Die Aufregung um Mike Daisey's This American Life Beitrag über die Arbeitsbedingungen in chinesischen Fabriken, hat mittlerweile weite Kreise gezogen. This American Life hat eine ganze Folge dem Widerruf der Mike-Daisey Episode gewidmet. Dieser Widerruf war bekanntlich notwendig, weil erhebliche Teile der Geschichte nicht den Tatsachen entsprechen. Eine an sich vorbildliche Praxis mit Fehlern umzugehen, die besonders im Medien-Bereich Schule machen sollte. Aber gerade darum soll es hier nicht gehen. Über die Rolle der Medien, Journalismus, und die Frage, was sich in diesen Fabriken tatsächlich abspielt wird ohnedies zur Genüge berichtet.
Wirklich interessant finde ich aber die Entstehungsgeschichte dieses Beitrages. Das Radio-Feature ist ja nur der letzte Schritt einer langen Entwicklung. Ich bin kein Psychologe und möchte schon gar keine Fern-Diagnosen stellen, aber doch eine Beobachtung teilen und diskutieren. Denn Recherche, das Sammeln von Fakten und die darauf aufbauende Erstellung eines Werkes, können ein beachtliches Eigenleben entwickeln. Besonders dann, wenn man sich wieder und wieder in das eigene Werk vertieft und sich mehr und mehr damit zu identifizieren beginnt. Das Werk kann, wie im Fall von Mike Daisey, ein Theaterstück, aber ebenso ein Artikel, ein Sachbuch oder eine Vorlesung sein. Wir stellen unser Werk dar, tragen vor Publikum vor, oder schreiben Jahre unseres Lebens an einem Buch. Selbst ein Sachbuch ist selten eine reine Faktensammlung, sondern führt den Leser, entwickelt eine These. Und diese These kann beginnen sich zu verselbstständigen. Ich möchte das als "Mike Daisey" Phänomen bezeichnen.
Ich kenne dieses "Mike Daisey" Phänomen in schwächerer Ausprägung von Vorlesungen. Man bereitet sich auf ein nicht-triviales Thema vor und beginnt einen roten Faden, eine Idee zu entwickeln. Diese kann eigentlich nur eine Annäherung an die Realität darstellen. Je öfter ich diese Vorlesung aber halte, desto mehr beginnt die Geschichte sich zu verfestigen. Die ursprünglich vage Idee wird sozusagen zur platonischen Idee. Was vorher noch an einigen Stellen wackelig war, entwickelt sich in der eigenen Anschauung mehr und mehr zur unumstösslichen Tatsache. Man ist sein eigener Zeuge. Wer könnte glaubwürdiger sein? Natürlich sollte man an diesem Punkt die eigene Idee wieder von vorne aufrollen und genau prüfen. Gleichzeitig wird genau das aber immer schwieriger. Denn eine Prüfung macht das stimmige, kohärente Bild löchrig, uneben. Die Wirklichkeit ist keine einfache, lineare Geschichte. (So manchen erfolgreichen Autoren ist es daher viel wichtiger eine runde Geschichte zu erzählen, als sich ernsthaft mit der unebenen Realität auseinanderzusetzen. Man denke an den Meister dieses Métiers, Malcolm Gladwell. Ein wunderbarer Geschichtenerzähler. Geschichten, die aber wenig mit der Realität zu tun haben, auch wenn sie das vorgeben. Erstaunlich, dass Gladwell im Gegensatz zu Daisey immer noch weitgehend positiv rezipiert wird.)
Kommen wir zurück zu Mike Daisey. Ohne sein Verhalten entschuldigen zu wollen, so scheint es mir doch verständlich zu sein. Er ist von den chinesischen Arbeitsbedingungen unter denen unsere Luxusgüter produziert werden (zu Recht) betroffen und beschäftigt sich mehr und mehr mit diesem Thema. Schliesslich reist er selbst nach China. Das ist, denke ich, eine wesentlicher Eckpunkt, der zur späteren Entgleisung beiträgt. Denn lehnt man sich so weit aus dem Fenster, kann man es sich vor sich selbst kaum mehr verantworten, wenn man letztlich mit kaum greifbaren Ergebnisses zurückkehrt. Er trifft tatsächlich einige Arbeiter. Hört die eine oder andere Geschichte. Nichts wirklich dramatisches, aber immer vor dem Hintergrund der Dinge, die er zuvor gelesen und gehört hat. Die weite Reise in eine für Aussenstehende nur schwer zu verstehende Gesellschaft und Kultur. Schritt für Schritt verschwimmen Beobachtung und Hörensagen. Es wird konfabuliert — der Versuch das unbekannte verständlich zu machen, eine Linie zu finden. Und nicht zuletzt, immer im Sog etwas positives bewirken zu wollen. Viele Menschen sind schon am guten Willen gescheitert. Sie haben nicht verstanden, dass die Probleme der Welt wesentlich komplizierter sind, als sie es wahrhaben wollen. Sie haben auch nicht verstanden, dass guter Wille nur ein allererster Schritt sein kann und scheitern dann am zweiten. Der gründlichen Analyse. Und erst recht am dritten. Der undogmatischen und stetig reflektierten Umsetzung. Der vermeintlich gute Zweck heiligt eben nicht alle Mittel.
Mike Daisey ist zurück in den USA. Arbeit am Theaterstück. Das verschwommene Bild aus Beobachtung, Gehörtem und Zusammengereimten muss geschärft, pointiert werden. Ein Theaterstück braucht klare Strukturen. Im Wunsch etwas positives zu bewirken, bleiben nun mehr und mehr Tatsachen auf der Strecke. Es ist ein Stück mit gerader Linie. Gut und Böse. Schmerz und Ausbeutung. Ein Erfolg. Er liest dieses Stück wieder und wieder. Und mit jedem Mal wird sein eigenes Bild klarer aber nicht richtiger. Tatsachen und Erfindung sind nun gerade für ihn kaum mehr zu unterscheiden.
Dann kommt This American Life. Die Gelegenheit eines Lebens. Was schon als Theaterstück hochproblematisch war, wird im journalistischen Kontext zum Tsunami.
Mike Daisey. Schuldig? Sicher. Aber wie viel Mike Daisey steckt in unseren Überzeugungen?