Montag, 30. Dezember 2013

Das unerwartete Ende politischer Freiheit

Für mich war das Kriterium Karl Poppers, was einen Staat politisch frei macht, immer eine wesentliche Richtschnur in der Beurteilung politischer Systeme: 
"Ein Staat ist politisch frei, wenn seine politischen Institutionen es seinen Bürgern praktisch mögliche machen, ohne Blutvergießen einen Regierungswechsel herbeizuführen, falls die Mehrheit einen solchen Regierungswechsel wünscht. Oder kürzer ausgedrückt: Wir sind frei, wenn wir unsere Herrscher ohne Blutvergießen loswerden können.", Manfred Geier (Aufklärung, das europäische Projekt) zitiert Karl Popper
Die Eleganz dieses Kriterium liegt darin, dass es auf des Wesentliche reduziert ist und eigentlich bis heute Gültigkeit haben sollte. (Man mag an Staaten wie Nordkorea oder Saudi Arabien denken, die dieses Bedingung offensichtlich nicht erfüllen.) Die Entwicklungen des letzten Jahres legen aber auf sehr subtile Weise nahe, dass auch wir im Westen, nach Poppers Kriterium, keine freien politischen Staaten mehr sind.

Zwar werden in den meisten westlichen Staaten (vielleicht mit Ausnahme der USA) politische Gegner nicht mehr exekutiert, aber ein Regierungswechsel muss möglich bleiben, sonst macht das Kriterium keinen Sinn. Es fällt also die Entscheidung an einer Stelle, die vielleicht sogar Popper überrascht hätte. Denn die Beurteilung nach Popper setzt voraus, dass wir überhaupt definieren können, wer die Macht in den Händen hält, sprich: wer eigentlich regiert. Und genau dies ist uns in den letzten Jahrzehnten offensichtlich mehr und mehr entglitten. 

Es stimmt, wir wählen Politiker und Regierungen. Aber es wird immer offensichtlicher, dass diese zu Fernseh-, Facebook- und Twitter-tauglichen Marionetten verkommen. Ein politisches Deutschland sucht den Superstar, oder Container TV, wo Personen ausgebuht, herausgewählt oder "geliked" werden, wo wir aber ob des ganze Getöses übersehen, dass diese Personen immer weniger zu sagen haben. 

Sie sind Spielbälle komplexer Systeme geworden, die niemand mehr zu durchschauen in der Lage ist. Ist man aber inmitten von Freihandelsabkommen, die staatliche Autonomien ad absurdum führen oder Geheimdiensten, die jeden unserer Schritte (real wie virtuell) überwachen und gegebenenfalls auch verhindern oder verändern, nicht mehr in der Lage zu erkennen, wer die Fäden zieht, so erübrigt sich auch die Frage, ob man die Regierung (welche Regierung?) ohne Blutvergießen entfernen könnte. Wir können sicherlich Regierungen entfernen – dies passiert in stetiger Regelmässigkeit – nur diese sind, frei nach Angela Merkel, ohnedies Alternativlos in den meisten Entscheidungen. Warum sollten wir und also die Mühe überhaupt noch machen? 
"Wir sind der „Diktatur der Alternativlosigkeit“ erlegen, wie der brasilianische Gesellschaftstheoretiker Roberto Unger dies genannt hat. Wir sollen akzeptieren, dass Gmail der beste und einzig mögliche Weg zum Verschicken von E-Mails und Facebook der beste und einzig mögliche Weg zum Social-Networking sei. Nach dem NSA-Skandal hat das Vertrauen in staatliche Institutionen solch einen Tiefstand erreicht, dass alle alternativen Lösungen undenkbar erscheinen – vor allem solche, in denen staatliche Einrichtungen eine größere Rolle spielten.", Evgeny Morozov
Staatliche Autorität wiederherstellen? Facebook, Apple und Google wissen ohnedies was gut für uns ist (und in Zukunft sein wird!), und die freie Finanz- und Marktwirtschaft arbeitet, wie wir wissen, optimal im Sinne aller Bürger. Im Notfall schreibt jemand eine Smartphone-App, die uns hilft lästige Probleme wie Arbeitslosigkeit oder Klimawandel zu lösen – vielleicht in Form eines unterhaltsamen Spiels?

Es ist doch schön zu sehen, dass wir Poppers Kriterium gar nicht mehr brauchen. Alles Gute für 2014!

