Freitag, 23. August 2013

Wir Internet-Versteher - Eine Polemik


Eine geladene Pistole liegt auf dem Tisch. Der Tisch inmitten einer Schar zehnjähriger Kinder.

Foto von lanier67(flickr)

Wäre irgendjemand überrascht, wenn Minuten später eines der Kinder mit der Waffe spielen und unabsichtlich einen Spielkameraden oder sich selbst erschießen würde? Kaum. Die Ausgangslage trägt die Katastrophe bereits in sich. Natürlich ist dies ein extremes Beispiel, auch wenn es leider immer wieder vorkommt. Erst vor wenigen Monaten waren amerikanische Familien in den Schlagzeilen, deren Kinder Vater oder Spielkameraden erschossen haben.

Was hier so offensichtlich scheint, übersehen wir in anderen, an und für sich ebenso offensichtlichen Situationen. Die Begeisterung ob neuer Möglichkeiten versperrt uns die Sicht. Innovatoren sind meist Idealisten. Sie sehen positiven Aspekte und blenden die Gefahren aus. 

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Treten wir etwa 30 Jahre zurück. Wir beginnen die Computer der Welt mit Datennetzen zu verbinden. Eines dieser Netzwerke war das Arpanet und später daraus hervorgehend das Internet. Zugegeben, das waren (wie so viele Forschungsinitiativen in den USA) militärische Projekte; dennoch waren von Anfang an "Hippie-Hackern" höchst einflussreich. Die Idee einer Bottom-Up Demokratisierung, die daraus in späteren Jahrzehnten, vor allem in den 90ern gewachsen ist, war verlockend wie kaum ein anderes Projekt seit der Aufklärung.

Ich selbst war angesteckt von der Goldgräberstimmung der 90er Jahre. Freie Meinungsäußerung. Open Source und Open Protocol. Damit wird das Netz zu einer Plattform für jedermann. Neue Projekte ohne extrem teure Lizenzen an Microsoft, IBM oder Oracle. Gleichberechtigung aller Anbieter (heute auch Netz-Neutralität genannt). Kein Zwang einen Verlag oder eine Zeitschrift zu suchen, die einen Artikel publiziert, einen Radiosender, der einen Bericht ausstrahlt.

Was könnte man hier nicht mögen? Vieles hat sich tatsächlich zum positiven verändert.

Heute herrscht – jedenfalls bei mir – Katerstimmung. Das Internet ist, so könnte man es ganz vereinfacht ausdrücken, in der Unterschichtslogik von RTL, Bild, Krone und Heute angelangt. Der Großteil der (tatsächlich konsumierten) Angebote stammt nur aus wenigen Quellen (wenngleich es die PSYs natürlich gibt). Die Qualität des Crowdsourcing erkennt man jederzeit, wenn man Kommentare unter Artikeln liest. Hier muss man nicht Heise-Foren oder YouTube bemühen. Auch Die Zeit oder der Guardian sind ausreichend desillusionierend. Gut, es gab immer eine große Zahl dummer Menschen. Nur scheint es, dass das Internet gerade auch den Zurückgebliebenen und Spinnern nie dagewesene Möglichkeiten bietet (von wegen, Computer sind kompliziert zu benutzen...).

Aber das ist nur ein (ärgerlicher) Nebenschauplatz. Viel wichtiger: die Freiheit der Graswurzel-Aktivisten wurde zum unmittelbaren Instrument staatlicher, nein, globaler Überwachung und Unterdrückung. Wir klären eben nicht nur auf (als Aktivisten) sondern werden auch Teil der staatlichen Aufklärung und sind besser überwacht und kontrolliert als je zu vor. Und das nicht nur in der "Achse des Bösen". Ironischerweise sind die Epizentren der Unterwanderung der Aufklärung, der Anti-Demokratie die früheren Vorbilder parlamentarischer Demokratie: die USA und Großbritannien.

Wie günstig, dass alle großen Internet-Dienste in den USA betrieben werden. Da geht das Abschnorcheln auf dem kurzen Dienstweg.

