In der öffentlichen Wahrnehmung von Wissenschaft gibt es aus meiner Sicht ein interessantes Paradoxon, nämlich eine systematische Über- und gleichzeitig Unterschätzung der Möglichkeiten die Wissenschaft in relativ kurzer Zeit bietet, bzw. des Effektes von wissenschaftlicher Erkenntnis auf die Gesellschaft. Wissenschaft und Technologie werden zwar gerne ignoriert wenn es darum ginge rationale und vernünftige (politische) Entscheidungen zu treffen. Andererseits beruft man sich gerne auf die "enorme Innovationskraft" der Wissenschaft und die Möglichkeiten die sie uns in der Zukunft schaffen wird. Damit wird im Prinzip häufig Untätigkeit gerechtfertigt. Warum heute handeln, wenn es doch morgen aufgrund neuer Technologien viel billiger und einfacher sein wird? Vermutlich wird diese übertrieben optimistische Darstellung, v.a. was die Zeithorizonte betrifft auch von vielen Wissenschaftern gefördert.
Ein gutes Beispiel ist die Kernenergie: Fusionskraftwerke werden von vielen Physikern seit den 50er Jahren immer mit dem Zeithorizont "in 30 Jahren verfügbar" angekündigt. "Konventionelle" Atomkraft (basierend auf Kernspaltung) ist etwa seit den 1950er Jahren technologisch unter Kontrolle. 1954 geht das erste russische Atomkraftwerk, 1956 das Kraftwerk Sellafield in Großbritannien ans Netz. Der Optimismus, oder aus heutiger Sicht wohl eher die Phantasie der 1950er und 1960er Jahre ist ebenfalls legendär: Kernkraft würde bald alle anderen Energieformen ablösen und so billig werden, dass man den Verbrauch vielleicht gar nicht mehr messen müsste ("too cheap to meter", Lewis Strauss; dieser Ausspruch ist allerdings meines Wissens nach umstritten und möglicherweise aus dem Kontext gerissen. Es entsprach dennoch der Meinung vieler Menschen der Zeit). Auch Autos würden vielleicht in Zukunft mit kleinen Kernkraftwerken betrieben werden und das Eigenheim sowieso.
2015 soll es tatsächlich Prototypen solcher "Kleinreaktoren" wie bsp. den SSTAR (siehe z.B. Artikel im New Scientist) geben. Dabei handelt es sich um ein versiegeltes System das für etwa 30 Jahre 100MW Leistung bereitstellen soll und dabei nur etwa Dimensionen von 3x15m aufweist. Der Reaktor wird weder gewartet noch wird der Brennstoff nachgefüllt. An dieser Stelle soll nicht über Kernkraft diskutiert werden; spannend sind einfach die oftmals völlig überzogenen Erwartungen, was Wissenschaft und Technologie in kürzester Zeit leisten könnten.
Auch in der individuellen Betrachtung sowie künstlerischen Darstellung gibt es diese verzerrte Wahrnehmung, man erinnere sich beispielsweise an die ikonischen fliegenden Autos die nach Vorstellung von Autoren und Filmemachern die Fortbewegung im 21. Jahrhundert dominieren würden, beispielsweise in Filmen wie "Blade Runner" (Film von 1982, Darstellung von 2019) oder in "Zurück in die Zukunft" (Film von 1989, Darstellung von 2015).
Auf der anderen Seite gibt es aber wesentliche technologische Entwicklungen die sich nahezu vollständig "unter dem Radar" der Bevölkerung entwickeln. Zwei Beispiele:
(1) Das Internet Für die allgemeine Öffentlichkeit ist das Internet erst seit den späten 90er Jahren zu einem wesentliche Faktor geworden. Tatsächlich gehen die grundlegenden Technologien auf die 70er Jahre zurück und wurden seit damals kontinuierlich weiterentwickelt bis es dann erst zum "öffentlichen" Durchbruch in den späten 90er Jahren gekommen ist. Das Internet ist ein typischer Vertreter einer modernen Technologie deren tatsächliches Potential selbst den Entwicklern kaum klar war.
(2) Ein zeitgemäßes Beispiel ist die synthetische Biologie. Kritiker meinen, dabei handelt es sich nur um einen "Rebrand" von konventioneller Gentechnik, dennoch, was hier passiert geht nach meinem Verständnis einige wesentliche Schritte weiter: synthetische Biologie wendet Konzepte die man etwa aus "komponentenorientierter Softwareentwicklung" kennt auf biologische Systeme an (Craig Venter nennt diese Gen-Datenbanken "components of the future"): Es werden Bibliotheken genetischer Bausteine erstellt die auch schon in dieser Form gehandelt werden und dann zu passenden "Produkten" zusammengesetzt, bzw. bestehende biologische Systeme entsprechend adaptiert werden. Craig Venter und andere sind bereits in der Lage Zellen mit synthetisierten Chromosomen neu zu programmieren. Hier scheint eine Technologie zu entstehen, deren mögliche Konsequenzen und Anwendungsbereiche ein ähnliches Potential haben wie Sprengstoff, Auto oder Internet. Und dennoch ist dies den wenigsten Menschen heute bewußt.
Allerdings wird auch für die synthetische Biologie wohl ähnliches gelten wie für die anderen angesprochenen Technologien: von ersten sensationellen prototypischen Ergebnisse hin zu Produkten die die Gesellschaft verändern wird noch eine lange Zeit vergehen.
James Lovelock warnt daher auch (im Kontext des Klimawandels) vor überzogenen Erwartungen an neue Technologien; seiner Ansicht nach benötigt jede komplexe Technologie etwa 30 Jahre von den ersten Prototypen bis sie zu einem nennenswerten gesellschaftlichen Faktor werden (siehe z.B. Lovelock im Interview in TechNation). Dies galt für das Auto, das Mobiltelefon (die ersten Autotelefone wurden in den 70er Jahren verwendet, der große Durchbruch der Mobiltelefonie fand nach 2000 statt) und sogar für das Internet. Im besonderen trifft dies für Innovationen zu die erheblicher Infrastrukturmassnahmen bedürfen. Man denke an die Energieversorgung der Zukunft. Kraftwerke werden für Jahrzehnte gebaut und haben entsprechende Vorlaufzeiten; dasselbe gilt große Neuerungen an Stromnetzen.
Warum ist all das für die Gesellschaft wichtig? "Schnellschüsse" und unerwartete Technologien z.B. im Bereich des Klimawandels oder der Energieversorgung sind nicht zu erwarten. Die Technologien die wir 2020 oder 2030 einsetzen wollen sind jetzt schon grundsätzlich bekannt. Natürlich sind Überraschungen immer möglich (vielleicht "baut" uns die synthetische Biologie ja Bakterien die Kohlendioxid konsumieren und daraus Bio-Treibstoff erzeugen), damit zu rechnen gleicht allerdings (angesichts der meisten historischen Beispiele) einem russischen Roulett. Wenn wir keinen totalen Zusammenbruch unserer Systeme angesichts massiv steigender Ölpreise und durch die Konsequenzen des Klimawandels riskieren wollen, so sollten wir besser jetzt handeln und dürfen uns nicht auf "Wundertechnologien" der Zukunft hoffend, zurücklehnen. Der Umbau einer etablierten Infrastruktur dauert Jahrzehnte. Es ist keine Zeit zu verlieren!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen