Montag, 12. Oktober 2020

Covid und Statistik: warum »R« mit Vorsicht zu genießen ist

Im Krisenmanagement und der Kommunikation um die Covid-Verbreitung in den Medien wird regelmäßig die Reproduktionszahl R diskutiert. Dabei handelt es sich um die durchschnittliche Zahl von Personen, die eine infizierte Person ansteckt. Ist sie beispielsweise »2« so steckt ein Infizierter zwei weitere Personen an.

In zahlreichen Medien (und wohl auch von den politischen Krisenstäben) wurde der Eindruck erweckt, dass eine Zahl >1 sehr ungünstig und alles zu unternehmen wäre um R < 1 zu bekommen. Wenn man nicht weiter überlegt klingt dies auch sehr logisch: steckt ein Infizierter im Schnitt mehr als eine weitere Person an, so wächst die Zahl der Infizierten stark an.

Der Mittelwert (Spitze der Kurve) wird irrelevant, wenn es einen long tail gibt, das heißt einige seltene Ereignisse den größten Beitrag am Ergebnis liefern. (Nassim Taleb, Statistical Consequences of Fat Tails)

Die Sache ist nur leider – wie so oft – etwas komplizierter: Die Verteilung der Reproduktionszahl bei Covid hat offenbar einen »long tail«. Das bedeutet, es gibt einige wenige Infizierte, die sehr viele andere infizieren. Dies lässt sich aber aus dem Durchschnitt, also der R-Zahl gerade nicht herauslesen. Wir diskutieren also, ob sich der Mittelwert bei 0,9 oder 1,2 bewegt, was somit relativ irrelevant ist, wenn die eigentliche Verbreitung durch wenige Infizierte bei »Superspreading Events« stattfindet. Sei es bei Harley Davidson Parties, im weißen Haus, Ischgl oder auf der Party-Meile in Makarska.

The Atlantic, This Overlooked Variable Is the Key to the Pandemic – It’s not R.

The four stages of public CoVid information

Donnerstag, 8. Oktober 2020

Revolutionen

Antoine Lavoisier (Bild von Wikipedia)

»Sie brauchten nur einen Moment, um diesen Kopf abzuschlagen, aber hundert Jahre genügen vielleicht nicht, einen ähnlichen hervorzubringen.«, Joseph-Louis Lagrange nach der Hinrichtung (1794) von Antoine Lavoisier während der französischen Revolution. 
An diesen Spruch denke ich, wenn Aktivisten nach Revolutionen rufen. Was dabei gerne in der Hitze des Gefechtes und des gute Glaubens vergessen wird ins wenigstens drei Dinge:

  1. Zerstörung ist oft eine Frage von Sekunden. Das Gestalten, das Aufbauen aber dauert langsam und ist mühsam.
  2. In der Phase der Revolution, der Zerstörung, dem Chaos drängen sich meist Kräfte in den Vordergrund, die mit der ursprünglichen Idee nichts mehr im Sinne haben (wie wir auch heute wieder sehen, z.B. hier und hier) und 
  3. Entgegen der naiven Ansicht vieler, lässt sich eine komplexe Welt nicht auf dem Reissbrett neu entwerfen. 

Der letzte Punkt bedarf vielleicht noch einer weiteren Erklärung: Wir haben Systeme geschaffen, und sind von diesen abhängig, die eine Komplexität erreicht haben, die einzelne Menschen oder Gruppen von Menschen in keiner Weise mehr verstehen. Ein schöner Artikel aus den 1960er Jahren dazu ist I Pencil

Daraus folgt, dass auch die komplette Neugestaltung eines solchen Systems auf dem Reissbrett scheitern muss. Und dies selbst wenn alle Akteure von den besten Motiven getrieben sind, also wenn Punkt (2) nicht zum Tragen käme (was allerdings in der Realität eine Illusion ist). 

Wir erkennen dies seit Jahrzehnten in der Softwareentwicklung, und diese ist jeweils nur ein winziger Ausschnitt der Realität. Langfristige, plangetriebene Verfahren scheitern nahezu in jedem Fall. Selbst wenn man die besten und erfahrensten Experten hinzuzieht. Dies ist der Grund, warum sich in der Softwareentwicklung agile Methoden durchgesetzt haben.

Wenn wir also nicht einmal in der Lage sind über mehrere Jahre geplant ein vergleichsweise triviales Projekt wie die Ablösung eines Versicherungs-, oder Lagerhaltungssystem umzusetzen, wer kann Personen ernst nehmen, die ganze politische- oder Wirtschaftssysteme von Grund auf neu designen wollen?

Sonntag, 4. Oktober 2020

Game over für das Klima durch zweite Trump Amtszeit und andere Irrtümer

Der bekannte Klimaforscher Michael Mann schreibt in einem Guardian Artikel: »Eine zweite Trump-Amtszeit wäre ‚Game Over‘ für das Klima«.

Das ist in gewisser Weise richtig und gleichzeitig bemerkenswert falsch. Wir wissen, dass Klima-Effekte mittelfristig bis langfristig auftreten. Das heißt alles, was wir aktuell erleben sind Effekte von mehr als 100 Jahren menschlicher Industrie (und wie manche Argumentieren, Jahrtausenden von großflächiger Veränderung unserer Welt, etwa durch landwirtschaftliche Aktivitäten, und Rodungen usw.). Die Treibhausgase, die wir jetzt in die Atmosphäre blasen, wirken folglich ebenso weit in die Zukunft. Anders gesagt: die Amtszeit eines US-Präsidenten dauert vier Jahre. Die Idee, dass vier Jahre den Unterschied zwischen einem lebenswerten und katastrophalem Klimawandel machen ist unter den genannten Rahmenbedingungen bemerkenswert irreführend. 

