»Die Mittel alleine deshalb herzustellen, weil sie hergestellt werden können, also alles zu machen, was technisch machbar ist – diese Meinung hält C.F von Weizsäcker für einen kindlichen Allmachtstraum, der bei einem Kind rührend, bei einem Erwachsenen verbrecherisch sei. Und er fährt fort: „Diese Meinung ist Ausdruck einer prinzipiell untechnischen Mentalität. […] Wo kein Zweck ist, da ist das Mittel unnötig. Wer die Zwecke nicht erwägt, handelt gegen den Geist vernünftiger Technik. Alles Machbare zu machen ist Drogenmissbrauch, Missbrauch der Frohe Macht. Es verdient nicht den Namen Technik. Technik ist erwachsene Genauigkeit.“«, Klaus Kornwachs, Philosophie der Technik, C.H. Beck Wissen (2013)
C. F. von Weizsäcker (Wikimedia) |
Das Zitat Weizsäckers kann man dahingehen (extrem) auslegen, dass es ohne Zweck – also ohne ein zu lösendes Problem, ohne eine konkrete Vorstellung von Nutzen (und Schaden) – keine Suche nach Mitteln geben sollte. Spätestens zu dem Zeitpunkt, an dem wir eine neue Technik in die Welt setzen wollen, sollten wir die Zwecke überlegen und abwägen.
Eine Betrachtung der Gegenwart legt allerdings nahe, dass wir im Weizsäckerschen Sinne den Gipfel der Infantilität wohl erreicht haben. Mehr und mehr Technologien werden in die Welt gesetzt ohne die Zwecke zu hinterfragen. Gerade das Gegenteil ist bei den Technologien der Fall, die als besonders innovativ gelten:
Mobiltelefonieanbieter zahlen Milliarden Euro für Sendelizenzen ohne eine Idee zu haben, wie damit Geld zu verdienen ist. Internet Firmen und Startups wie Twitter vernichten Milliarden Dollar ohne konkrete Vorstellung, was der Zweck des eigenen Systems sein könnte. Wie damit Geld zu verdienen wäre ist auch völlig unklar. Wir bauen in jedes nur erdenkliche Gerät zahlreiche Sensoren ein und sammeln Daten in gigantischem Maßstab (»Big Data«) – natürlich ebenfalls ohne eine konkretes Ziel. Nanotechnologie und synthetische Biologie gelten als große Zukunftsthemen und gleichzeitig haben wir in Wirklichkeit keine Idee, was die Anwendungen und die Konsequenzen sein werden (im Zweifelsfall wird darauf verwiesen, dass irgendwelche diffusen, nicht konkret genannte medizinische Anwendungen erwartet werden).
Kurz gesagt, die heutige Zeit ist von einem Technologieverständnis geprägt, wo es geradezu als rückschrittlich gilt nach dem Zweck zu fragen. Das Idealbild der Zeit scheint vielmehr die zwecklose Technologie zu sein. Am eindrücklichsten sieht man diese bei Plattformen wie dem Internet. Diese leisten für sich genommen gar nichts, sondern gewinnen erst durch darauf aufbauende Dienste an Nutzen. Plattformen sind, respektlos ausgedrückt, moderne Spielplätze für Geeks. Infantilität trieft dort aus alles Poren. Aber eben diese Infantilität der Geeks ist nur die Spitze des Eisberges, denn das nicht-Hinterfragen der Zwecke a priori ist zum Fundament der Industriegesellschaft geworden. Zumindest interpretiere ich Güther Anders in dieser Weise:
»Heute — dies ist die fixe Idee der industriellen Revolution — [ist] das Mögliche durchwegs als das Verbindliche, das Gekonnte durchwegs als das Gesollte akzeptiert. Von der Technik gehen die moralischen Imperative von heute aus. [...]«
und weiter:
»Hektisch suchen wir für diese Produkte nach raison d'être, verzweifelt jagen wir nach Fragen, die den Antworten, die wir bereits haben, nachträglich Legitimierung verschaffen könnten.«, Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen
Soweit die Technik-Kritik aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Aber ist dieser Zugang schlecht? Sind es nicht letztlich gerade die infantilen Geeks, die Fortschritt ermöglichen? Haben Weizsäcker und Anders mit ihren Aussagen also einen relevanten Punkt getroffen? Wie so oft, gibt es drauf, wie mir scheint, keine einfache Antwort.
