Sonntag, 27. November 2011

Abfahrt: 22. Jahrhundert, Ankunft: Steinzeit?


Kürzlich habe ich wieder einmal einen Beitrag gehört, in es um die langfristigen Notwendigkeit ging die Erde zu verlassen, um das Überleben der Menschheit an anderen Stelle im Universum sicherzustellen. Die Argumentation ist auf den (aller)ersten Blick stimmig. Das Überleben der Menschheit ist auf der Erde zweifellos bedroht. Die Apologeten der (futuristischen) Raumfahrt denken zwar zumeist weniger an die nachfliegenden Probleme wie unmittelbar bevorstehende Umweltkatastrophen oder die Tatsache, dass wir offenbar nicht in der Lage sind ein sinnvolles und funktionierendes globales Wirtschafts- und Finanzsystem auf die Beine zu stellen. Man denkt eher an Asteroiden, die die Erde zerstören könnten, oder weist ganz allgemein darauf hin, dass noch jede Spezies über kurz oder lang ausgestorben ist. Das stimmt im Prinzip auch und daraus folgt dann nur konsequent, dass wir uns langfristig auf den Exodus vorbereiten sollten. So die verkürzte Argumentationslinie.

Die Idee, Menschen in ein Raumschiff zu setzen und zu anderen Welten segeln zu lassen, hat natürlich durch Star Trek und Co einen sehr romantisch-abenteuerlichen Touch bekommen und lässt sich entsprechend auch medial gut vermarkten. Damit lassen sich milliardenschwere Projekte, der sonst von eher nüchternen Erwägungen, militärischen oder wissenschaftlichen Interessen getriebene Raumfahrt, auch leichter dem Bürger verkaufen. Extraterrestrische Kolonialisierungsbestrebungen interessieren mich zwar im Detail nicht besonders, können aber doch als schöne Metapher dienen. Sie zeigt, wie ich kurz darlegen möchte, wie abhängig wir Menschen von der Funktionsweise einer ungeheuren Vielfalt an Systemen auf der Erde sind.

Überlegen wir uns zunächst einmal ganz oberflächlich, was notwendig wäre um ein solches Raumschiff erfolgreich starten zu lassen. Das fundamentalste Problem dieses Unterfangens liegt wohl darin, dass die nächsten Planeten (die möglicherweise Leben ähnlich dem der Erde zulassen würden) weit entfernt sind. Sie sind tatsächlich sehr weit entfernt. Selbst mit ungeheuer schnellen Raumschiffen ist die Reise eine Frage von zumindest Jahrhunderten vermutlich von deutlich längeren Zeiträumen. An dieser Stelle werden manchmal Generationen-Raumschiffe ins Spiel gebracht, also Raumschiffe auf denen viele Generationen von Menschen über einen längeren Zeitraum leben können. Es wird als geboren, gestorben, aber was ebenso wesentlich ist: alle benötigten Ressourcen müssen mitgenommen oder im Raumschiff hergestellt werden können. Das betrifft z.B. Lebensmittel, Wasser und Luft. Hier ist ein perfekter Kreislauf und Recycling aller Substanzen über Jahrhunderte vonnöten. Schon dies ist eine kaum zu bewältigende Aufgabe. (Auch die Frage wie mit medizinischen und technischen Problemen umgegangen werden soll ist nicht trivial.) 

