Montag, 10. Januar 2011

Hörgewohnheiten

Kürzlich ist mir bewußt geworden, dass sich mein Hörverhalten in Bezug auf Radiosendungen in den letzten Jahren deutlich verändert hat. Ich höre heute hauptsächlich Podcasts, teilweise in deutscher, teilweise englischer Sprache. Ebenfalls gemischt ist die Machart: einige Podcasts sind klassische Radiosendungen, z.B. BBC In our time oder NPR Science Friday oder SWR2 Wissen. Viele andere sind von sogenannten Amateuren, etwa Tim Pritlove's Not Safe for Work, Chaosradio Express oder Rationally Speaking.

Grundsätzlich ist für zu beobachten, dass die Professionalität im Amateur-Podcasting in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht hat, sowohl was die Qualität der Inhalte aber auch die technischen Standards betrifft. Teilweise ist es so, dass die besten Amateure technisch bessere Podcasts abliefern als manche Radiosender. Tim Pritlove etwa. 

Der eigentliche Punkt aber, der mich selbst überrascht hat, ist die Änderung der Hörgewohnheit. Mir fällt heute auf, dass ich mir kaum mehr die typische Radio-Reportage oder Fernsehsendung a la Galileo ansehen kann weil mich die sture Formalität der Sendungen einfach nur mehr nervt. Ich habe den Eindruck als würden die meisten "professionell" produzierten Formate mit der Schablone erstellt (brav wie im Journalismuskurs der Volkshochschule gelernt), die (vielleicht etwas zynisch überhöht) wie folgt aussieht:

Zunächst das Intro, dann wird gleich mal der "Mann oder die Frau von der Strasse" eingeführt. Hier lernen wir die Studentin Frau Müller oder den Pensionisten Herrn Huber kennen und begleiten sie beim Einkauf oder in zwanglos gestellter Atmosphäre zuhause wie sie ihr iPhone bedienen (und scheitern), kochen (und sich dabei über E-Nummern verunsichert zeigen), oder was immer gerade Thema der Sendung ist. Ein wenig Entrüstung oder ausgedrückte Verunsicherung ob der Zustände kann auch nicht schaden. Der Dramatik-Regler wir je nach Qualität des Formates ein wenig mehr oder weniger aufgedreht.

Dann Auftritt Kurzstatement(s) eines oder mehrerer "Experten", üblicherweise immer dieselben. Dann die Diskussion in der Runde, wenn möglich mit passendem "Promi", der zwar nichts nennenswertes beizutragen hat, aber doch immer gerne gesehen wird (zwar nicht von mir, aber immerhin). Zwischen möglichst kurz gefassten Wortspenden (oder später zur Unkenntlichkeit gekürzten Interviews) werden Video- oder Audiobeiträge eingeflochten – nicht länger als 2:30 allerdings – und bei Bedarf wieder zu unseren "Betroffenen" Studentinnen oder Pensionisten geschwenkt. Klatschendes und/oder entrüstetes Publikum ist auch nie ein Fehler. Alternativ werden historische Personen nachgestellt, denn es reicht nicht zu erzählen was Charles Darwin gesagt oder geschrieben hat; nein: ein (zweitklassiger) Sprecher muss Charles Darwin zum Leben erwecken und ihm Worte in den Mund legen (die er so meist auch nie gesagt hätte). In Geschichts-Sendungen, vor allem filmischen Reportagen, müssen Horden von Wilden (Laiendarstellern) aufeinander einschlagen um die "Dramatik" der Kampfeshandlungen zu veranschaulichen.

Dazu kommt der oft gekünstelt neutrale Duktus der Journalisten oder Moderatoren (bei den besseren Formaten) oder der ebenso gekünstelt aufgeregte (bei billigen Formaten). Jedes Leben, jede Authentizität wird der Pseudo-Neutralität, Pseudo-Seriosität oder Pseudo-Aufgeregtheit geopfert. Dazu kommen zumeist enge Zeitlimits: jedes einzelne Segment darf 2:30 nicht überschreiten, die gesamte Sendung hat ein fixes Limit. Radiomacher sind offenbar der Ansicht, ein intelligentes oder auch unterhaltsames Gespräch zwischen gescheiten und/oder originellen Personen reicht alleine nicht mehr aus. Folglich wird jede Sendung "über-produziert" und "über-gestaltet".

Lasst doch die (gescheiten) Menschen einfach mal reden! (Und ladet die dümmeren nach Möglichkeit gleich gar nicht ein.) 

Wie entspannend ist es da etwa Tim Pritlove 4:30 (4 Stunden, nicht Minuten) über ein Geek-Thema zuzuhören, oder auch mal nach 10 Minuten abzuschalten und auf die nächste Ausgabe zu warten. Wichtig jedenfalls, und das zeichnet für mich die besten Amateur-Podcasts aus, ist authentisches Auftreten, intelligente oder in irgendeiner Weise interessante Teilnehmer und genug Zeit um Themen vernünftig und ohne überflüssige Schnörksel – wie die genannten aufgeregten Passanten – entwickeln zu lassen.

Zur Ehrenrettung des professionellen Radios muss ich allerdings ergänzen, dass es aus meiner Sicht ein deutliches Gefälle zwischen guten US (NPR) oder UK (BBC) Sendungen und deutschsprachigen Sendungen gibt. Formate wie "In Our Time" oder "Science Friday" gibt es meiner Ansicht nach in dieser Qualität und auf das wesentliche, nämlich das intelligente Gespräch reduziert, im deutschsprachigen Radio fast nicht. 

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Vielen Dank für die vielen Tipps zu hörenswerten Podcasts. Werde ich mal ausprobieren. Ich höre auch seit einigen Jahren eher Podcasts als Radio, und zwar vor allem einen, den ich bei Deiner Aufzählung vermisse: http://www.radiolab.org/
Durchweg originelle, immer interessante und oftmals ergreifende Wissenschaftsfeatures :)

Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)