Donnerstag, 6. Dezember 2018

Am Ende werden die Menschen wachgerüttelt...

Spricht man über die kaum mehr in menschlichen Dimensionen liegenden globalen Herausforderungen, etwa den Klimawandel, so hört man immer wieder eine Ansicht, vielleicht auch so etwas wie eine “letzte Hoffnung": wenn es erst schlimm genug ist, werden die Menschen aufwachen und an einem Strang ziehen.

So sehr ich diese Hoffnung teilen wollte, ich fürchte, sie unterliegt einem groben Irrtum. Denn Psychologie skaliert nicht. Wie Nassim Taleb in seinem letzten Buch sehr treffen ausdrückt: Eine Dorf ist keine große Familie, eine Stadt kein großes Dorf und die Welt keine große Stadt – die Idee des globalen Dorfes (indem wir seit der Digitalisierung angeblich leben) ist daher Unfug.

In einer kleinen Gruppe von Menschen, einer Familie, vielleicht einem kleinen Dorf mag der vorgeschlagene Mechanismus des Aufrüttelns und Zusammenhaltens möglicherweise funktionieren. Jeder kennt jeden, und vor allem: jeder sieht und beobachtet jeden – und dies über lange Zeiträume. Vertrauen lässt sich daher vergleichsweise leicht etablieren. Es ist nicht einfach (sanktionslos), die anderen zu hintergehen und sich etwa die letzten verfügbaren Ressourcen anzueignen. 

»it was the spring of hope, it was the winter of despair«
noch ist es nicht Winter...
In einer Nation, der Welt gar, funktioniert dies mit Sicherheit nicht. Diese Mechanismen skalieren nicht von der Familie oder der dörflichen Gemeinschaft. Sie müssen auf irgendeine Weise in globalen Strukturen etabliert werden. Dazu kommt, dass wir auch über militärische Mittel verfügen, wo einzelne Parteien die gesamte Welt existentiell bedrohen, etwa Atomwaffen oder Biowaffen. Diese müssten rechtzeitig unschädlich gemacht werden um sicher zu stellen, dass sie im Krisenfall nicht von außer Kontrolle geratenen Kleingruppen verwendet werden. Ein aktuell kaum vorstellbares Szenario, dass dies rechtzeitig gelingen könnte.

Schon ein kurzer Blick aus dem Fenster im Jahr 2018 ist ernüchternd: Der Druck ist zweifellos am steigen – ein klein wenig. In Wahrheit ist noch vollständig Eitel Wonne. Jedenfalls in Mitteleuropa. Und dennoch brennt Paris, weil dringend notwendige Benzin- und Dieselsteuern eingehoben werden sollen. Ohnedies viel zu wenig um nennenswert etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen, und nicht einmal das ist in einem der (noch) reichsten Nationen der Welt zu schaffen. Ein nicht greifbarer Mob ohne Führung legt Paris und eine gewählte Regierung lahm. Eine Regierung, die nicht in der Lage ist, in einer Situation des Wohlstandes notwendige kleine Schritte zu setzen, diese sozial gerecht zu verteilen und glaubwürdig zu kommunizieren. 

Dies ist ein beliebiges, nahezu banales Beispiel. Ähnliche Szenen erleben wir in ganz Europa und den USA auf verschiedenen Ebenen. Und, nochmals: der Druck ist noch nicht einmal wirklich spürbar. 

Wenn Wirtschaftssystem und wesentliche Ökosysteme tatsächlich (jedenfalls teilweise) kollabieren und Umweltkatastrophen in Regelmäßigkeit Landstriche verwüsten oder die Nahrungsversorgung ganzer Nationen bedrohen, werden wir dann aufwachen und plötzlich alle friedlich und rational gemeinsam an einem Strang ziehen? 

Vielleicht. Aber ich fürchte nur um den Nachbarn daran aufzuhängen und sein Haus zu plündern. 

Sonntag, 11. November 2018

Nerdfail – eine Polemik

Just do it!

Wir können es besser! Lassen wir doch die doofen alten verkorksten Ansätze beiseite und legen wir frisch los. So sind wir mit der Arroganz der Jugend (oder korrekter des gemeinen Nerds, der im wesentlichen aus dem IT-Umfeld kommt) an Politik und Gesellschaftsveränderung herangegangen. Und, wie sich heute zeigt, leider spektakulär, jenseits der negativsten Prognosen gescheitert.