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In der Geschichte der Wissenschaft und Technik gab es Mittel oder Zwecke nie in »Reinform«. In der Praxis begegnen wir beiden Zugängen: es sind Zwecke (Anforderungen), die bestimmte Entwicklungen motivieren aber andererseits »einfache« Neugierde und Spieltrieb, der sozusagen zweckfrei voranschreitet, und Grundlagenforschung motiviert. Hätten wir immer nur auf Zwecke gesetzt, wären wir auf viele wertvolle Innovationen nicht gekommen. Wer hätte gesagt: »Menschen wollen mit ihren Verwandten, die weit weg leben, sprechen – lass uns das Telefon erfinden, und zuvor die Elektrizität.« Vielmehr war häufig das Gegenteil zu beobachten, auch im konkreten Beispiel:
Die Konkurrenten Alexander Bell und Elisha Gray haben beide am 14. Februar 1876 das Telefon zum Patent angemeldet. So unwahrscheinlich diese zeitliche Koinzidenz ist (und einen eigenen Blogpost wert wäre), so interessant ist letztlich die Begründung, warum Gray die Klage gegen Bell fallengelassen hat: das Telefon sei letztlich die Aufmerksamkeit nicht wert – also nicht relevant genug, um einen langen Prozess auszufechten. [Kevin Kelly, What Technology Wants]
Und nun zur Elektrizität: Als der britische Politiker William Gladstone (damals Finanzminister) Faraday fragt, wofür denn Elektrizität gut wäre meinte er »Im Moment weiß ich es noch nicht ...«; immerhin besaß er die Weitsicht hinzuzufügen: »... aber eines Tages wird man sie besteuern können.« [Ernst Peter Fischer, Aristoteles und Co, Piper]
Das Telefon ist also ein Beispiel einer der zahlreichen Technologien, die unser Leben sehr grundlegend verändert hat, wo aber mit Sicherheit kein Zweck am Anfang stand.
Das Internet und darauf aufbauende (Cloud) Services sind ein moderneres Beispiel. Zwar schien von Anfang an klar zu sein, dass hier viel Potential steckt, was aber konkret die Zwecke und Folgen sind blieb lange unklar. Die ersten Jahre waren von Experimenten aller Art geprägt, durchaus auch von finanziellen Irrsinn geprägt — erinnern wir uns an die .com Blase, deren Ausläufer bis heute zu spüren sind.
Heute verbindet das Internet einerseits Familien quer über den Erdball und demokratisiert die Veröffentlichung und den Zugriff auf Informationen, mit allen damit verbundenen Vorteilen. Auf der anderen Seite begünstigt die Globalisierung der Kommunikation Monopole und staatliche Eingriffe. Insofern ist das Internet heute nicht nur in jedem Haushalt, sondern auch in der Hand traditioneller Unternehmensstrukturen angelangt. Facebook alleine (zumindest 2014; es kann leicht sein, dass dies in wenigen Jahren ein anderer Monopolist übernimmt) verknüpft ehemalige Studienfreunde, Email und just in time processing krempelt die Geschäftswelt um (und hilft Waren rund um die Welt zu schicken um wenige Cents zu sparen); Amazon versetzt dem Kleinhandel den Todesstoß und »revolutioniert« das Verlagswesen. Nicht zuletzt haben die NSA und andere Geheimdienste endlich die Möglichkeit bequem und vergleichsweise einfach die gesamte Weltbevölkerung abzuhören und zu kontrollieren.
Aber nicht nur das. Die dot.com Blase um 2000 hatte noch einen weiteren, langfristig sehr problematischen Effekt: zwar explodierten Zahl und Nutzung von Web-Services, aber kaum jemand hatte eine gute Idee, wie man mit vielen dieser Dienste auf vernünftige Weise Geld verdienen kann. (Selbst der Vorzeige-Online Händler Amazon macht keine Gewinne!) Wenn man so will, hat die Gold-Sucher-Hysterie jedes einigermaßen überlegte (wirtschaftliche) Konzept überrollt. Wichtig war etwas Online zu bringen, Nutzer zu gewinnen. Und dies trifft bis heute im wesentlichen zu. Das Fundament jedes Unternehmens wurde vergessen: Profit. An den Folgen leiden wir alle bis heute. Ich bin der Ansicht, dass »das Internet« dadurch nachhaltig beschädigt wurde. Denn der Weg Geld zu verdienen besteht heute im wesentlichen darin, die Daten von Nutzern an Bestbieter zu verkaufen und fragwürdige indirekte Monetarisierungskonzepte aller Art zu entwickeln. Wir sehen dies bei der Versteigerung von Online-Werbung während der Kunde eine Webseite abruft, dubiose »free to play« Spiele bis zu »Big Data« Analysen und Ranking von Nutzern für Banken und andere Dienstleister.