Nehmen wir aus Spass am Gedankenexperiment einmal an, dass diese banalen technischen Probleme lösbar wären, wird es erst richtig interessant (und auch weniger fantastisch). Denn dieses extreme Beispiel legt viel fundamentalere Probleme offen. Selbst wenn das Raumschiff einen Planeten wie die Erde findet stellt sich die Frage wie, beziehungsweise auf welchem Niveau menschlicher Entwicklung dieser besiedelt werden kann. Das Raumschiff selbst ist natürlich Hightech. Aber wie soll dieser Standard gehalten werden? Wieviele Menschen können transportiert werden? Einige Dutzend? Hundert? Tausend? Wohl kaum mehr. Ist dies ausreichend um das Wissen der Menschheit darzustellen? Man könnte argumentieren, dass die Computertechnik so weit fortgeschritten ist, dass das gesamte Wissen in intelligenten Systemen oder mit Robotern repräsentiert ist. Dann stellt sich aber die nächste Frage: wie werden diese Systeme gewartet? In der Geschichte der Menschheit gab es keine einzige Technologie die ohne Wartung, Ersatzteile und Wissen wie die Wartung zu erfolgen hat ausgekommen wäre. Im Gegenteil, je technologisch fortschrittlicher die Geräte sind, desto komplexer ist in aller Regel auch die Wartung (und die Materialien, die dafür benötigt werden). 

Man mag einwenden, dass es schon heute Open Hardware Bewegungen gibt. Es wird alles mögliche im Do It Yourself Stil gebaut – vom Traktor bis zum Computerchip-Design. Allerdings vermute ich, dass selbst die energischsten DIY-Fans nicht das Erz für den Stahl des Traktors abbauen oder das Eisen schmelzen und formen. Auch die Werkzeuge wie Bohrmaschinen, Schraubenzieher usw. werden wohl im Baumarkt gekauft. Nun bin ich ziemlich sicher, dass es auf dem Raumschiff, beziehungsweise auf dem neuen Planeten (sofern es dort nicht schon intelligente Lebensformen gibt) keine Baumärkte gibt. Es stellt sich also ganz konkret die Frage: was ist die kleinste Einheit an Menschen, Wissensspeichern (Büchern...) und Basis-Materialien die ausreichen um eine Gesellschaft heutiger Komplexität zu bootstrapen. Was ist die kleinste Menge an Menschen die ausreicht um ein selbstorganisierendes System zu ermöglichen, dass in der Lage ist, Technologie heutiger Komplexität am Laufen zu halten. Genauer gesagt kann man nicht von einer stabilen Gesellschaft sprechen, wenn diese nicht in der Lage ist die notwendigen Werkzeuge und Systeme auch von Grund auf neu zu bauen. Letzteres ist natürlich noch einen Schritt komplexer. Dies betrifft die Weitergabe von wissenschaftlichem und technologischem und anderem praktischen Wissen, sowie der Erstellung komplexer Organisationsstrukturen die in der Lage sind diese komplexen Systeme zu betreiben. Denn, wie Andy Clark in "Being There" so treffend beschreibt, menschliches Wissen ist heute im wesentlichen externalisiert, also abgebildet in Strukturen wie Firmen, Staaten oder Universitäten, weil kein Individuum mehr in der Lage ist komplexere Unterfangen alleine zu meistern oder auch nur zu überblicken. 

Meine Vermutung ist, dass dafür bei weitem mehr als ein paar hundert, oder gar ein paar tausend Menschen notwendig sind. Ich würde auf zumindest auf einige Millionen tippen. Vergessen wir nicht, dass zur Herstellung der technologischen Basis einer modernen Zivilisation Wissen und Arbeitsleistung benötigt wird, die vom Betreiben einer Mine über die Produktion von Kunststoffen, den Anbau von Kartoffeln, das Management größerer Organisationen bis zur Programmierung von Betriebssystemen reicht. Und von der Mine bis zum fertigen Computer sind viele Arbeitsschritte höchst unterschiedlicher Fähigkeiten nötig. Auch sollte man sicherzustellen, dass eine gewisse Resilienz, also Widerstandsfähigkeit gegen Krisen gewährleistet ist. Man sollte das Wissen wesentlicher Schritte also nicht von einzelnen Personen (oder meinetwegen Robotern) abhängig machen.