Ein sehr schöner Artikel mit Beiträgen zahlreicher »Silicon Valley« Pioniere beschreibt den allgemeinen Kater, der viele im Augenblick zu Recht erfasst hat. Zu kurz kommt für mich die Hybris, die epische Selbstüberschätzung der „Elite“ der Nerds. Es wird im Artikel nahegelegt, viele Techniker wüssten welchen Schaden sie anrichten und täten es trotzdem. Diese Fälle wird es geben, v.a. auch bei den Entscheidungsträgern, vermute ich. Das für mich schlimmere Phänomen aber ist, dass der reine Fokus auf die Technik vielen reicht. Ich mache technisch etwas cooles und weil es cool ist und ich jung und modern, muss es auch gut für die Welt sein. 

Wir konnten und können dabei zwei Glaubenssätze beobachten, die gleichzeitig (auch ohne es zu nennen) politische Programme sind. Erstens: neue Technologie ist gleich Fortschritt und zweitens, wir brauchen keine Politik mehr, denn wir die Probleme der Zeit sind im wesentlichen technisch/organisatorische Probleme, die sich mit einem technisch/optimierenden Zugang leicht lösen lassen. Beziehungsweise eine Abwandlung der zweiten: Neue Technologie wird de facto eine neue und bessere Gesellschaft erstellen, die Politik im herkömmlichen Sinne nicht mehr braucht.

Die Folgen sehen wir mittlerweile an allen Ecken und Enden: da neue Technologie, v.a. Software unser Leben besser macht – also per definitionem Fortschritt ist–, brauchen wir  nicht viel nachdenken oder gar die Bevölkerung einbinden (die würden es ohnedies nicht verstehen), sondern können jede Neuigkeit gleich maximal breit ausrollen. Diejenigen, die sich Kritik erlauben, werden als Internetausdrucker oder ewig Gestrige, Fortschrittsverhinderer, Reaktionäre bezeichnet. Da sich alle Probleme der Welt, von Armut bis zum Klimawandel, mit neuen Techniken lösen lassen, lassen  wir uns von den alten Verhinderern mit ihrer langsamen Entscheidungsfindung nicht aufhalten. Handelsplattformen, Mikro-Kredit-Systeme, oder das Elektroauto sind schnell auf den Markt geworfen. Zwar wird heute kaum mehr etwas zu Ende gedacht oder -entwickelt, aber das ist egal, das Produkt reift beim Kunden. Mobilität müssen wir keinesfalls fundamentaler hinterfragen. Denn wenn erst jeder Bürger des Planeten ein Elektroauto fährt, wird die Luft rein, die Städte lebenswert und der Klimawandel Geschichte sein. So auch die Mission von Tesla:

»to accelerate the advent of sustainable transport by bringing compelling mass market electric cars to market as soon as possible«, Tesla Mission 

Alles wird gut. Vergessen haben wir dabei, dass Langsamkeit in der Entscheidungsfindung durchaus ein wohl-durchdachtes Feature kein Bug moderner Gesellschaften ist. Diese haben wird zerbrochen, und es stellt sich aber heraus: die Nerdkultur ist mindestens so fehlerbehaftet wie die der alten Scheißer. Es geht nur wesentliche schneller und oftmals in die völlig falsche Richtung. BitCoin, Facebook, das Internet der Konzerne, Werber und Überwacher.

Round Mountain Goldmine [Wikimedia Commons, PDTillman]

BitCoins sind ein schönes Beispiel: was für eine Innovation! Lasst uns frohen Mutes Zahlungssysteme entwickeln, die illegale Geldflüsse, dubiose Transaktionen und Spekulationen aller Art noch einfacher machen. Und das Beste: das Erzeugen von BitCoins belastet die Natur auch nur rund dreimal so stark wie der Abbau von Gold. Wenn das kein Innovation, kein Sieg über den alten Finanzkapitalismus ist!

