Donnerstag, 30. September 2010

Personalisierte Medizin, oder: welchen Wert hat ein Lebensjahr?

Im aktuellen Science Friday wird eine neue Studie vorgestellt, in der personalisierte Medizin thematisiert wird. Konkret geht es um folgende Frage: Stand der Wissenschaft in der Bewertung der Wirksamkeit von Medikamente sind Doppelblindstudien. Diese werden an Gruppen von Patienten durchgeführt, wobei eine Gruppe ein Placebo oder vergleichbares (älteres) Medikament erhält, eine andere Gruppe den vermeintlich besseren, neuen Wirkstoff. Um die Studie nicht durch andere Faktoren zu verfälschen, dürfen weder Arzt noch Patienten  wissen wer welcher Gruppe zugeteilt ist. Ist das neue Medikament entscheidend besser als das alte wird es zumeist zugelassen und kann von Ärzten verschrieben werden.


Es wird allerdings immer klarer, dass es bei verschiedenen Klassen von Wirkstoffen durchaus nennenswerte Unterschiede gibt, wie ein Medikament anschlägt; und zwar abhängig von der genetischen Grundausstattung des jeweiligen Patienten. Dies kann "einfache" genetische Faktoren wie das Geschlecht betreffen, aber auch komplexere nicht so offensichtliche Faktoren.

Nehmen wir an (und scheint immer deutlicher zu werden, dass dies bald der Realität entspricht) es gäbe eine Möglichkeit festzustellen, wie ein bestimmtes Medikament bei einem bestimmten Patienten wirkt. Nehmen wir weiters an (auch dies scheint bereits greifbar zu sein), es handelt sich um ein Medikament, dass eine schwere Krankheit behandelt. Bei einer bestimmten genetischen Gegebenheit ermöglicht dies dem Patienten etwa 2-3 Jahre an weiterer Lebenszeit. In anderen Fällen vielleicht nur 2-3 Monate. Gleichzeitig ist das Medikament äußerst kostspielig und kostet, sagen wir, 100.000 €.

Wer hat nun Anspruch dieses Medikament zu bekommen?

Ist es unethisch zu fragen, wieviel Geld ein Lebensjahr wert ist? Eine solche Frage stößt mit Sicherheit bei den meisten Menschen zumindest auf großes Befremden, wenn nicht starke Ablehnung. Aber drehen wir das Problem einmal um: wenn wir nicht bereit sind diese Frage zu stellen, kommen wir in logischer Konsequenz zu der heute durchaus verbreiteten Ansicht, Geld darf bei Gesundheit keine große Rolle spielen. Wirklich nicht?

Im Prinzip ist dies nur ein Spezialfall einer Diskussion die wir schon heute sehr gründlich führen müssten. Stellen wir uns einen einfacheren Fall vor: es gibt eine Behandlung die 100 Million Euro kostet und einem 90 jährigen Patienten etwa ein weiteres Lebensjahr schenken würde. Würden wir das vertreten? Wenn wir nicht bereit sind die obige Frage zu stellen, muss die Antwort lauten "Ja, selbstverständlich". Denn Leben darf nicht am Geld hängen! In der Praxis wäre das Geld natürlich nicht vorhanden um allen Patienten derartig kostspielige Behandlungen zu ermöglichen. Damit wird die Frage implizit gestellt, selbst wenn wir sie nicht explizit diskutieren wollen. Vermutlich wäre sogar der öffentliche Aufschrei groß, würde eine solche Behandlung gängige Praxis werden. Die Menschen würden sehr schnell feststellen, dass sich die Gesellschaft derartige Ausgaben einfach nicht leisten kann. Gut, aber welche Summe ist nun gerechtfertigt in einem solchen Fall. 1 Million Euro? 100.000? 1.000? Bei einem jungen Menschen mehr als bei einem älteren? Bei einer Mutter mit drei Kindern mehr als bei einem alleinstehenden Mann?

Geld ist eine begrenzte Resource. Oft besteht der Konflikt zwischen der sehr teuren Behandlung eines einzelnen Patienten und der günstigeren Behandlung vieler Patienten. Philosophisch betrachtet die Abwägung zwischen einer streng individualistischen (maximales Wohl für den Einzelnen) gegenüber einer utilitaristischen Betrachtung (maximales Wohl für die größte Zahl an Menschen). Dennoch muss uns klar sein: wir beantworten diese Fragen entweder bewußt oder zwischen den Zeilen, z.B. durch Budget-Restriktionen von Spitälern.

