In den letzten Jahrzehnten habe ich mich recht intensiv mit Irrationalität, ja Verrücktheiten aller Art beschäftigt. Die skeptische Bewegung macht im Kern nichts anderes, als nach den wirrsten Ideen, die die Gesellschaft befallen, zu suchen und diese aufzuklären. Oder jedenfalls den Versuch der Aufklärung zu unternehmen. (Die Schattenseite dieser Bewegung ist allerdings, und das bemerken viele Menschen intuitiv, dass der Status Quo und die etablierten Strukturen in viel zu positivem Licht dargestellt werden.)
Ich vermute, jeder kritische Mensch reibt sich die Augen, wie es im 21. Jahrhundert möglich sein kann, dass Menschen Homöopathie, Astrologie oder Flat-Earth Ideen ernst nehmen können; Impfungen ablehnen oder behaupten, Corona oder HIV wären ein »Hoax«, ein Betrug. Es gibt sogar zahlreiche Nobelpreisträger, die in die Kategorie »Querdenker und Wirrkopf« einzureihen sind. Kary Mullis etwa, der einerseits eine der wesentlichsten biochemischen Methoden des 20. Jahrhunderts (PCR) entwickelt hat, andererseits der Ansicht war, FCKWs wären nicht für das Ozonloch verantwortlich, Menschen nicht für den Klimawandel und HIV würde AIDS nicht verursachen. Und alle »mainstream« Wissenschafter wären korrupt (— nun, letzten Punkt sollte man vielleicht am ehesten eine Chance geben).
Kary Mullis (Wikipedia) |
Kurz gesagt, für lange Zeit habe ich mir die Frage gestellt, wie es in einer relativ aufgekärten und gut gebildeten Gesellschaft (und teilweise auch unter gut hochgebildeten Menschen, denken wir an Impfleugner oder Homöopathie-Fans) solche Verrücktheiten geben kann.
In der letzten Zeit hat sich mein Blick etwas verändert, und interessanterweise gibt Kary Mullis einen guten Anhaltspunkt dafür. Meine Vermutung geht systemisch in folgende Richtung: In komplexen und krisenreichen Zeiten ist es kollektiv gedacht sinnvoll, auch extreme Optionen auszuloten. Steckt man im Konventionellen fest, wiederholt nur der Narr immer dasselbe, obwohl er scheitert (so wie wir es aktuell mit unserem Wirtschafts- und Finanzsystem machen — dies scheint zu festgefahren, als dass alternative Ideen irgendeine Chance hätten).
Was also tun?
Die Strategie von exploitation auf exploration ändern, von immer besserer Anwendung etablierter Ideen auf den Versuch auch schräge neue Ideen auszuprobieren. In der Biologie scheint dies eine Strategie zu sein: in Zeiten ökologischen Drucks dürfte die Mutationsrate steigen, um mehr Varianten im Genpool zu erzeugen. In »ruhigeren« Zeiten, geht die Mutationsrate wieder zurück.
Was bedeutet dies für gesellschaftliche Abweichler? Wenn meine These systemisch korrekt ist, müssten also abweichende Ideen in Zeiten der Krise häufiger sein als in normalen, weniger bedrohlichen Situationen. Genau dies beobachten wir auch aktuell.
Der Punkt mit abweichenden Ideen ist aber: wenn ich — metaphorisch gesprochen — die Mutationsrate von Ideen in einer Gesellschaft erhöhe, dann erhöhe ich einerseits die Chance etwas ungewöhnliches und spektakulär Kluges zu entdecken, das abseits des Mainstreams übersehen wurde. Das ist aber nur die eine Seite der Münze. Die andere Seite ist, dass in diesen abweichenden Ideen auch jede Menge an spektakulärem Unsinn zu finden ist. So eben die Ideen, dass HIV nicht AIDS verursacht oder dass der Mensch nicht für den Klimawandel verantwortlich ist, oder dass Covid-Impfungen nur Chips von Bill Gates verteilen sollen.
Manche Abweichung ist auch nur graduell übertrieben, etwa, wenn gegen Corona-Maßnahmen protestiert wird. Diese Proteste sind oft von bemerkenswerter Einfalt, aber grundsätzlich ist es richtig, politische Maßnahmen kritisch zu reflektieren, die tief in die individuellen Rechte eingreifen. Gäbe es gar keinen Gegenwind, wäre die Verlockung für autoritär eingestellte Politiker (wie wir sie auch in Europa in zahlreichen Regierungen finden) groß, Maßnahmen zu etablieren, die weit über das vernünftige Maß hinausgehen.
Zurück zu Kary Mullis, der, wie gesagt, ein sehr interessantes Beispiel abgibt: liest man seine Biographie, so war er offenbar eine recht unangenehme und unangepasste, aber auch obsessive Person. Seine Ideen, die zur PCR geführt haben, wurden vom Mainstream der Wissenschaft nicht geteilt, ja sogar abgelehnt. Noch dazu war er wohl eher ein Außenseiter in diesem speziellen Forschungsbereich. Dennoch hat sich seine Idee als spektakulärer Erfolg dargestellt. Ähnliches trifft übrigens auch auf Watson und Crick und die Beschreibung der Doppel-Helix zu. Bei manchen wissenschaftlichen Durchbrüchen ist es also offenbar sehr hilfreich, wenn man nicht fach-/betriebsblind ist. James Watson sagt über sich selbst:
»Linus [Pauling] war ein zu bedeutender Mann, um seine Zeit mit dem Unterrichten eines mathematisch unterbelichteten Biologen zu verschwenden.«
Um damit auf den größeren Gedanken zurückzukehren: in einigen Fällen ist es also augenscheinlich sehr hilfreich, wenn extreme Ideen exploriert und getestet werden. Dies ist auch der Grund, warum ich Corona-Leugner, Homöopathen und andere Wirrköpfe im Augenblick wesentlich gelassener sehe als noch vor wenigen Jahren: Eine Gesellschaft benötigt die Abweichung von der Norm um Fortschritt zu machen, weil eben diese Abweichung in seltenen Fällen zu bemerkenswerten Erkenntnissen führt.
Die Betonung liegt hier auf in seltenen Fällen. Die überwiegende Zahl an abweichenden Ideen ist schlicht falsch, oft auch grotesk blödsinnig, so wie auch der von Abweichlern oft genannte Verweis auf die seltenen Genies, die ebenso wie sie selbst Abweichler waren. Das ist zwar im Prinzip richtig, missversteht aber eine wesentliche Asymmetrie: die meisten Abweichler liegen grundfalsch in ihren Ideen, nur ganz wenige sind spektakulär erfolgreich.
Ganz wenige. Aus gesellschaftlicher Sicht in einer Krise bin ich gewillt mit einer gewissen Menge an Spinnern zu leben, mit dem höheren Rauschen am Rand, um den seltenen Treffer zu erlauben. (Es wäre allerdings eine gute Idee, würden wir diesen Spinnern nicht allzuviel Raum in unseren Medien widmen.)
Now, Andy did you hear about this one?