Move fast and break things. Der Slogan von Mark Zuckerberg wird wörtlich genommen. Auch Uber, Facebook oder AirBnB scheren sich wenig um gesetzliche Rahmenbedingungen. Don’t be evil, der Google Slogan ist auch bei der ersten Feindberührung von der Wand gefallen. Jedes kleine Startup in Deutschland oder Österreich wäre auf der Stelle von den Behörden dem Erdboden gleichgemacht worden, hätte es sich so verhalten wie Uber oder AirBnB. Vor den US-Monopolisten aber gehen wir in die Knie. Hier zeigt sich, wo man hinkommt, wenn man staatliche Strukturen für wertlos hält. 

Auch wenn der Eindruck hauptsächlich von (US) Eliten geweckt wird: die zahlreichen anderen Probleme der Zeit, die unsere Gesellschaft im Kern bedrohen, wie der Klimawandel, außer Kontrolle geratene Finanz- und Wirtschaftspraktiken, politische Radikalisierung, Kollaps von Ökosystemen usw. werden durch mehr und bessere Technologie – alleine – mit Sicherheit nicht gelöst. Setzen wir die Umsetzung mit vergleichbarer Naivität wie in der Vergangenheit fort, so ist eher zu erwarten (denken wir an die politische Radikalisierung), dass die Technologie noch dramatischzur Verschärfung der Lage beitragen wird.

Damit kommen wir zum zweiten Punkt: der vermeintlichen a-politik der Nerds. Nerdkultur ist jedenfalls ideologisch bemerkenswert: an der Fassade ist sie liberal, mit der (durchaus ehrlichen gemeinten) Intention, vielen Menschen zu helfen und neue Möglichkeiten zu geben. Insofern könnte man sie sogar als klassisch links bezeichnen. Im Effekt ist sie aber brutal neoliberal. Im hässlichsten Sinne des Wortes. Sie zerstört in einer kaum zu begreifenden Geschwindigkeit etablierte Systeme. Das Ablösen alter Systeme wäre für sich genommen noch nicht unbedingt ein Fehler. Das Problem ist die Geschwindigkeit. Es bleibt weder Zeit nachzudenken, zu überlegen, was für die meisten Menschen eine positive Änderung wäre. Es wird vielmehr von einer (zumeist Finanz-) Elite definiert, wie die “gute” Gesellschaft auszusehen hat. Das ist sehr dünn durchdacht, aber umso schneller umgesetzt und dient dann, wer hätte das gedacht, vor allem wieder den ursprünglichen Investoren. 

Die Vordenker träumen die, wie Fred Turner das ausgedrückt hat: »Cyber Phantasy that technology can substitute for politics«. Den Investoren geht das am A… vorbei, solange sich die Investition rechnet und sie über diesen Weg an reale politische Macht gelangen, und die Nerds streiten sich darum, wer auf den Techno-Spielplätzen von Google, Amazon und Co arbeiten darf. Denn sie arbeite ja – vermeintlich – an einer besseren Zukunft. Don’t be evil. Hatten wir schon...

Die politische Dimension hat aber auch anderes Erstaunliches zu bieten. Erinnern wir uns an die Implosion der Piratenpartei. Eine Partie der Jungen, der Nerds, der Intellektuellen, die alles besser wussten, natürlich digital natives sind und alles digital besser machen wollten. Ist es nicht bemerkenswert, dass die Piraten nicht am Feind, am politischen Gegner gescheitert sind? Dazu ist es nicht ernsthaft gekommen. Sie haben sich schon zuvor durch spektakuläre Inkompetenz und innere Konflikte zerrieben. Das ist verheerend, denn wir bräuchten starke und auch junge politische Parteien.

Wir wollten die Systeme demokratischer werden lassen, mehr Mitsprache erlauben. Statt dessen werden sie radikal und oligarchisch. Sie unterstützen und ermöglichen Kriminalität in erheblichem Ausmaß, Menschen werden nicht empowered sondern zu Figuren von Monopolen. The winner takes it all, das geltende Prinzip im E-Commerce, führt zu einer Festigung bestehende Machtstrukturen oder sie durch andere Monopole ersetzt. Die Schwachen werden eher noch schwächer und die Schwächsten bleiben auf der Strecke. Die Menschen sind im Dauerfeuer der Informationskanäle und kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Statt Erholung erhöhen wir die Informationsdichte – IT auf Drogen.

Die realen Wirkungen ihres Tun wollen viele Protagonisten immer noch nicht wahrhaben. Sie sind, um Mephistopheles das Wort zu verdrehen: Ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft.

