur verwenden wir Entwicklungsländer wie China als Mülldeponie für unseren Elektronikschrott und lassen zu teilweise unwürdigen Bedingungen für uns produzieren, es scheint nun zusätzlich auch der Trend zu kommen alte und schmutzige Technologie in diese Länder zu exportieren.

Denn wenn wir ehrlich sind: Leapfrogging ist eine schöne Idee, aber wie sollte es dazu kommen, dass gerade Entwicklungsländer sich die allerneueste und sauberste Technologie leisten können (und auch in der Lage sein sollten diese zu warten) wenn nichtmal wir in Europa und den USA willens sind ein paar Cent mehr für saubere Energie zu bezahlen.

Montag, 13. August 2007

Die verlorene Seele

Andy Clark schreibt in "Being There":
"The true engine of reason, we shall see, is bounded neither by skin nor skull."
Ich denke seit langem darüber nach was unser "Selbst", oder wenn man einen barocken Ausdruck verwenden möchte "unsere Seele" ausmacht. Diese Frage ist für mich besonders deshalb sehr spannend, weil in einem breiten Verständnis und auch im Verständnis der meisten mir bekannten Religionen der Eindruck herrscht, die "Seele des Menschen" wäre so etwas wie der "wahre" Kern des Menschen und auch in einer Weise unveränderlich. Es wäre der Sitz der "eigentlichen" Persönlichkeit. Oder um Descartes sprechen zu lassen:
"Ich erkannte daraus, daß ich eine Substanz sei, deren ganze Wesenheit oder Natur bloß im Denken bestehe und die zu ihrem Dasein weder eines Ortes bedürfe noch von einem materiellen Dinge abhänge, so daß dieses Ich, das heißt die Seele, wodurch ich bin, was ich bin, vom Körper völlig verschieden und selbst leichter zu erkennen ist, als dieser und auch ohne Körper nicht aufhören werde, alles zu sein, was sie ist.", René Descartes
Natürlich (nach dem was uns Religion glauben machen möchte) ist die Seele auch der Teil des Menschen der dann unsterblich ist. In diesem Verständnis darf die Seele gar nicht allzusehr von weltlichen Dingen abhängig sein. Wie könnte man sonst die Ungerechtigkeit erklären, dass ein Baby, das stirbt über eine weniger ausgeprägte Seele verfügt wie ein "weiser alter Mensch", oder ein geistig Behinderter; es soll uns doch zum Trost gereichen, dass dieser vielleicht in weltlicher Hinsicht nicht mit den anderen Schritthalten kann, aber doch seine Seele wenigstens denselben Reichtum hält die die aller anderen Menschen und somit, Gott sei dank, wir alle doch auf ein freudiges Seelenleben nach dem Tod hoffen dürfen. Descartes hat mit dieser seiner Philosophie wohl unser Denken leider sehr nachhaltig geprägt und wir sind immer noch nicht wirklich über diesen simplen Dualismus hinausgekommen.

Mir war diese Gedankenwelt allerdings schon lange Zeit verdächtig; ganz zu Schweigen von den operativen Vorteilen dieser Vorstellung (sie macht doch viel Sinn im Verkaufen ansonsten fragwürdiger religiöser Ideen) ist sie auch abseits der Religion eine sehr weit verbreitete Idee. Die Seele ist unser wahrer Kern den wir zu entdecken haben (wie viele Psychotherapeuten verdienen gutes Geld an diesen Konzepten), ein Kern der vielleicht manchmal verschüttet sein kann, überlagert mit weltlichen Aspekten, verworren, verzerrt. Aber dann doch: im Kern rein und wahr.

Und doch ist diese Idee Unsinn.