Da der Gesamtprozess der Produktion einzelner Industriegüter hochgradig komplex ist, gibt es keine Einzelperson mehr, die in der Lage ist, den Prozess als ganzes zu überblicken. Roboter oder technische Systeme fallen, wie gesagt, als Basis aus, da sie selbst der Wartung und technischen Erneuerung bedürfen. Wir sind also nicht nur von Materialien und Wissens-Datenbanken, sondern auch von Strukturen, die in der Lage sind aus dem Wissen operativen Nutzen zu ziehen abhängig. Einen Computer auseinanderzunehmen und im Prinzip zu wissen wie er funktioniert reicht bei weitem nicht aus um einen neuen zu bauen. Wir benötigen die notwendigen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Strukturen sowie Bildungs-Einrichtungen um das System am Laufen zu halten. Ich denke, schon diese stark vereinfachte Überlegung macht klar, dass ein solches Raumschiff, sofern es jemals abgeschickt werden würde, wenn Überhaupt in der Lage wäre eine Gesellschaft auf Niveau der Antike zu gründen.

Ich denke, dies sind keine guten Grundlage für so manchen Raumfahrt-Optimisten. Die meisten Ideen, die ich in diesem Kontext bisher gehört habe, waren auch in etwa auf dem Niveau von Transhumanisten wie Kurzweil. Wobei man das Wort Niveau hier nicht wirklich passend ist. Was bedeutet diese Überlegung aber für weniger extreme Zeiträume und das Leben auf der Erde – also sagen wir für das 21. Jahrhundert?

Ich denke, dieses Gedankenspiel zeigt auch (abseits von interstellaren Kollonisationsphantasien), wie enorm abhängig und potentiell fragil unsere heutige Gesellschaft geworden ist. Würden wir etwa den Kollaps Chinas, der USA überleben? Wie sieht es mit dem Zusammenbruch der Finanzsysteme aus? (Und mit "Überleben" meine ich ein Überleben auf etwa dem Zivilisationsniveau auf dem wir uns heute befinden.) Oder wie wäre ein Klimawandel der sich in Richtung 4-6° Erwärmung in relativ kurzer Zeit bewegt – eine Änderung die ökologisch keinen Stein auf dem anderen lässt? Oder auch nur einen in wenigen Jahren rapide steigenden Ölpreis, der alle wirtschaftlichen Sektoren (inkl. der Landwirtschaft) die wir aufgebaut haben in den Grundfesten erschüttern würde?

Sicher, man hört regelmässig das Argument, die Menschheit war immer in der Lage sich an veränderte Verhältnisse anzupassen. Aber wie schnell dürften solche Änderungen vor sich gehen? Vor allem in der heutigen Gesellschaft. Es macht einen fundamentalen Unterschied, ob 500 Millionen Menschen auf der Erde leben, oder 7 Milliarden, ob eine Gesellschaft auf dem technischen und gesellschaftlichen Niveau des 17. Jahrhunderts oder die heutige in eine globale Krise gerät. Die strukturellen Vernetzungen, die die heutigen Systeme am laufen hält, sind global und massiv, nicht kleinteilig und lokal. Wie stabil sind die politischen Systeme, die schon heute bei nur marginalen Problemen in den meisten Staaten kaum mehr rationale Politik zustande bringt. Man denke beispielsweise an Rechtspopulismus/extremismus in Finnland, Ungarn, Frankreich oder Österreich, oder auch an die an Irrationalität, ja an Dummheit kaum zu überbietenden Ansichten vieler Politiker, beispielsweise der religiösen Rechten in den USA. Treten tatsächlich ernste Probleme auf, ist es da zu erwarten, dass ein kühler Kopf bewahrt wird? Dass international und rational zusammengearbeitet wird um die Probleme gemeinsam zu lösen? 

Im Grunde können wir die Frage schon jetzt anhand eines Beispiels beantworten. Der Klimawandel ist da. Alle Experten sind sich in diesem Punkt einig. Die Konsequenzen sind wahrscheinlich katastrophal. Wie handelt die (internationale) Politik? Mit einer Mischung aus Verleugnung des Problemes und Ignoranz.

Keine guten Vorzeichen für die nächsten Jahrzehnte, fürchte ich, oder habe ich etwas wesentliches übersehen?

Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)