Was aber das wichtigste ist: die Idee, Technik könnte Politik ersetzen ist ein fataler Irrtum und führt zu einem von zwei wenig wünschenswerten Ergebnissen: entweder kapert die reaktionäre (etablierte) Politik diese Systeme mit überraschendem Geschick (Trump, AFD, chinesische Regierung etc.) oder es entstehen tatsächlich Parallelstrukturen, die zwar auf den ersten Blick nicht politische sind (Silicon Valley Kapitalismus, Elite-Schulen und -Universitäten), die aber, sozusagen über Bande, dann zu den politischen Treibern des 21. Jahrhunderts werden. Und dies mit globalem Einfluss ohne gesellschaftliche Legitimität vor Ort.

Ist IT als böse? Müssen wir zurück ins 19. Jahrhundert? Kaum. Aber die Zeit des wilden Westens und der kindlichen Naivität sollte vorbei sein. Schreiben wir die aktuellen »Innovationen« als Lehrgeld ab. Es trifft keine Armen. Denn wir haben eine Wahl. Und wir sind die Bürger, weder die Nerds noch die Investoren. die Die Zukunft ist nicht vorbestimmt und – entgegen anderslautender Behauptungen – nicht alternativlos. 

Dienstag, 16. Oktober 2018

Demokratie und Wahrheit

Verfechter der direkten Demokratie scheinen gefesselt von der Idee richtiger und falscher politischer Entscheidungen und der Notwendigkeit schneller Reaktionen. Konkreter treibt sie die Frage, wie man verhindern kann, dass gewählte Volksvertreter falsche (etwa durch Lobbies motivierte) Entscheidungen herbeiführen. Man erkennt zwar, dass eine rein direkte Demokratie nicht das Wahre sein kann, dass direkte Demokratie aber als Notbremse unbedingt notwendig wäre.

Denn, so etwa die Argumentation von Christian Felberin dem lesenswerten Buch Gemeinwohlökonomie: direkte Demokratie hat in Österreich die (falsche Entscheidung) Zwentendorf verhindert, allerdings konnte der Abfluss von Kapital in Steueroasen und das Retten systemrelevanter Banken (leider) nicht durch direkte Demokratie verhindert werden.

„Dort, wo Regierung und Volk unterschiedlicher Meinung waren, in der Frage der Kernkraft, war der Souverän klüger...“ Wären doch alle Sachfragen so einfach zu entscheiden. Die Ablehnung der Kernenergie in Europa und der de facto Stopp der Forschung, der ein wesentliches Nebenprodukt dieser Entscheidungen war, hat allerdings auch dazu beigetragen, dass wir verstärkt auf Kohle- und Gaskraftwerke gesetzt haben Aber solche Seiteneffekte bemerkt man in der Hitze direkter Demokratie oft nicht, oder erst Jahrzehnte später.

Was sind richtige Entscheidungen? So gibt es zahlreiche Klimaforscher,  etwa einen der führenden US-Klimaforscher Jim Hansen, die durchaus die Meinung vertreten, dass dies keine so kluge Idee gewesen ist. So schreibt Hansen in seinem hervorragenden Buch Storms of My Grandchildren über die Begegnung mit dem damaligen Minister Gabriel:
"Then, in the final minutes of our meeting, the underlying story emerged with clarity: Coal use was essential, Minister Gabriel said, because Germany was going to phase out nuclear power. Period. It was a political decision, and it was not negotiable.“ […]  "The bottom line seems to be that it is not feasible in the foreseeable future to phase out coal unless nuclear power is included in the energy mix."
Die Entscheidung von Gabriel war durchaus eine der direkten Demokratie vergleichbare. Sie war ein Schnellschuß unter dem Druck der politischen Öffentlichkeit nach Fukushima.

