Montag, 23. Juni 2025

Walzer und Cholera

Walzer in Zeiten der Cholera — ein toller Buchtitel, eine spannende Zeit. Dieses Buch wurde mir kürzlich empfohlen. Nach einigen Kapiteln bleibt für mich ein bitterer Nachgeschmack:

»Danach betrachtete James Johnson nachdenklich die Landkarte, die hinter ihm an der Wand hing. Er fand Kalkutta, suchte Jessore und strich mit dem Finger von einer Stadt zur anderen. Ihn beunruhigte weniger das Tempo, mit dem die Krankheit die Distanz überwunden hatte. Was waren schon siebzig Meilen am Ende der Welt? Johnson missfiel die Richtung, die diese Epidemie eingeschlagen hatte.«

Das soll sich 1818 in den Bengalen zugetragen haben. Ist es nicht bemerkenswert, welche Details ein Autor im 21. Jahrhundert über Vorgänge, die vor rund 200 Jahren stattgefunden haben, herausfinden kann?

Oder ist es doch schriftstellerische Freiheit? Dann aber stellt sich die Frage: wie weit darf schriftstellerische Freiheit bei einem »Wissenschaftsbuch« mit historischem Thema gehen? Noch dazu ein Buch, das laut Titel auf der Shortlist der Wissenschaftsbücher 2022 steht? Es ist jedenfalls nicht als historischer Roman deklariert.

Zunächst hat mich diese Stelle zwar irritiert, aber ich lese dennoch weiter, weil das Thema des Buches doch fasziniert. Aber es bleibt nicht bei dieser einen Ausschmückung:

»Diesmal blieb er nicht stehen, um Steine zu betrachten, ihm entging sogar die neue Grube, die Bauarbeiter aushoben.«

Woher der Autor wissen möchte, was diese historische Person nicht gesehen hat, ist nun eine wahrlich bemerkenswerte Recherche-Leistung.

Dann folgt Kapitel 5: Diese Stadt braucht etwas Großartiges, Untertitel:1860-1863. In diesem Kapitel wird unter anderem über die Reise der Novara berichtet:

»Die Reise der Novara war ein Triumph, zumindest für österreichische Verhältnisse. Zum ersten Mal hatte das Kaiserreich eine Weltumsegelung unternommen, und das Schiff war sogar mit halbwegs vollzähliger Besatzung zurückgekehrt.« 

Dann wird angemerkt:

»Um das Projekt wissenschaftlich aufzuwerten, ließ man sich vor der Abreise sogar vom greisen Alexander von Humboldt den Segen für die Unternehmung geben.«

Alexander Humboldt stirbt 1859 und die Novara-Expedition fand von 1857 bis 1859 statt, nicht wie in der Kapitelüberschrift beschrieben im Zeitraum von 1860 bis 1863.

Titel des Expeditionsberichts der Novara-Expedition

Das war indessen die Stelle, an der ich das Buch endgültig und ziemlich grantig weggelegt habe. 

Für mich steht und fällt die Qualität eines Buches mit dem Vertrauen, das ich dem Autor entgegenbringe, gut und seriös recherchiert zu haben. Die ersten schriftstellerischen Ausschweifungen oder Entgleisungen waren für mich schon deutliche Warnsignale. Wenn man dann aber nicht einmal in der Lage ist, einfache Zeitlichkeit korrekt abzubilden, dann ist mein Vertrauen zu Ende. Dieser Text wurde, so mein Eindruck, nicht sauber recherchiert und nicht kritisch Korrektur-gelesen.

Dazu kommt die ergänzende Dimension, dass dieses Buch als »Wissenschaftsbuch 2022« gelistet wurde und am Klappentext sich das Zitat der Presse-Journalistin Anne-Catherine Simon findet: 

»Minutiös recherchiert und trotzdem stellenweise wie ein Roman...«

So minutiös recherchiert, dass der Autor in der Lage war, zu wissen, wo sich der Finger einer Person vor 200 Jahren befunden hat, Dinge beschreibt, die eine Person nicht gesehen hat, sowie einfache zeitliche Einordnungen nicht gelingen?

Da habe ich persönlich eine andere Vorstellung von penibler Recherche.

Vielleicht wäre es besser gewesen, einen historischen Roman, statt ein Sachbuch zu schreiben?

Oder bin ich übertrieben empfindlich?

Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)