"Biologie" und die Seele
"Our own body is in the world as the heart in the organism...it forms with it a system.", Maurice Merleau-Ponty
Ich habe länger als es eigentlich sein dürfte gebraucht um diese doch schon vordergründig merkwürdige Idee abzuschütteln (was so viele über so lange Zeit glauben, daran muss doch etwas wahres sein, oder?). Einer der ersten der mich nachhaltig zu Zweifeln war Oliver Sacks mit seinem Buch: "Der Mann der seine Fraum mit seinem Hut verwechselte". Der Psychiater Sacks schildert hier eine Reihe von Menschen die zum Teil unter massiven Störungen leiden. Das eigentlich erschütternde für mich ware aber, und das ist mir erst nach diesem Buch so klar geworden, wie stark die Persönlichkeit eines Menschen an biologische Phänomene gebunden ist.

Natürlich war mir klar, dass Verletzungen des Gehirns massive Probleme verursachen können: erblindet jemand in Folge eines Unfalls, oder sind Teile seines Körpers gelähmt so ist dies tragisch aber hat wenig direkten Einfluss auf seine Persönlichkeit. Nun gibt es aber Verletzungen (man erinnere sich an den immer wieder zitierten Fall des Phineas Gage dem bei einem Arbeitsunfall bei einer Sprengung 1849 ein Eisenrohr durch den Kopf "geschossen" wurde, oder "Elliot", den Damasio in "Descartes' Irrtum" beschreibt), die eine Person geradezu um 180° Umpolen können. Auch Sacks erzählt dies. Menschen, deren Charakter vorher als freundlich und friedliebend beschrieben wurden, werden aggressiv, vielleicht sogar handgreiflich gegenüber Verwandte und Freunde, zeigen vielleicht sexuelle Abnormitäten, bis man feststellt, dass diese Verhaltensweisen und Charakteränderungen bspw. durch einen Tumor im Gehirn ausgelöst werden.

Wo fängt denn nun die Seele des Menschen an und wo hört sie auf?

Ist sie letztendlich so rein und verborgen, dass sie keinen direkten Einfluss auf unser Leben und Charakter hat, dann finden wir uns sehr schnell im klassischen Leib/Seele Problem wieder, das unseeligerweise von Descartes mit seiner scharfen Trennung von res extensa und res cogitans so richtig ins Rollen gebracht wurde. Oder hat unsere Seele doch einen unmittelbaren Kontakt mit unserer Wirklichkeit? Dann wurden diese bemitleidenwerten Menschen wohl nicht nur von weltlicher Krankheit erfasst sondern auch deren Seele "beschädigt".

Hat man erkannt, dass die strikte Trennung offensichtlich in die Irre führt sollte man, denke ich, am besten umdrehen und nicht versuchen kompliziert den falschen Weg zu rechtfertigen (nur weil wir uns vielleicht an diese "romantische" Idee so gewöhnt haben). Vergessen wir das was uns jahrhundertelang als Konzept der "Seele" verkauft wurde. Es gibt sie nicht. Nicht in dieser Form.

Ich denke, wir werden lernen müssen, dass der Mensch nicht so einfach zu erklären ist wie uns das so manche Religion, Philosophie oder gar esoterischer Theorie nahelegen möchte. Der Mensch ist eine komplizierte "Verwicklung" von geistigen, biologischen, sozialen und Einflüssen aus der Umwelt. All dies zusammen ergibt ein Bild des individuellen Menschen und seiner "Seele"; wenn man diese Begriff unbedingt retten möchte (warum eigentlich?). Es gibt keine losgelöste Seele, keinen von der Umwelt losgelösten Geist. Damit komme ich zum nächsten Schritt meiner Erkenntnis:

Antonio Damasio und Descartes' Irrtum

In seinem sehr einflussreichen und oft zitierten Buch Descartes' Irrtum, versucht Damasio zu zeigen, dass die populäre Annahme, der Geist "wohnt" zwar im Körper sei im wesentlichen als alleinstehendes Merkmal zu betrachten ein Irrtum ist: Das gängige Bild war/ist ja, dass der Geist, wenn erforderlich, mit dem Körper interagiert; also z.B. um Information über die Sinnesorgane wahrzunehmen oder um eben dem Körper "Befehle" zu erteilen; aber ansonsten funktioniere der Geist recht autark vom Körper.