Hat also die direkte Demokratie immer recht? Bei der Kernkraft ist Felber anderer Meinung als Jim Hansen, aber immerhin merkt er an, dass der Souverän bei der Minarett-Entscheidung in der Schweiz wohl daneben gegriffen hat (und es wird erklärt warum dem so wäre). Interessanter als das Beispiel ist allerdings, dass die Ironie gar nicht auffällt. Liest man diesen Teil des Buches gründlich und nimmt ihn ernst, so liegt die eigentliche Frage doch auf der Hand: Warum so kompliziert? Herr Felber weiß ja augenscheinlich ohnedies, welche Entscheidungen richtig oder falsch sind. Warum also nicht ihn (oder einen anderen, vielleicht sogar noch besser wissenden Experten) in die Regierung setzen. Jede Entscheidung läuft am Experten vorbei und wird im Zweifelsfall schnell korrigiert. So einfach könnte es doch sein? Lasst Trump doch mal machen, der weiß schon, wie man einen guten Deal einfädelt. Dann wären wir allerdings bestenfalls in der Diktatur, oder Expertokratie oder Meritokratie angelangt, im schlechtesten Fall bei der Idiokratie (oder so ähnlich), denn irgendjemand muss ja den Experten bestimmen. Das alles will man (aus guten Gründen) auch nicht.

Auch wenn die Argumentationslinie lautet, die Regierung beschließt etwas gegen den Willen der Öffentlichkeit, läuft das auf einen ähnlich problematischen Schluss hinaus. Denn der Wille der Bevölkerung ist oftmals fluide und fallweise auch schlecht informiert. Dies trifft gerade auf Themen mit sehr langfristiger Perspektive zu. So manche Entscheidung, die für das Überleben in der Zukunft von großer Bedeutung ist, müsste gerade gegen den Willen großer und lautstarker Teile der Bevölkerung getroffen werden. Weil wir uns nicht trauen ruhig und langfristig zu denken, werden wir wohl in eine Klimakatastrophe laufen, stecken in einer Stadtplanung fest, die von wenigen Autos und noch weniger Lebensqualität geleitet ist und in einer Finanz- und Wirtschaftspolitik, die die einfache logische Tatsache nicht begreifen kann, dass auf einem endlichen Planeten nicht unendlich gewachsen werden kann. Ja, wir schaffen diese Systemänderungen nicht, weil Entscheidungen notwendig wären, die (kurzfristig) unbequem oder jedenfalls ungewohnte Konsequenzen haben können. Unbequem für viele Gruppen in der Bevölkerung. Direkte Demokratie zieht solche lautstarken und aufwallenden Bewegungen geradezu an.

So scheint die tiefer liegende Frage eine wesentliche andere: der Blick auf richtig oder falsch ist bei (politischen) Entscheidungen oft eine Ablenkung. Immerhin geht es nicht um mathematisch/logische Entscheidungen, sondern um solche, die in einer immer komplexer und weniger vorhersagbaren Welt langfristige Folgen haben können. Und komplexe Systeme haben die Eigenschaft schwer steuerbar und noch schwerer vorhersagbar zu sein.

Vielleicht sollten wir das Prinzip Entscheidung überhaupt mit mehr Bescheidenheit und Ruhe angehen: wir könnten endlich wieder einmal darüber diskutieren, wie wir eigentlich in der Zukunft leben wollen, wie wir diese Dinge miteinander diskutieren und nicht, welche konkrete Entscheidung im Augenblick ideologisch opportun oder nicht opportun ist. Entscheidungen wären auch weniger schwerwiegend, wenn sie mit Abbruchkriterien, mit Prüfpunkten versehen, wenn sie evolutionärer  Ruhe und nicht von hektischer Unruhe getrieben wären. Dazu passt ein Gedanke, der von Richard David Precht stammt: über Generationen war es ein gewollter gesellschaftlicher Prozess (bestimmte) wesentliche  Entscheidungen zu verlangsamen. Im Wissen, dass schnelle, emotionale Entscheidungen häufig in die Irre führen. Vieles in modernen Demokratien dient explizit dieser Entschleunigung, und dies ist eine gute Sache.

In der Welt von hypernervösen Twitter und Facebook-Streams sind wir wieder dem Irrtum verfallen, schnelleund spontane Entscheidungen mit Modernität, mit gutem Leadership zu verwechseln. Je komplexer die Welt allerdings wird, desto weniger dürfte dies zutreffen. Es wird auch übersehen, dass Geschwindigkeit und Direktheit oftmals mehr spalten als vereinen.