Auch wird die US-Industrie nichts dagegen einzuwenden haben, wenn unter dem Deckmantel der "Terror"-Bekämpfung großflächig für sie (noch dazu kostenschonend mit Steuermitteln) Industriespionage betrieben wird.

Und die Politiker? Da brauchen wir uns keine Sorgen machen. Die kennt niemand mehr. Die Drehbücher der Politik werden in den Schatten-Organisationen der Geheimdienste und der finanzstarken Industrien geschrieben. Obama und Co haben dann die ehrenwerte Aufgabe diese publikumswirksam zu inszenieren. Bei der Aufmerksamkeitsspanne der Wählerschaft ist auch keine Investition in begabte Autoren erforderlich. Der Praktikant schreibt die Rede in der Mittagspause. Für  Pofalla reicht das allemal. Wir wissen jetzt: die Diskussion ist vom Tisch. Denn man hat eh auch mit der NSA gesprochen, und es hat sich als ein großer Irrtum herausgestellt. Puh. Glück gehabt. Und außerdem: die USA hat sogar ein Fax geschickt, dass man ganz sicher nicht mehr spionieren wird.

Ehrenwort!

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Zurück zum Anfang. Am meisten ärgert mich, dass diese Entwicklung absolut vorhersehbar war. Seit Anfang der 90er Jahre. Selten waren Intellektuelle und Nerds so naiv wie in den letzten zwanzig Jahren. Haben wir gelacht. Über die Internet-Ausdrucker. Aber von wegen, Internet-Versteher. Das Lachen bleibt jetzt im Hals stecken. Es stellt sich heraus: die wahren Internet-Checker sind Merkel, Cameron, Obama und Co. Es tut weh das so spät zu erkennen.

Aber wir lassen unsere Vision einer glorreichen Netz-Zukunft keinesfalls stören! Von den Piraten lernen wir endlich, wie man als Digital Native das Netz zu nutzen hat um Politik zu machen. Diesmal aber richtig!  Nicht so wie die alten Knacker. Von Amazon lernen wir, wie man steuer-, dafür aber weniger Mitarbeiterschonend im Web 2.0 Geschäfte zu machen hat. Und die Hackerclubs erklären die richtige Verwendung des Alu-Hutes. Und so sitzt in irgendeinem Keller in Berlin ein Hacker und "kommuniziert" mit einem anderen Hacker in einem anderen Keller in einer anderen Metropole, sagen wir, in Graz, verschlüsselt mit PGP. Diese beiden haben zwar nichts relevantes zu besprechen (Hacker, wie gesagt), aber erledigen dies immerhin auf höchstem Sicherheitsniveau.

Draußen in der Welt teilen Bürger tatsächlich vertrauliche Informationen über Facebook und Skype. Vor PGP fürchten sie sich zurecht, denn bekanntlich ist das ein Gift, das in den 70er Jahren verboten wurde und das man mittlerweile schon im Fett von Pinguinen nachweisen kann.

Die Visionen der Keller haben das Tageslicht nicht überlebt. Was Visionäre als verteiltes, demokratisches Informationsnetzwerk verstanden haben, hat sich den Realitäten traditioneller Ökonomie und etablierten Geheimdiensten schneller gebeugt als wir unseren Eltern Smartphones aufschwatzen konnten. Verteilt? War einmal: Cloud Computing, Facebook, YouTube, Google. Jeder hat eine Stimme? Schon. Die will nur niemand hören. Die größte Bibliothek der Welt wollten wir wir schaffen. Bekommen haben wir Wikipedia. Freiheit und Demokratie wollten wir voranbringen. Bekommen haben minutenaktuelle Berichte intimster Details unseres Lebens in den Rechenzentren von Google, Amazon, Facebook und vieler, vieler Geheimdienste und Behörden.  Man kann getrost feststellen: ein voller Erfolg.

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In Ordnung. Die Alu-Hüte haben gewonnen. Zurück zum Telefon. Packen wir die Fax-Geräte wieder aus! — aber moment, die stabilen und redundanten Telefonnetze haben wir ja auch weg-innoviert, weil IP ja total die Zukunft war. Gestern. 


Schöne neue Welt.

Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)