Diese Annahme motivierte Psychologen, Mediziner, Philosophen und auch AI Forscher (s.u.) in derern Forschungsansätzen. Damasio zeigt nun, dass der Geist wesentlich stärker mit dem Körper "integriert" ist, als man vorher angenommen hat. Dass die Trennung von Geist und Körper wahrscheinlich recht haltlos ist, d.h. unser Geist, unser Selbst eine integrale Wahrnehmung von Körper und Geist sind.

Damit einher (um einen Kleinen Seitenblick zu machen) geht auch die Frage, was rational und was emotional ist:
"Ein Mangel an Gefühlen kann eine genauso wichtige Ursache für irrationales Verhalten sein", Antonio Damasio, ebenda
Gerade in letzter Zeit wird sehr detailiert untersucht, wie wir unsere Entscheidungen treffen und der "homo oeconomicus", der immer auf seinen Vorteil bedacht rational entscheidet kann eigentlich guten Gewissens in Pension geschickt werden. Unsere Entscheidungen sind in einem starken Maße von Emotionen geprägt (Christoph Pöppe vom Spektrum der Wissenschaft fasst dies sehr gut in dem aktuellen Podcast zum Thema "Urlauberdilemma" zusammen; empfehlenswerte Lektüre zu dem Thema ist weiters "Blink" von Malcolm Gladwell.). Davon abgesehen, haben Emotionen auch Funktionen, die weiter gehen, als wir oft angenommen haben (sehr gut in diesem Zusammenhang ist die SWR2 Sendung zum Thema "Wenn der Bauch denkt" in der sich Gerd Gigerenzer mit Entscheidungstheorien "im Gegensatz" zur Intiution auseinandersetzt).

Der nächste bedeutende Schritt, den ich für mich erkennen konnte ist nun vom Geist, der nicht, wie fälschlich von Descartes angenommen "für sich alleine steht", sondern vielmehr in enger Weise mit dem Körper verbunden ist, zur Erkenntnis, welche Rolle die Umwelt für unseren Geist spielt und wie sie dafür "operationalisiert" wird. Schon Damasio deutet das an:
"Die Wahrnehmung dient nicht weniger dazu, auf die Umwelt einzuwirken, als Signale von ihr zu erhalten.", Antonia Damasio, ebenda
Und damit möchte ich gerne meinen letzten "Erkenntnisschritt" gehen, weiter zum amerikanischen Philosophen Andy Clark:

"Being There" mit Andy Clark
"Minds are not disembodied logical reasoning devices.", Andy Clark, Being There
Andy Clark schreibt diskutiert in "Being There" zunächst über erfolgreiche und weniger erfolgreiche Ansätze der AI (artificial intelligence) und stellt fest, dass (wie das obige Zitat nahelegt) die AI seiner Ansicht nach früher den Fehler gemacht hat von der Annahme auszugehen, man könnte einfach den Geist zunächst mal losgelöst von Körper und Umgebung betrachten und "alleinstehend" modellieren. Dann später füge man weitere Komplexität in das System hinzu, bspw. mit den verschiedenen körperlichen Aspekten. Dies entspricht im Prinzip den "üblichen" und oft auch erfolgreichen reduktionistischen Ansätzen in der Naturwissenschaft.

Gerade in der Simulation des Geistes bzw. weniger auf AI bezogen, im Verständnis des (menschlichen) Geistes scheint dieser Ansatz aber massiv fehlzuschlagen:
"I shall tentatively suggest that there is no need to posit such a great divide, that the basic form of individual reason [...] is common throughout nature and that where we human being really score is our amazing capacities to create and maintain a variety of special external structures (symbolic and social-institutional). These external structures function so as to complement our individual cognitive profiles and to diffuse human reason across wider and wider social and physical networks whose collective computations exhibit their own special dynamics and properties. [...]