Vergessen wir nicht: keiner der wesentlichen Trends oder Probleme der heutigen Zeit, ist in irgendeiner Weise neu: der Klimawandel ist seit den 1980er Jahren bekannt (im Grunde noch viel länger), dass unser Finanz- und Wirtschaftssystem in die Irre läuft ist seit den 1970er, spätestens seit den 1990er Jahren offensichtlich, dass (Medien)Monopole uns versuchen in politischer Weise zu manipulieren ist ebenfalls seit den 1960er oder 1970er Jahren diskutiert. Dass also eine IT-Infrastruktur in der Hand von vier Monopolisten keine besonders gute Idee sein kann – keine Neuigkeit, und die Entwicklung bahnt sich ebenfalls schon seit mehr als einem Jahrzehnt an. Künstliche Intelligenz wird seit den 1960er Jahren diskutiert und Biotechnologie seit mindestens 20 Jahren.

Eigentliche ist keine Not für hektische Entscheidungen zu erkennen. Ernsthafte und fundamentalen Diskussionen und vor allem mehr Mut wieder politische Verantwortung zu übernehmen wären aber eine gute Idee. Es gibt keine Notwendigkeit, sich von jeder vermeintlichen (technischen) Innovation durchs Dorf treiben und verwirren zu lassen. Statt in hektischer Betriebsamkeit direkt zu demokratisieren, könnte man vielmehr auf langsame Entscheidungsprozesse mit breiter gesellschaftlicher Basis bauen, die dann aber tatsächlich zu einer evolutionären Umsetzung gelangen. Fallweise ist dies gelungen, denken wir an die international vergleichsweise konsequente und überlegten Reaktionen auf die Entdeckung des Ozonloches in den 1980er Jahren. Vielleicht nehmen wir uns daran ein Beispiel und versuchen zuerst eine Gemeinsamkeit, eine Gesprächsbasis und dann eine Entscheidung zu finden.

Freitag, 15. Juni 2018

Das Ende der Theorie! Daten, Daten, Daten...

“Big Data”, "Künstliche Intelligenz", "Machine/Deep Learning" sind Schlagworte, die das Labors der Informatiker verlassen und im Begriffschatz vieler Menschen angekommen sind. Der “Daten-Wissenschafter” Seth Stephens-Davidowitz nennt vier wesentliche Charakteristika: (1) wir haben völlig neue “Arten” von Daten zur Verfügung als in früherer Zeit (in erster Linie durch die Digitalisierung aller Lebensbereiche) und, man muss ergänzen, neue Methoden der Analyse (2) Viele dieser Daten sind "ehrlicher" als Informationen, die wir aus Umfragen erfassen. Sie stammen aus den tatsächlichen Handlungen der Menschen, nicht was sie behaupten zu tun oder sich glauben erinnern zu können, was sie getan haben. (3) Die Daten sind häufig viel fein-granularer. Wir können viel kleinere Gruppen oder gar Individuen betrachten, nicht nur grobe statistische Mittelwerte. Nicht zuletzt (4) einer der mächtigsten Aspekte: die neue Technik erlaubt es in vielen Bereichen ständig Experimente mit uns allen zu machen. 

Ein paar Beispiele: Wer antwortet auf die Frage, ob er bei Tests an der Uni geschummelt hat ehrlich? Oder: Wie oft wir Sex haben? Ob wir homosexuell sind oder eine andere (vielleicht als "extrem" wahrgenommene) sexuelle Neigung haben? Sind wir gar Rassisten oder haben extreme politische Positionen? Was haben wir im letzten Monat gegessen und wie viel Alkohol haben wir getrunken?

Antworten auf solche (Um)fragen sind in der Regel nicht sehr viel wert. Einerseits wollen wir sozial angepasst wirken und uns in einem guten Licht darstellen. Wir lügen uns sogar selbst an, um vor uns selber besser dazustehen. Aber selbst wenn wir die Wahrheit sagen wollten, kann sich niemand zuverlässig daran erinnern, was er in der letzten Woche tatsächlich gegessen oder getrunken hat. Die Folge ist, dass die Zahlen, wie viel heterosexuelle Sex Männer und Frauen haben nicht zusammenpassen, dass mehr als 50% der Menschen sich für überdurchschnittliche Autofahrer, Lehrer, Programmierer usw. halten und dass die Aussagen des Alkoholkonsums nicht mit dem Verkauf zusammenpasst. Was wir wir sagen, denken, glauben hat oft nicht viel mit dem zu tun wie wir tatsächlich handeln.