Was wir uns nicht eingestehen wollen – und derartige Artikel tragen zu weiterer Vernebelung bei: Es gibt wohl keine realistische Chance mehr, die Klima-Katastrophe zu verhindern. So weit ist der Artikel also fundamental falsch. Und mit ihm auch die große Zahl der wohlmeinenden aber bevormundenden Aussagen und Artikel vieler Klimaschützer, die immer noch so tun, als könnten wir die Katastrophe vermeiden. Der Zug ist, nach allem was wir wissen, abgefahren, und hinter vorgehaltener Hand sagen das die Klimaforscher auch. Bevormundend ist es, mit der Bevölkerung nicht ehrlich zu kommunizieren. Und diese Bevormundung wird als unwahre Kommunikation durchaus wahrgenommen, mit allen negativen Folgen:

Es passt schlicht nicht zusammen auf der einen Seite zu behaupten, die massiven Brände in Australien und Kalifornien, sowie Tropenstürme, Überschwemmungen in Asien usw. wären Folgen des Klimawandels und andererseits zu behaupten, wenn wir nur entsprechende Maßnahmen setzen, können wir dies noch verhindern. 

Wild fire in California 2020 (Photo by Jeff Head, public domain)

Richtig ist vermutlich, dass wir noch gewisse Handlungsspielräume haben, um die Folgen dieser Katastrophe in Grenzen zu halten. Das bedeutet einerseits alle Maßnahmen, die zu einer radikalen Treibhausgasreduktion führen (ohne ideologische Verwirrungen, wie etwa der europäischen anti-Kernkraft Bewegung auf der einen und E-Auto Propaganda auf der anderen); aber ebenso wichtig: alle Maßnahmen, die die Resilienz der Gesellschaft stärken: Maßnahmen gegen Überschwemmungen, robustere Sozialsysteme, mehr Lokalität als Globalität in Politik und Wirtschaft, um nur weniges zu nennen. Und natürlich eine Erforschung aller möglicher technischer Maßnahmen (»Geoengineering«), die notwendig werden könnten um das schlimmste zu verhindern.

Gleichzeitig müssen wir uns aber auch über die mittelfristigen politischen Konsequenzen Gedanken machen: Die Grünen (als Bewegung und Partei) sind gewissermaßen am Ende eines Weges angelangt. Die Wohlfühl-Politik der letzten Jahrzehnte – wir können eh irgendwie so weiterleben wie bisher, ohne jeden Verzicht, müssen halt nur ein E-Auto kaufen und ein paar Windräder bauen – wird bald entlarvt sein: der König (und die Königin) haben keine Kleider.  Damit sitzen die Grünen zwischen den Sesseln: aggressivere und realistische Politik – die Wahrheit sagen – trauen sie sich nicht; moderate Bobo-Bürgerlichkeit hat eine sehr begrenzte Wählerschaft, und die prinzipiell wichtigen Ideen einer höheren Solidarität in der Gesellschaft schaffen sie nicht glaubwürdig zu vertreten. Dafür gibt es zu viele verwirrte und schrille Stimmen und am »woken« linken Rand der grünen Parteien und Bewegungen. 

Dazu kommt ein sehr fundamentales Problem: selbst wenn wir mit aggressiveren und realistischeren grünen Konzepten kurzfristig Wahlen gewinnen würden, würden die Grünen das mittelfristig nicht überleben. Damit sind wir wieder am Anfang des Artikels angelangt: aufgrund der Trägheit der Systeme (und der Tatsache, dass die Musik im wesentlichen in Asien, Afrika und zum Teil den USA spielt) wird jede durchwegs sinnvolle Maßnahme den Klimawandel einerseits nicht verhindern, sondern (im besten Fall) die Katastrophe begrenzen und andererseits weit in die Zukunft wirken. 

Heutige absolut sinnvolle Maßnahmen würden uns und unseren Kindern fast nichts bringen, dafür für späteren Generationen überlebenswichtig sein. Beides funktioniert in aktuellen Demokratien nachweislich nicht.

Die Gewinner dieser Situation werden gleichzeitig die Totengräber unserer modernen Gesellschaft sein, die Brand-Beschleuniger des Untergangs. Der Blick wird getrieben sein von kurzfristigen (massiven) Problemen wie großer Arbeitslosigkeit und steigender Armut, von der Klimakrise getriebene Flüchtlingsströme usw. Rechts-populistische und -radikale Parteien aber auch links-extreme werden in vielen Ländern den Ton angeben. Mit widersprüchlichen, inkompatiblen und weitgehend unsinnigen Ideen, aber Ideen, die die Anmutung haben, die dann aktuellen Probleme zu lösen. Langfristige Projekte sind in einer solchen Situation chancenlos. 

Diese Phänomene sehen wir bereits jetzt in aller Deutlichkeit in der Corona-Krise und der Herbst/Winter wird die Situation nochmals dramatisch verschärfen. Die Politik will das (noch) nicht eingestehen, aber es steht uns einiges bevor. Und alle Maßnahmen richten sich auf das Jetzt, das Morgen, sicher nicht auf das Übermorgen. Im Gegenteil.

Diese Spaltung der Gesellschaft wird zu Gewalt führen und zu einem Lokalismus der negativen Art auslösen, also nicht einem der versucht Resilienz durch lokale Entscheidungen aber mit Blick auf die ganze Welt zu finden, sondern einem der in maximalem Egoismus gegen alle anderen gerichtet sein wird. 

Wie kann dieser Teufelskreis durchbrochen werden?

Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)