In these cases it would seem, we solve the problem (e.g. building a Jumbo jet or running a country) only indirectly-by creating larger external structures, both physical and social, which can than prompt and coordinate a long sequence of individually tractable episodes of problem solving, preserving and transmitting partial solutions along the way.", Andy Clark, ebenda
Damit greift Clark die Ideen von Damasio auf. Während Damasio noch den Schwerpunkt auf der "Einheit von Körper und Geist" legt (jedenfalls ist dies mein Verständnis), legt Clark nahe, dass unsere "Intelligenz" unser Geist tatsächlich erst verständlich und möglich wird, wenn man die Umwelt in die Betrachtung miteinbezieht, also die sozialen Systeme die Umgebung die wir uns zurechtlegen und die Artefakte die wir schaffen.

Beispielsweise ist ein Großteil meines Lebens ist direkt oder indirekt mit Computer- und Informationssystemen und auf dem Internet basierenden sozialen Netzen verbunden. Meine Intelligenz, Persönlichkeit, Kreativität ist daher recht eng an diese Systeme gebunden . Ich möchte hier nicht nahelegen, dass ein Leben für mich ohne diese nicht möglich wäre, das wäre es ohne Zweifel. Es wäre nur ein sehr anderes Leben als ich es jetzt führe.

Um mit Andy Clark zu schliessen:
"If our achievements exceed those of our forebears, it isn't because our brains are any smarter than theirs. Rather, our brains are the cogs in larger social and cultural machines-machines that bear the mark of vast bodies of previous search and effort, both individual and collective. This machinery is, quite literally, the persisting embodiment of the wealth of achieved knowledge. It is the leviathan of diffused reason that presses maximal benefit from our own simple efforts and is thus the primary vehicle of our distinctive cognitive success.", Andy Clark, ebenda

Montag, 6. August 2007

Umfrage! Leserinteresse

Nun gibt es dieses neue Umfragetool in Blogger.com und das gibt mir die Möglichkeit ein wenig mehr Feedback von meinen Lesern zu bekommen.

Ich würde mich freuen, wenn Sie, werter Leser, einen Blick in die rechte Spalte des Blogs werfen und Ihre Meinung bei der Umfrage bekannt geben. Das ganze ist übrigens anonym.

In der ersten Umfrage würde ich gerne wissen, wofür sich meine Leser hauptsächlich interessieren...


bitte gleich mitmachen!

Dienstag, 24. Juli 2007

Quanten und der "Teilchen-Welle Dualismus"

In Stanford...

In einer philosophischen Diskussion (Philosophy Talk, Stanford) die ich kürzlich verfolgt habe, wurde wieder über die "verwirrenden Erkenntnisse" der Quantentheorie diskutiert. An sich ein faszinierendes Thema. Für mich doch etwas überraschend war aber folgendes: Die fundamentalen Erkenntnisse der Quantentheorie wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelegt. Seit damals hat die Philosophie (aber natürlich auch die Physik) Zeit gehabt über philosophisch/ontologische Interpretationen zu entwickeln. Diese Diskussion hätte jedoch (vielleicht nicht als Podcast) in den 50er oder 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts stattfinden können. Ich hatte kaum den Eindruck irgendeine neue philosophische Position zu hören, die nicht schon vor Jahrzehnten diskutiert wurde.