Auf politischer und wirtschaftlicher Ebene sind Fragestellungen ähnlich: wirkt eine Werbekampagne? Hat eine politische oder steuerliche Maßnahme tatsächlich die gewünschten Effekte? Nutzen die Menschen unser Produkt tatsächlich? Welche Funktionen? Droht eine Epidemie? Gibt es den Klimawandel? Ist das neue Web-Design leichter zu verwenden als das alte? All dies sind Fragen, die man mit Umfragen und anderen Methoden nur sehr schwer beurteilen kann. Auch Experteneinschätzungen sind häufig sehr fehlerhaft. 

“Big Data” erlaubt uns solche Fragen mit wesentlich größerer Zuverlässigkeit zu beantworten. “Big Data” war notwendig um die enormen Datenmengen für Klimamodelle zu handhaben und “Big Data” kann verwendet werden um zu analysieren ob eine Epidemie droht oder ob und wo es soziale Probleme gibt. Steigen etwa psychische Probleme und fürchtet man entsprechend einen Anstieg von Selbstmorden? Man könnte gezielt mit Maßnahmen dagegen steuern. Auch für uns individuell kann “Big Data” Vorteile bringen. Denken wir etwa an die Vergleichsplattformen für Produkte, Dienstleistungen oder Reisen.

"Big Data” bietet enorme Chancen unser Verhalten oder die Situation unserer Umwelt wesentlich besser einschätzen zu können. Eine bessere Politik wäre möglich, wo Maßnahmen konkreter geprüft werden können. Aus wissenschaftlicher Sicht geht Seth Stephens-Davidowitz so weit zu behaupten, dass die Soziologie nun endlich zur “harten” Wissenschaft wird. Aber nicht nur die Soziologie wird sich verändern. Wir werden neben "intelligenten" Geräten und wesentlich besseren Modellen vermutlich ein mehr an Individualisierung sehen, etwa Medizin, die sich nicht nach dem "Durchschnitt" sondern an unserer persönlichen Biologie orientiert. 

Aber es gibt auch eine andere Seite: Internet-Dienste schalten ständig neue Versionen ihrer Webseiten für kleine Nutzergruppen frei und testen ob etwa Werbung häufiger geklickt wird, oder ob die Seite besser nutzbar ist. Casinos versuchen ihren Gewinn zu optimieren, soziale Netzwerke unsere psychologische Schwäche so weit wie möglich auszureizen um uns online zu halten und möglichst viel Werbung zu klicken. (Extreme) politische Gruppierunge nutzen dieselben Mechanismen. Die Schwächsten unter uns werden dabei überproportional ausgenutzt. 



Es ist auch interessant zu beobachten, mit welcher nonchalance Datenwissenschafter Daten von Google, Facebook usw. nutzen um uns soziologisch zu untersuchen. Privatsphäre ist eine Idee der Vergangenheit geworden. Wenn wir etwas in das Suchfeld eintippen, dann weil wir etwas suchen, nicht weil wir an einem Experiment teilnehmen wollen. Kein Google- oder Facebook-Nutzer hat zugestimmt, Teil eines soziologischen Experiments zu werden, oder zur ökonomischen Optimierung eines Konzerns zu dienen. 

Nicht zuletzt dürfen wir auch einen wisseschaftstheoretischen Aspekt (erinnern wir uns an den ersten Teil zurück) nicht vergessen. “Das Ende der Theorie” ist ausgerufen. Big Data macht Prognosen, die Algorithmen benötigen keine Theorie mehr. Aber stimmen die Prognosen auch? Ohne Theorie ist dies noch schwerer zu beurteilen. Wie kommt der Algorithmus zu einer Entscheidung? Wir wissen es oft nicht. Wir wissen aber, dass diese Prognosen häufiger als wir das gerne hätten falsch sind. Wenn sie demnächst keinen Mobiltelefonvertrag oder Kredit mehr bekommen und nicht einmal der Bankangestellte ihnen erklären kann warum, dann hat "Big Data" zugeschlagen. Wenn vielleicht die Polizei oder die Steuer sie kontrolliert, und der zuständige Beamte nicht weiß warum, dann vielleicht weil "Big Data” sie für verdächtig hält und den entsprechenden Auftrag gegeben hat. Vielleicht zu recht, vielleicht aber auch nicht.

Seth Stephens-Davidowitz, everybody lies. What the Internet Can Tell Us About Who We Really Are, Bloomsbury UK (2018)

Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)