Freitag, 15. Juli 2011

Das Ende des Buches?

Kürzlich stellte Mike Matas ein E-Book der nächsten Generation in einem TED-Talk vor. Dabei handelt es sich um eine iOS-Anwendung, also ein Programm, das auf dem iPad und iPhone läuft. Dieses "Buch" ist eine Fortsetzung von Al Gore's Inconvenient Truth mit dem Titel Our Choice. In dem Buch, eigentlich sollte man sagen, in dem Programm gibt es verschiedenste multimediale Elemente, die uns die Problematik des Klimawandels deutlich machen soll. Ein wichtiges Thema, ein neuer Ansatz. Als Geek ist man natürlich sofort einmal von dem neuen Ansatz begeistert. Mit großem Verve stellt dann auch der Entwickler die Features dieses Buches der nächsten Generation vor. Dabei macht er im wesentlichen Werbung für seine Plattform. Wir dürfen also auf weitere Bücher dieser Art hoffen (?). Tolle Animationen beim Umblättern, eingebettete Videos und nicht zu vergessen, spielerische Elemente, wo Wissen Hands On vermittelt werden soll. Besonders begeistert zeigt er die Anwendung, wo der "Leser" in das Mikrofon des Gerätes bläst, damit sozusagen virtuellen Wind erzeugt, der dann in der Anwendung Windräder zum drehen bringt. Das hat mich natürlich sofort überzeugt. Vorher war mir nicht klar, dass Windräder durch Wind zum Drehen gebracht werden! Eine wesentliche und neue Erkenntnis.



Das Buch 2.0?

Aber ernsthafter: Handelt es sich bei diesen Anwendungen tatsächlich um das Buch 2.0? Ist das "alte" Buch – damit meine ich weniger Text auf gedrucktem Papier, als vielmehr Text, langen Text – eine aussterbende Gattung? Werden wir alle demnächst nur mehr solche multimedialen Produkte konsumieren? Je länger ich mich mit diesem Thema beschäftige, desto mehr bezweifle ich die Sinnhaftigkeit dieser Multimedia-Explosionen. Dabei möchte ich nicht falsch verstanden werden: ich habe nichts gegen Videos, Spiele, Abbildungen und Animationen, ich denke aber dass die Kombination zumindest problematisch, wenn nicht sogar kontraproduktiv ist.

Die Stärken konventionellen Lesens 

Gehen wir zunächst einen Schritt zurück. Was sind Stärken von längerem Fliesstext und, wenn man so möchte, von altmodischem Lesen, die nicht durch andere Techniken kompensiert werden können? Zunächst können wir die Lesegeschwindigkeit nach eigener Vorliebe variieren. Manche Teile eines Buches – vor allem eines Sachbuches – überfliegen wir nur, andere lesen wir langsam, mehrfach, mit Pausen. Gerade diese selbstbestimmten Pausen, Rücksprünge, Variationen des Tempos sind wesentlich, weil sie ein Reflektieren und Nachdenken ermöglichen. Dies ist beim Konsum eines Podcasts oder Videos nicht leicht möglich. Davon abgesehen, dass Videos in der Regel schneller geschnitten, und in der Produktion schon auf geringere Aufmerksamkeitsspannen entworfen sind. Auch das schlichte und beständige Format eines Textes ist für die längerfristige Arbeit mit Inhalten sehr wichtig. Sie ist leicht durchsuchbar (zumindest bei E-Books), annotierbar, und überlebt auch neue Software- und Gadget-Generationen. Ich möchte nachdrücklich bezweifeln, dass dieses neue Al Gore Buch auch in 10 Jahren noch in irgendeiner vernünftigen Form zugänglich sein wird. Ein konventionelles Buch erlaubt, oder man könnte sagen erzwingt auch die längere Beschäftigung mit einem Thema. Die Beschäftigung die in der Intensität über das Browsen und Surfen, das Anspringen und überfliegen von Informationen und YouTube Videos weit hinausgeht.

Anachronismus oder zivilisatorisches Fundament?

Sollten heutige Generationen von Jugendlichen tatsächlich das längere Lesen verlernen, so trauere ich dieser Fähigkeit nicht nur in einem nostalgischem Sinne nach. Ich denke vielmehr, dass wir eine elementare zivilisatorische Fähigkeiten verlieren würden. Eine Fähigkeit, die in Schulen zu vermitteln wesentlich wichtiger wäre als der Umgang mit Computern.

Denn dieser Umgang mit Information, die aus traditionellen Buchformaten gewonnen wird, kann meines Erachtens nach keinesfalls durch andere Formate (Video, Simulationen etc) ersetzt, durchaus aber ergänzt werden. Videos oder Podcasts können einen Einstieg, einen Überblick in ein Thema liefern, dass dann bei Interesse im Buch vertieft wird. Auch umgekehrt: bestimmte Sachverhalte lassen sich in Videos oder Animationen leichter darstellen und ergänzen damit die Basis-Information eines Buches.