Letztlich haben wir selbst in Europa heute schon längst eine Form der zwei-Klassen Medizin. Das Gesundheitssystem ist schon heute nicht mehr in der Lage die "besten" und teuersten Behandlungen allen Patienten gleichermassen zur Verfügung zu stellen. Gehen wir davon aus, dass Medizin, Wissenschaft und Technologie im allgemeinen auch in den nächsten Jahren vergleichbare Fortschritte machen wie in den letzten Jahrzehnten, so wird sich dieses Problem nochmals drastisch verschärfen.

Das eingangs erwähnte Beispiel der personalisierten Medizin ist nur ein sehr deutliches und transparentes Beispiel wo der Zug hinfährt. Es ist höchst an der Zeit diese Diskussion mit offenen Karten zu führen und nicht der Bevölkerung vorzumachen, es wären unbegrenzte Ressourcen für jedermann vorhanden. Zur Zeit stecken wir den Kopf in den Sand – gleichzeitig werden die finanziellen Mittel bezogen auf immer teurere Behandlungsmöglichkeiten immer knapper. Ärzte und Krankenhausmanagement sehen sich vor dem konkreten Problem im Einzelfall entscheiden zu müssen, wie diese Mittel einzusetzen sind. Dies aber ohne klare gesetzliche und von der Gesellschaft definierte Rahmenbedingungen.

Ich denke, es bedarf keiner großen Phantasie, dass dies kein wünschenswerter Zustand ist. 

Freitag, 17. September 2010

Über Boltzmann, Götter und Atome

Ich habe vor einiger Zeit einen Artikel zum Thema Quantentheorie und "philosophische" Deutungen geschrieben. In diesem Blog-Artikel habe ich mich unter anderem daran gestossen, wie die aus meiner Sicht schlampige Verwendung von Begriffen letztlich zu Verwirrungen in der Deutung von Phänomenen führen können (Welle/Teilchen).

Ich beschäftige mich gerade mit Ludwig Boltzmann, einem der faszinierendsten Wissenschafter des 19./20. Jahrhunderts. Boltzmann hat nicht nur die klassische Physik (Mechanik), von Newton begründet, mit seiner statistischen Mechanik (Thermodynamik) zu einem eindrucksvollen Höhepunkt gebracht. Er hat auch Jahrzehnte vor Plank mit gequantelten Energiemengen gerechnet und kann daher auch als Wegbereiter der Quantentheorie betrachtet werden. Dies sind nur kleine Ausschnitte seiner vielfältigen wissenschaftlichen Beiträgen; Bedeutung hat er aber auch aufgrund seiner offenbar enormen Begabung als akademischer Lehrer erlangt. Zu seinen Schülern zählten unter anderem spätere Kapazitäten wie Svante Arrhenius (Schweden), Walter Nernst (Deutschland) sowie Paul Ehrenfest und Fritz Hasenöhrl (der selbst Lehrer Erwin Schrödingers war). Natürlich ist Boltzmann mit allen Größen der Zeit von Sommerfeld über Mach, Planck, Loschmidt, Helmholtz, Ostwald bis Einstein und vielen anderen in Kontakt gestanden.

Boltzmann setzt sich, und nun komme ich zum eigentlichen Thema, in seinen Schriften aber auch mit dem Begriff des Atoms auseinander. Er gilt ja als eine der treibenden Kräfte der aufkommenden Atomtheorie im ausgehenden 19. Jahrhundert. Dies zu einer Zeit, wo wesentliche "Wortführer" wie etwa Ernst Mach die Atomtheorie noch als bestenfalls für die Chemiker geeignet hielten, nicht aber tauglich für eine ernstzunehmende physikalische Theorie. Ähnliches trifft auch auf Max Planck zu, der erst später sozusagen von einem Anhänger Machs auf Boltzmanns Seite gewechselt ist.

Aber auch Boltzmann setzt sich mit dem Begriff des Atoms kritisch auseinander. Der Begriff stammt ja aus dem antiken Griechenland und wurde von Philosophen wie Leukipp und Demokrit eingeführt. Das griechische Wort atomos bedeutet bekanntlich unteilbar. Die Annahme dieser griechischen Philosophen war also, dass die Materie aus kleinen, nicht weiter teilbaren (atomos) Teilchen zusammengesetzt wäre. 