Samstag, 14. Dezember 2013

Physik – die "einfachere" Biologie?

Alles ist Physik?

Es herrscht heute häufig die Ansicht vor, die Physik wäre der Gold-Standard in der Wissenschaft. Pointiert formuliert wird Physik gerne als die Basis aller anderen Wissenschaften gesehen.  Dies trifft vorzugsweise natürlich für die Naturwissenschaften zu, teilweise wird sie aber auch als Modell für die Geisteswissenschaften gefordert, denen es nach manchen Kritikern an Schärfe fehlt. Alle Wissenschaften wären, dieser Logik folgend, von der Physik abgeleitete Wissenschaften. (Etwas spezifischer vielleicht von der Physik abgeleitet und wenn möglich in der Sprache der Mathematik ausgedrückt.) Chemie wäre nach diesem Bild Physik an Molekülen – alle Eigenschaften chemischer Substanzen und Reaktionen ließen sich aus fundamentalen physikalischen Prinzipien ableiten. Biologie ist Chemie und Physik mit Tieren und Pflanzen, Medizin ist Physik, Chemie und Biologie am Menschen, usw. 

Dieses Bild ist allerdings angreifbar. Zwar stimmt es, dass es keine Biologie oder Medizin gibt, die chemischen oder physikalischen Prinzipien widerspricht, der Umkehrschluss ist allerdings gewagt: nur weil sich Biologie in den Grenzen der Physik abspielt, bedeutet dies noch nicht (zwangsläufig), dass sich alle biologischen Prinzipien aus physikalischen heraus ableiten lassen. Auch die Praxis zeigt bisher die Grenzen sehr deutlich: Selbst in der Chemie (die der Physik sicherlich wesentlich näher steht als die Biologie) ist es bisher nicht gelungen, die Eigenschaften komplizierterer Moleküle und deren Reaktionen aus rein physikalischen Prinzipien heraus vorherzusagen.  

Um dies noch an einem weiteren Beispiel deutlich zu machen: Jedes (gedruckte) Buch ist durch die Eigenschaften des Mediums Buch begrenzt: es kann nur aus Text und Abbildungen bestehen, hat eine definierte Länge, eine linare, unveränderliche Struktur usw. Diesen Bedingungen muss sich jedes Werk unterwerfen. Daraus folgt jedoch nicht, dass ich jedes zukünftig erscheinende Buch aus diesen Grundprinzipien vorhersagen oder ableiten könnte. Das Medium mag begrenzt sein, erlaubt aber in der Begrenzung eine enorme Zahl an Möglichkeiten, in denen sich Autoren bewegen können. Ähnlich könnte man auch das Zusammenspiel von Physik, Biologie und Chemie sehen.

Oder andersrum: Physik ist die einfachere Biologie?

Interessant ist allerdings die Idee, den Gedanken umzudrehen: Nicht die Biologie ist eine komplexere Version der Physik, sondern vielmehr wäre die Physik ist eine einfachere (reduzierte) Form der Biologie (das Prinzip lässt sich auf alle “abgeleiteten” Wissenschaften denken)!

Auch historisch gesehen ist dies eigentlich naheliegend. Schon in der Antike haben sich die Menschen mit den komplexen Phänomenen beschäftigt: Medizin, Astronomie, Philosophie. Die damaligen Erkenntnisse haben in den meisten Fällen die Prüfung der Zeit nicht überstanden. Erst im 18., 19. und 20. Jahrhundert haben wir die fundamentaleren Prinzipien der Physik begonnen zu verstehen. Vielleicht war es eben die Ausprägung der Physik und Chemie nach der Neuzeit – und hier eigentlich das Programm des Materialismus und v.a. des Reduktionismus –, die den Weg geebnet hat.

Reduktionismus bedeutet ja, verkürzt gesagt, nichts anderes, als zu versuchen, komplexe Zusammenhänge so klein zu schneiden, bis die verbliebenen Teilprobleme vielleicht noch recht kompliziert, aber eben nicht mehr komplex sind. Voilá: die Physik ist geboren als Wissenschaft der fundamentalen Prinzipien, die gerade noch kompliziert aber gerade nicht mehr komplex sind.

Komplex oder kompliziert?