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Der entscheidende Punkt ist aus meiner Sicht nicht die Tatsache, dass potente Technik positive wie negative Anwendungsbereiche kennt — das ist eine eher triviale Erkenntnis. Interessant ist vielmehr die Naivität der vermeintlichen Experten (und hier zähle ich mich explizit hinzu), die wesentliche und, was noch verstörender ist, zugleich offensichtliche Entwicklungen nicht gesehen haben.
Bleiben wir beim Beispiel der (Total-)Überwachung der Bürger durch Geheimdienste, Firmen und letztlich auch verbrecherische Organisationen. Dieser Umfang an einfach umzusetzender Bespitzelung von uns allen ist erst durch die Digitalisierung und Vernetzung aller Lebensbereiche möglich geworden. Dies ist allerdings eine so logische Konsequenz von Computern und dem Internet (allgemeiner: dem einfachen und kostengünstigen Fluss großer Datenmengen), dass es bemerkenswert ist, dass dies nur einer sehr kleinen und wenig lautstarken Gruppe der Internet-Enthusiasten sofort klar gewesen ist. Jetzt allerdings ist das Kind in den Brunnen gefallen. Privatsphäre wird es auf absehbare Zeit nicht mehr geben. Aber damit nicht genug: viele der (Techniker), die uns aufgrund ihrer Naivität (bzw. nach Weizsäcker: durch Erstellung von Mitteln ohne über die Zwecke nachzudenken) die Probleme gebracht haben, treten jetzt wieder lautstark in den Fordergrund und fordern – was sonst – technische Lösungen und lehnen andere Überlegungen (wie staatliche/politische Maßnahmen) kategorisch ab. Nicht nur lehnen sie diese ab, diejenigen, die sich mit politischen Konzepten beschäftigen werden als naive Internetausdrucker dargestellt.
Wirtschaft und Gesellschaft sind ohne ein weiteres Nachdenken kopfüber ins trübe Wasser gesprungen und haben vagen Versprechungen von Technikern vertraut. Alles war schließlich so hübsch und bunt (vor allem die Versprechungen). Jeder hat sich überschlagen moderner zu sein als der Nachbar und im Grunde halbgare Technik überall zum Einsatz zu bringen. So gibt es keinen Lebensbereich mehr, wo wir nicht von immer neueren Computersystemen, Datenbanken und Netzwerken vollständig abhängig wären.
Ich argumentiere nicht fundamental gegen Computer und Netzwerke (immerhin verdiene ich meinen Lebensunterhalt damit), aber eines ist klar: wir haben auf kritisches Hinterfragen neuer Techniken vergessen. Im Rausch des Neuen, auch der Spielerei, wurden alle Bedenkenträger lächerlich gemacht, als Internetausdrucker und ewig Gestrige bezeichnet. Der Treppenwitz der Geschichte aber ist, dass genau diese Internetausdrucker es waren, die nach einer Schrecksekunde das Internet offensichtlich viel besser verstanden haben als die Geeks, die uns die bunten Spielereien verkauft haben. Denn die vermeintlichen Internetausdrucker waren es, die die Programme zur Totalüberwachung gestartet haben.
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Was können wir daraus lernen? Ich denke es gibt beim Auftreten neuer Ideen und Technologien, in der Regel drei Lager: Das erste besteht aus den genannten Geeks; technisch hoch kompetent, gesellschaftlich oftmals naiv bis infantil, dennoch mit großem Sendungsbewußtsein (»alles geht«; »haben wir im Griff, nur die DAUs sind das Problem«; »Zwecke müssen nicht gegeben sein, das Mittel ist so faszinierend, es werden letztlich die Probleme gelöst und eine neue, bessere Gesellschaft durch Technologie geformt«). Dazu zählen dann auch diejenigen, die allen Ernstes glauben, Twitter und Facebook würden Demokratie und Freiheit in den Nahen Osten bringen, oder der Klimawandel ließe sich durch rein technisch/wissenschaftliche Maßnahmen beherrschen.