Ein gutes Beispiel ist die Idee des "Welle-Teilchen" Dualismus. Seit ich damit im Rahmen meines Studiums konfrontiert wurde ist mir dieses Konzept absurd erschienen und bin seit damals der Ansicht, dass hier etwas fundamental nicht stimmen kann und vermutlich ist es eine Mischung aus zwei Problemen. Einerseits einer falschen Begrifflichkeit und andererseits einer falschen Vorstellung was die Quantentheorie eigentlich beschreibt. Ich lehne mich etwas weit aus dem Fenster, möchte meine Idee hier jedoch in aller Kürze darlegen:

Zum ersten Punkt: "Eine Begriffsverwirrung"

Dabei handelt es sich nach meiner Ansicht um eine Kategorienverwechslung. Der Begriff des Teilchens ist einer, der historisch sehr alt ist und sich wohl bis auf die griechische Philosophie zurückführen lässt (z.B. Leukipp, Demokrit). "Teilchen" als Begriff war also einer der sich im wesentlichen aus der Betrachtung der makroskopischen Welt heraus ergibt (siehe z.B. auch die "Billiard" Modelle die manchmal als Beispiel für einfache Gasmodelle herhalten). Hier werden Erfahrungen aus der direkt-menschlich-erfahrbahren Realität sozusagen verkleinert und als Modell (oder im Sinne der griechischen Philosohpie vielleicht idealisiert) der mikroskopischen Welt hergenommen. Für manche Problemstellungen kann dieser Ansatz durchaus funktionieren. Beispiele könnten das schon erwähnte "ideale Gas" sein, aber auch Konzepte der statistischen Thermodynamik scheinen mir auf dieser Idee aufzubauen. Es ist aber letztlich eine recht grobe Modellierung der "Welt der Atome und Moleküle".

Die experimentelle (und nicht nur rein idealisierte gedankliche) Beschäftigung mit der Welt der Atome hat aber letztlich gezeigt, wie unpassend die Konzepte der klassischen Mechanik in diesem Bereich der Physik sind, und haben zu ganz neuen Theorien geführt, eben unter anderem zur Quantenmechanik. Dies ist eine Entwicklung in der Wissenschaft die häufig zu beobachten ist: man begibt sich in eine neue Domäne die vorher bspw. durch Experimente nicht zugänglich war (Atomphysik, Kosmologie, Mikrobiologie, Genetik) und versucht die beobachteten Phänomene zunächst mit bekannten und in anderen Bereichen erfolgreichen Theorien zu beschreiben. An irgendeinem Punkt muss man dann häufig feststellen, dass die alte Theorie (in diesem Fall die klassische Mechanik) mit den neuen Phänomenen (der Quanten) nicht mehr zusammenpasst, also wird eine neue Theorier (die Quantentheorie) entwickelt.

Leider wurde aber, und hier ist aus meiner Sicht der eigentliche Fehler passiert, die Begrifflichkeit nicht vollständig ausgetauscht, sondern man hat weiter den Begriff des "Teilchens" verwendet. Dies mag für die Physik und für angewandten Ingenieurwissenschaften kein wirkliches Problem sein, weil es dort nicht um "Ontologie" also um das Verständnis der Welt geht, sondern um die Frage, ob man natürliche und künstliche Phänomene angemessen Beschreiben und vorhersagen kann. Es verwirrt aber leider alle, die sich um ein Verständnis der Dinge bemühen.

Der Begriff des Teilchens ist nun einmal aus unserem historischen und alltäglichen Verständnis geprägt, und wenn dieses in Zusammenhang mit Quanten verwendet wird, so machen wir uns ganz automatisch völlig falsche Bilder: z.B. Atome die wie Billiardkugeln herumfliegen. Wir wissen zwar dass dies so nicht zutrifft, aber das Bild bleibt im Kopf. Sinngemäß ähnlich das Konzept der Elektronen und Orbitale: auch hier bekommen wir das Bild der "Sonne" als Atomkern mit kreisenden Planeten oder um Planeten kreisende Satelliten (Orbit) als Elektronen nicht aus dem Kopf. So falsch und irreführend dies auch sein mag.