Im alltäglichen Sprachgebrauch wird gerne übersehen, dass “komplex" und “kompliziert” zwei fundamental unterschiedliche Konzepte sind. Um dies an einem Beispiel zu erläutern: eine mechanische Uhr mag äußerst kompliziert sein, komplex aber ist sie nicht. Ein Ökosystem, die Weltwirtschaft (zumal unsere hoch-vernetzte und wenig regulierte Wirtschaft) sind hochkomplexe Systeme. 

Kompliziert ist ein Begriff, der andeutet, dass man bestimmte Kompetenzen benötigt um das entsprechende System oder Ding zu verstehen. Komplizierte (aber nicht komplexe) Systeme überraschen aber nicht sondern sind – sofern man sie verstanden hat – in ihrem Verhalten klar zu beschreiben, zu verstehen und vorherzusagen.

Komplexe Systeme hingegen können sogar aus sehr einfach zu verstehenden Teilen bestehen, die aber über verschiedenste Rückkopplungen und Interaktionen zwischen eben diesen Teilen verfügen. Aus diesen Interaktionen kann komplexes Verhalten entstehen, das selbst Experten immer wieder zu überraschen vermag. Das zeitlich/dynamische Verhalten von komplizierten und komplexen Verhalten ist daher sehr unterschiedlich. Vergleichen wir die Flugbahn einer Marssonde mit einem Schachspiel. Ersteres ist sehr kompliziert zu berechnen, stellt aber für Experten heutzutage kein Problem mehr dar. Die Flugbahn ist durch Gleichungen beschreibbar und – sofern man keinen Fehler bei der Rechnung macht – präzise vorhersagbar / bestimmbar. Das Schachspiel hingegen basiert auf einfach zu verstehenden Regeln (die selbst Anfängern leichter zu erklären sind als die Prinzipien von Raumsondenflugbahnen), dennoch kann sich sehr komplexes Verhalten und Variabilität im Spiel ergeben. Viele verschiedene Figuren interagieren jeweils nach einfachen Regeln und dennoch entsteht daraus komplexes, schwer vorherzusagendes Verhalten.

Aus den aktuellen Flugdaten einer Marssonde kann ein Experte mit hoher Präzision die Flugbahn vorhersagen. Aus einer (einigermaßen ausgeglichenen) Schachposition hingegen ist es kaum möglich den weiteren Verlauf auf mehrere Züge hinweg vorherzusagen. Natürlich gibt es auch Systeme die sowohl komplex als auch kompliziert sind (dies trifft auf die meisten Wissenschaften zu; denken wir an die Medizin oder die Klimaforschung).

Physik ist einfach!

Kommen wir damit zurück zur Wissenschaft: Physik ist im Grunde genommen schon per Definition “einfach”. “Einfach” im Sinne von “nicht-komplex”, denn sehr kompliziert kann sie durchaus sein!  Die Erfolgsgeschichte liegt gerade darin nicht zu versuchen komplexe Systeme “ad hoc” zu erklären, sondern diese in immer kleinere (und weniger komplexe) Systeme zu zerlegen, diese zu verstehen und elementare Prinzipien abzuleiten, die wir auch Naturgesetze nennen. Anders gesagt: was nicht auf “einfache” und elementare Prinzipien zurückzustutzen ist, ist definitionsgemäß keine Physik mehr. Sobald es komplex wird, sprechen wir von Astronomie, Astrophysik oder Kosmologie; der Biologie, Medizin, Soziologie und Psychologie. 

Ist dies ein Vorwurf an die Physik? Natürlich nicht! Diese Trennung in fundamentale (“einfache” / nicht komplexe) Prinzipien und Phänomene, die zwar auf diesen einfachen Prinzipien beruhen aber komplexes Verhalten zeigen, hat sich wissenschaftshistorisch sehr bewährt. Ist man gewillt diesem Gedanken zu folgen, wird es aber schwierig, die Standards die sich in der Physik bewähren, auch auf die komplexeren Wissenschaften anzuwenden. Die eigentliche Frage, die nun im Raum steht, ist nicht mehr wie wir Biologie und Soziologie von den Prinzipien stärker an die Physik anlehnen, sondern wie es gelingen kann, in den komplexen Fächern hohe Standards zu gewährleisten, gerade weil sie nicht wie die Physik funktionieren. Und hohe Standards sind unbedingt notwendig, weil gerade Aussagen über Systeme großer Komplexität nicht einfach zu beurteilen sind. Entsprechend viele falsche, irreführende, unscharfe und auch unsinnige Ideen und Theorien findet man dann natürlich auch in diesen komplexen Disziplinen vor.

Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)