Die zweite Gruppe sind die sachlich Inkompetenten. Sie sehen in allem Neuen nur die Gefahr (»alles ist furchtbar und außer Kontrolle«, »jeder mögliche und unmögliche Zweck neuer Technologie muss in jedem Detail geklärt sein, bevor man sie einsetzen darf«). Neues darf keinesfalls stattfinden, jedenfalls nicht, solange die Unschädlichkeit nicht zu 100% bewiesen ist. Völlige Unschädlichkeit lässt sich allerdings nie beweisen, v.a. auch dann nicht, wenn man jede Anwendung und jeden Test untersagt, bzw. Fakten nicht zur Kenntnis nehmen will (wie am Beispiel der grünen Gentechnologie).
Die dritte Gruppe sind die Opportunisten. Von denen hört man am wenigsten. Sie sind die stillen Sieger, die aus dem Mittel maximalen (persönlichen) Gewinn herausschlagen. Dazu kommt jeder Zweck gerade recht.
Hatte Weizsäcker also recht und leben wir einen Allmachtstraum in dem wir Mittel ohne Zwecke einsetzen? Bemerkenswert ist jedenfalls die Inkonsistenz mit der wir unterschiedliche Technologien bewerten: bleiben wir beim Beispiel Informations- und Kommunikationstechnologie. Sie hat großes Potential unser Leben zu verbessern, richtet gleichzeitig aber auch erheblichen Schaden an. Es wäre fundierteres Nachdenken, ob jede Möglichkeit auch umgesetzt werden sollte, durchaus angebracht! Andererseits haben wir Bereiche wie die (grüne) Gentechnik, die von der Risikobewertung vermutlich günstiger dasteht als derzeit die IKT. Dennoch wird hier mit einem völlig anderen Maßstab gemessen. Während jedes noch so blödsinnige Internet-Startup positive Schlagzeilen bekommt, Handelsplattformen Aktien im Millisekundentakt umschlagen und damit ganz akut die Wirtschaft bedrohen, werden diese Risiken kaum diskutiert. Gentechnikrisiken – die zweifellos ebenso existieren – werden im Gegensatz dazu ohne jede vernünftige Perspektive diskutiert.
Während bei der IKT argumentiert wird, positive Zwecke würden schon folgen, man müsse nur möglichst ungestört an den Mitteln arbeiten, wird bei der Gentechnik die Logik genau umgekehrt: es darf keineswegs an neuen Mitteln gearbeitet werden, solange die Zwecke nicht völlig klar und gänzlich risikolos sind. Und selbst wenn alle vernünftigen Studien dies nahelegen, so wird dennoch der Einsatz untersagt.
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Die Trennung von Mitteln und Zwecken birgt immer Risiken, vor allem auch dann, wenn die Mittel von naiven Geeks in die Welt gesetzt, die Zwecke hingegen von opportunistischen Monopolisten ausgebeutet werden. Weder erscheint es sinnvoll Weizsäcker extrem ausgelegt zu folgen und für jedes Mittel den Zweck vorweg zu fordern. Dies würde einem Stillstand gleichkommen. Mit Stillstand aber können wir die Probleme der Welt aber nicht (mehr) lösen.
Andererseits sollten Chancen und Risiken neuer Technik – egal um welche es sich handelt – ruhig und soweit wie möglich auf Basis von Fakten diskutiert aber auch in ihren Auswirkungen konsequent beobachtet und hinterfragt werden um gegebenenfalls rechtzeitig gegensteuern zu können und dies auch zu tun! Das trifft ganz besonders auf unerwartete systemische Wirkungen zu, die vorweg nie einfach zu erkennen sind. Man denke an die Auswirkungen der IKT auf globale Lieferketten, von Digitalisierung und Datennetzen auf künstlerische Berufe, oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, die negativen Folgen von subventioniertem Treibstoff und Individualverkehr auf Stadtplanung, Mobilität, Arbeitsplätze und Lebensqualität.