Ich denke daher, dass es eine recht schlechte Idee ist, bekannte Begriffe, die aus alten Theorien oder dem alltäglichen Sprachgebrauch her stammen (Teilchen, Orbital, ...) in eine neue Theorie hinüberzuretten. Zunächst geschieht dies vielleicht aus Bequemlichkeit — warum auch einen neuen Begriff finden — vielleicht auch aus der falschen Annahme, dass damit die neue Theorie leichter zugänglich wird, da man ja auf bekannte Begriffe verweist.

Tatsächlich ist aber eben mit diesem Rückgriff das Kind schon in den Brunnen gefallen: Wir bringen damit alte Ideen in neue Theorien ein, und das verwirrt offenbar mehr als es nutzt. Das erkennt man am genannten Beispiel, dass wir immer noch diskutieren, ob etwas eine Welle und ein Teilchen zur gleichen Zeit sein kann.

Und dies kann, meine ich, wohl kaum der Fall sein, denn: "Welle" und "Teilchen" sind Begriffe aus der makroskopischen Welt und haben als "ontologische" Begriffe in der atomaren Welt nichts zu suchen. Die Welt der Quanten ist offenbar eine ganz andere als die Welt die uns durch direkten Wahrnehmung zugänglich ist (oder jedenfalls bietet es sich aus praktischen Erwägungen an, diese unterschiedlich zu beschreiben), daher sollten auch andere Begrifflichkeiten gewählt werden. Natürlich kann es an den Grenzflächen der Theorien zu Überschneidungen kommen. Wenn sich bspw. Phänomene der Quantenwelt tatsächlich in unserer "makroskopischen" Welt manifestieren, kann man diese wieder mit makroskopischen Begriffen (Welle, Teilchen) bezeichnen, aber erst dann!

Also als ersten Schritt sollte man meiner Meinung nach keine Formulierungen der Art verwenden wie "Welle-Teilchen Dualismus" oder "Quanten sind Wellen oder Teilchen, je nach Art des Experimentes", das sind sie nicht. Sie sind etwas anderes, etwas für das wir vielleicht keine Bilder erzeugen können die uns aus der Alltagserfahrung zugänglich sind. Allerdings können Quanten-Systeme in verschiedenen Experimenten Effekte zeigen, die man als klassisches Wellen- oder Teilchen beschreiben kann.

D.h. Quanten können Effekte zeigen, die wir klassisch begreifen können (in diese Richtung funktioniert es) aber aus diesen Effekten darf nicht auf die "Beschaffenheit" der Quanten geschlossen werden (die andere Richtung ist also verboten).

Oder etwas polemisch formuliert: "Ein Quant ist Teilchen und Welle" macht etwa so viel Sinn wie "Ziegelsteine können als Mauer oder Garage auftreten". Man vermischt Begriffe aus verschiedenen Welten. Ziegelsteine können unter bestimmten Voraussetzungen ein Objekt formen, das wir als Garage bezeichnen, aber die Garage erklärt wenig über die Natur der Ziegelsteine, sie kann auch betoniert werden oder aus einem Blechkontainer!

Auch in anderer Hisicht wird begrifflich manchmal geschludert: z.B. wird im Spektrum der Wissenschaft 7/07 folgendes geschrieben:

"... das Verhalten eines Objektes [kann] davon abhängen, was wir darüber herauszufinden versuchen"
Dies ist sicherlich inhaltlich nicht falsch, aber dennoch irreführend, denn es kännte der Eindruck entstehen, die Messung an sich oder gar der menschliche Beobachter würde das Verhalten eines Objektes beeinflussen. "Wir" sind in der Tat recht irrelevant, relevant ist es wie "wir" oder irgendein anderes System mit dem Objekt interagieren. Ob dies mit menschlichem Wissensgewinn verbunden ist dabei wohl völlig egal.

Und dies leitet auch gleich zum zweiten Aspekt über:

Zweitens: "Was wird eigentlich Beschrieben?"