So sehr auch Boltzmann ein Vertreter des Atomismus war, so war ihm doch klar, dass die Unteilbarkeit und auch Unveränderlichkeit des Atoms keine vernünftigen Annahmen sind. Unteilbarkeit vielleicht ein "Grenzwert" der für bestimmte physikalische Aussagen gültig ist. Die nach 1900 entdeckte Radioaktivität, und später die Quantenmechanik gaben ihm in diesem Punkt recht. In einem Vortrag 1904 sagt Boltzmann:
"Wir werden uns nun (betreffend die Frage nach der atomistischen Zusammensetzung der Materie) nicht auf das Denkgesetzt berufen, daß es keine Grenzen der Teilung der Materie geben könne. [...] Die Rechnung ergibt nämlich, dass die Elektronen noch viel kleiner als die Atome der ponderablen Materie sind, und die Hypothese, dass die Atome aus zahlreichen Elementen aufgebaut sind, sowie verschiedene interessante Ansichten über die Art und Weise dieses Aufbaus sind heute in aller Munde. Das Wort Atom darf uns da nicht irreführen, es ist aus alter Zeit übernommen; Unteilbarkeit schreibt heute kein Physiker den Atomen zu." aus Ludwig Boltzmann. Mensch, Physiker, Philosoph, 1955
Und gerade die letzten beiden Sätze erscheinen mir besonders bedeutsam. In der Wahrnehmung vieler Menschen, auch Studenten und Wissenschaftern, wird nicht bewusst nachvollzogen, dass der Begriff Atom wie wir ihn heute verwenden mit dem Begriff Atom eines Leukipp nicht mehr sehr viel zu tun hat. Wir stimmen insofern noch überein, als die Materie aus Atomen aufgebaut ist, aber andere wesentliche Konzepte wie die Unteilbarkeit, Unveränderlichkeit haben wir längst über Bord geworfen. (Wobei auch der Begriff der Materie...) Damit hat auch der Wortursprung seinen Sinn verloren. Selbst in vielen Grundvorlesungen der Physik oder Chemie, sowie in Lehrbüchern wird der Atomismus auf die historischen Quellen bezogen, aber meist ohne die dramatischen Unterschiede in der Bedeutung des Wortes entsprechend klarzulegen.

Worte werden beibehalten, weil es bequem ist (Atom, Teilchen), weil wir sie schon kennen. Aber gerade in dem "schon kennen" steckt der Samen für Missverständnisse aller Art, wie ich schon im anderen Posting über den "Welle/Teilchen Dualismus" zum Ausdruck gebracht habe. Vor allem dann, wenn man sich jenseits von theoretischen Berechnungen und Voraussagen mit der Bedeutung, dem Wesen der Dinge auseinandersetzen möchte. Mir scheint, dass das heutige Verständnis des Atoms sich so weit von der ursprünglichen Idee entfernt hat, dass ein anderer Begriff spätestens ab der Quantenmechanik und der Entdeckung der Quarks und der vielen anderen Elementarteilchen angemessen gewesen wäre. Was ist eigentlich dieses Atom. Ein kleines festes Teilchen? Sicher nicht. Schon der Begriff des Teilchens verschwindet zusehends, und wird durch Wellenfunktionen, Energie, Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen und ähnliches aufgelöst. Es scheint, dass uns gerade dieses letzte unteilbare Teilchen zwischen den Fingern zerrinnt, sich in völlig neuen Konzepten auflöst je näher wir es betrachten.

Wir erleben immer wieder gesellschaftliche, aber auch wissenschaftliche Diskussionen die eigentlich bei näherer Betrachtung Scheindiskussionen sind – Diskussionen um Begriffe deren Substanz sich über die Jahrhunderte verflüssigt haben. Gott ist ein ebensolcher Begriff, wie Richard Dawkins treffend anmerkt. Spricht heute jemand davon "an Gott zu glauben", was bitte meint er damit? Ist der christliche Gott denn dasselbe wie Allah (haben Gläubige einer Konfession überhaupt eine eingermassen konsistente Idee an was sie glaube? ich denke nicht!), wie Thor oder gar wie Zeus? 

Welchen Sinn also macht eine solche Aussage bzw. eine Diskussion die sich um einen Begriff dreht, der eigentlich über die Jahrtausende jede konkrete Bedeutung verloren hat? Und mit Zeus sind wir wieder beim Ursprung angelangt: Sprechen wir da noch vom "guten alten" Atom? Genauso wie die "alten Griechen" mit Sicherheit ein völlig anderes Konzept der Götter hatten (ein viel entspannteres, möchte ich annehmen), so ist deren Idee des Atoms als Inspiration für die Physik des 19. Jahrhunderts tauglich, aber kaum für die moderne Physik.

Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)