Die Rache der Multimedia-CDs

Aber wo ist nun das konkrete Problem dieses "neuen" Buches. Immerhin gibt es auch in diesem Buch längere (?) Texte? Ich denke, die Kernfrage ist, ob eine Vermischung dieser verschiedenen Darstellungsformen sinnvoll ist um Inhalte zu vermitteln? Im Prinzip sind diese Applikationen das "Second Coming" der Multimedia-DVDs und CDs der 90er Jahre. Wenn wir uns zurück erinnern kann man die Produkte dieser Phase, denke ich, sehr einfach zusammenfassen: sie sind allesamt grandios gescheitert. Wir haben sie vergessen, aus der Erinnerung verdrängt, und das aus gutem Grund.

Einerseits sind diese Produkte zumeist weder Fisch noch Fleisch. Warum? Schon die Erstellung guter Texte ist enorm viel Arbeit. In einem gut recherchierten Sachbuch stecken – das weiß ich mittlerweile aus eigener Erfahrung – Jahre an Arbeit. Das Erstellen guter Animationen, Spiele oder Videos erfordert nochmals einen zumeist dramatisch unterschätzen Aufwand. Daraus folgt: wenn das Ganze nicht eine wirklich teure Produktion eines großen Teams ist, bleibt meist mindere Qualität an allen Stellen übrig. Die Konsequenz ist klar: es gibt sehr wenige einigermassen gut gemachte Produkte, die aber nur wenige, populäre Themenbereiche behandeln. Denn aufwändige Produktionen müssen sich auch gut verkaufen. Die meisten Produkte sind aber zwangsläufig eher willkürliche Kollagen zweitklassiger Videos und Animationen, zusammengehalten von fragwürdigen Texten, aber dafür mit aufwändigen grafischen Elementen und Animationen. Schliesslich will man das Ding verkaufen, und der ersten Eindruck zählt hier mehr als die Details. Ich erinnere mich noch mit Schaudern an die Qualität der Multimedia CDs. Weiters ist es sehr schwierig Konsistenz über alle diese Darstellungs-Elemente zu erreichen und diese auch für weitere Auflagen zu warten.

Systematische Verwirrung

Das alles sind aber hauptsächlich prozedurale Aspekte, es gibt noch ein viel wichtigeres grundlegendes Problem: selbst wenn das Produkt hochwertig gemacht sein sollte, und selbst wenn man kein Problem damit hat auf einem Gerät wie dem iPad konzentriert längere Texte zu lesen (was ich schon einmal stark bezweifeln möchte) ist die Struktur der Vermischung problematisch, denn audiovisuelle Elemente ziehen immer die Aufmerksamkeit auf sich. Die Folge ist, dass die Leser (die man eigentlich nicht mehr Leser nennen sollte) diese Bücher wohl bestenfalls überfliegen, und de facto nur von Video zu Video springen, denn schon reizt das nächste bunte Element. Man sieht 30 Sekunden Video hier, liest einen Satz dort und bläst in das Mikrofon um eine völlig banale Simulation zu starten. Die Meisten werden diese Anwendung wohl überhaupt nur verwenden, um dem sozialen Umfeld ihre Geek-Sein zu demonstrieren, und zu zeigen, wie "cool" Bücher heute sind (und öffnen das Ding abseits solcher Demo-Sessions überhaupt nicht mehr).

Die Problematik beobachte ich an mir selbst im Grunde schon bei reich illustrierten Büchern. Man ist fasziniert von den großformatigen Illustrationen, blättert von Seite zu Seite springt quer durch das Buch und glaubt am Ende das Buch gelesen und etwas gelernt zu haben. Tatsächlich hat man sich nur oberflächlich abgelenkt. Es scheint (Achtung: jetzt kommt eine amateur-psychologische These), dass wir als Menschen kaum in der Lage sind stark unterschiedliche Sinnesreize gleichzeitig konzentriert wahrzunehmen, beziehungsweise  schnell zwischen diesen zu wechseln. Passiert dies häufig, verlieren wir im ständigen Wechseln unsere Aufmerksamkeit. Wir springen, browsen, kommen aber nicht mehr in den Modes konzentrierter Beschäftigung mit dem Inhalt. 

Fazit

Mein Fazit daher: das Buch als Textwüste, idealerweise in gedruckter Form, oder in Form eines durch Multimedia-Spektakel-freien E-Book-Readers, hat unbedingt Zukunft. Andere Formate wie Sprach-Podcasts, Videos, Animationen, Simulationen, Vorleseungen und Vorträge, Übungen etc. haben ihren eigenen, aber anderen Wert, der aber keinesfalls in der Lage ist, Informationsvermittlung, Diskurs und Arbeit mit neuem Wissen über längere Texte zu ersetzen. Sollte das Buch tatsächlich an Bedeutung verlieren, so verlieren wir nach meiner Überzeugung nicht etwa ein anachronistisches Medium. Wir verlieren den Prozess ernsthafter Auseinandersetzung mit Wissen. Einer Auseinandersetzung, die nicht in Twitter-Geschwindigkeit (und entsprechend oberflächlich), sondern mit Argumenten erfolgt, deren Darlegung auch einmal einige Seiten in Anspruch nehmen können.

Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)