Können wir überhaupt, wenn wir von Quantentheorie sprechen, von der selben "Kategorie" von Theorie sprechen verglichen mit den "alten" Theorien? Mir fällt jetzt kein besseres Wort als "Kategorie" dafür ein: heute wird es doch zumeist so gesehen, dass die Welt der Quanten zwar nicht mit den Gesetzen der Mechanik beschrieben werden kann, aber immerhin, wir haben es doch noch mit Teilchen zu tun, die sich halt anders verhalten und anders beschrieben werden müssen. Aber es sind doch immer noch "Teilchen" die interagieren.

Oben habe ich auf die Problematik der Begriffsbildung verwiesen und hier scheint sie sich auf einer weiteren Ebene zu rächen. Wir verwenden Teilchen und haben damit eine bestimmte Art von "Operationen" im Sinn, die wir beschreiben können. Eben "Teilchen", also Atome, Moleküle, Elektronen usw. die irgenwie aufeinander aufbauen, miteinander interagieren, sich zu größeren Systemen zusammensetzen usw.

Vielleicht ist dies aber eine ganz falsche Art die Quantetheorie zu betrachten. Ich stelle hier natürlich nicht die Quantentheorie an sich in Frage, sondern die Betrachtung derselben, also was wir denken, das beschrieben wird. Viele der "seltsamen" Phänomene, der Experimente, man denke an Wellengleichungen, veschränkte Systeme usw. sind vielleicht nur darum seltsam, weil wir sie unter dem Begriff der Teilchen betrachten.

Natürlich ist es seltsam, wenn "Teilchen" über eine "spukhafte Fernwirkung" miteinander verbunden sind.

Vielleicht ist es aber nicht mehr seltsam, wenn man den Begriff des Teilchens einfach fallen lässt. Damit beschreibt die Quantenphysik nicht mehr Teilchen und deren Interaktion, sondern systemisches Verhalten, indem Teilchen auf unterster Ebene keine Rolle mehr spielen. Quantensysteme können (siehe auch oben) sich unter manchen Voraussetzungen wie Teilchen verhalten, aber das könnte nicht der onotologische Kern der Theorie sein.

Vor einigen Monaten gab es einen Beitrag im Deutschlandradio, wo ein Mitarbeiter aus dem Forschungsteam um Prof. Zeilinger interviewt wurde. Und eine Aussage war sinngemäß, dass neue Experimente tatsächlich an zwei Eckpunkten bisherigen physikalischen (und philosophischen) Verständnisses rütteln: am Prinzip der Lokalität und des Realismus.

Unter Lokalität versteht man vereinfacht gesagt, dass zwei Objekte, die weit voneinander entfernt sind einander nicht beeinflussen können. Unter Realismus wird üblicherweise verstanden, dass Objekte Eigenschaften haben, die diese konstituieren, und zwar unabhängig davon ob "wir" hinsehen, messen oder nicht.

Diese Forschungsarbeiten scheinen nun darauf hinzuweisen, dass ein Objekt nicht durch unabhängige Eigenschaften konstituiert zu sein, sondern diese zu einem gewissen Maß davon abhängen, wie es mit anderen "Objekten" interagiert. Wobei hier vielleicht sogar der Objektbegriff fragwürdig wird und möglicherweise besser durch einen systemischen Begriff ausgetauscht werden sollte.

Nach meinem Verständnis könnte man in der Interpretation der "Quantentheorie" vielleicht in der Hinsicht weiterkommen, dass man sich diese nicht als eine Theorie die das Verhalten von Teilchen vorstellt, sondern als eine die in erster Linie Interaktionen zwischen Systemen beschreibt. In dieser hat spielt das "Verhalten eines einzelnen Teilchens" um in der alten Terminologie zu bleiben, auch keine besondere Rolle, sondern das gesamte System, in das dieses "Teilchen" integriert ist. Dazu gehören auch Messsysteme und ggfs. auch menschliche Beobachter.

Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)