Sonntag, 26. November 2006

Die digitale Geschichtslücke und die Qualität des Vergessen

Es wird und wurde viel zum Thema "Langzeit-Archivierung" von digitalen Inhalten geschrieben. All die Probleme, die von Hardware- und Softwareseite zu erwarten sind werden diskutiert. Ein interessanter Einstieg in diese Problematik ist der Artikel von Jeff Rothenberg im Spektrum der Wissenschaft aus dem Jahr 1995: Die Konservierung digitaler Dokumente (im englischen Original im Scientific American erschienen: Ensuring the Longevity of Digital Documents, sowie als PDF hier verfügbar). In diesem Artikel wird die "konservative" Problematik beschrieben, also: wie sieht es mit Datenträgern aus, die in relativ kurzer Zeit nicht mehr funktionieren werden, mit fehlenden Lesegeräten, Hard- und Software usw.

Diese Problematik ist nachvollziehbar und kritisch, wenngleich es heute einige der Ansicht sind (im Zeitalter des überall verfügbaren Netzes), dass Daten, die einmal digitalisiert wurden im Prinzip ewig halten und verfügbar bleiben; man braucht sie ja nur mehr umzukopieren, falls das erforderlich sein sollte: die entsprechenden Tools würden immer billiger, leistungsfähiger und der Speicherplatz wäre sowieso kein Thema mehr. Im Prinzip könnten wir die Information eines gesamten Lebens aufzeichnen und weitergeben.

Der Aufwand der Publikation...

Ein wichtiger Punkt des Artikels besagt, dass dauerhafte Publikation immer einen Aufwand bedeutet hatte, der seinerseits wieder Selektion ausgelöst hat. Heute hingegen geht die Idee in die Richtung alles zu speichern, bzw. die entsprechenden Datenmengen sinnvoll nutzbar zu machen; siehe auch entsprechende Forschungsprojekte beginnend mit der Memex Idee 1945 bis zu heutigen Projekten wie Lifestreams, Simile oder MyLifeBits. (Besonders letzteres lädt zum Fürchten ein, wenn ich nicht nur meine Office Dokumente, sondern die Informationen meines ganzen Lebens von Microsoft Systemen abhängig machen soll, das nur am Rande.) [Die Microsoft Seite ist mittlerweile Offline. Hier ein Link zu der Seite auf Archive.org von 2006]

... die Dynamik der heutigen Publikationen ...

Ein weiterer Gesichtspunkt sollte nicht vergessen werden: Historisch betrachtet waren Publikationen mehr oder weniger statische Artefakte. In Stein gemeisselte Inschriften sowieso, aber auch Publiktionen anderer Art. Ein Buch ist per definitionem statisch. Es kann Varianten geben, diese sind aber üblicherweise durch entsprechende Informationen (Auflage...) gekennzeichnet.

Nun hat aber die Tatsache, dass im Internet publiziert wird ja nicht nur Dokumente virtualisiert sondern gerade die Art und Weise der Publikationen geändert: Es gibt nicht mehr statische Artefakte, es gibt Webseiten, die laufenden Änderungen unterworfen sind (und diese sind kaum nachvollziehbar), es gibt BLOGS, die wachsen, sich ändern, kommentiert und zensuriert werden, es gibt dynamische Publikationen aus Datenbanken usw.

Auch die Datenspeicherung während der Arbeit an "statischen" Artefakten ändert sich: schon heute setzen viele Versionierungssysteme wie SVN ein, und bald werden diese eine weite Verbreitung am Desktop bekommen (siehe bspw. Apples Timemachine). Ein Dokument ist eben kein Dokument mehr, sondern eine Interaktion, eine Dynamik. Neben dieser Dynamik im Lebenszyklus moderner Artefakte kommt Dynamik in Form von Logik hinzu: das kann Javascript auf einer Webseite sein, oder eine Flash Animation, eine Diashow oder eine DVD mit interaktionen (Menüs).

Wird dem Historiker des 22. Jahrhunderts die Welt der Playstation oder C64 Spiele, der Flash Animationen, oder der "Web 2.0 Anwendungen" zugänglich sein? Ich glaube kaum.

... und eine Abschweifung

Die Meinungen welche Qualität und Quantität an Information weiterleben wird reichen hier allerdings weiter bis zu Ray Kurzweil (The Singularity is near: When Humans transcend Biology), der gleich den ganzen Menschen, bzw. seine kognitive Welt in den Computer downloaden will und somit für immer aufbewahren. Nun ist Ray Kurzweil vielleicht nicht der ernstzunehmendste Teilnehmer an dieser Diskussion, aber es zeigt immerhin das Spektrum der Ideen und Ansichten.

Ich glaube hier in aller Bescheidenheit sagen zu können, dass in 500 Jahren kein Mensch mehr an "Alexander Schatten" des beginnenden 21. Jahrhunderts in allen Details interessiert sein wird. Vielleicht wird der eine oder andere von Historikern digital "ausgegraben" und analysiert, aber wer sollte dann Interesse haben die Resourcen für Milliarden von virtuellen Menschen zur Verfügung zu stellen, die vermutlich wenig konstruktiv an der realen Gesellschaft beitragen können.

Man würde vielleicht unsere intellektuellen Resourcen ausbeuten, wenn das irgendeinen Sinn machen würde; dieser Gedanke bringt einen interessanten Punkt auf: selbst wenn derartigen Möglichkeiten kommen sollten: wir (aka, unsere virtuelle Persönlichkeit) wären völlig von der Willkür der nächsten Generation abhängig, und unser "Leben" abhängig von den Resourcen die uns zur Verfügung gestellt werden: vielleicht bekommen wir Rechenleistung, wenn wir Probleme für sie lösen oder dergleichen. Da stellt sich doch die Frage ob ein solchen virtuelles "ewiges" Leben wünschenswert oder eher ein Fluch ist.

Ganz davon abgesehen, dass Leben und unser Denken in ganz massivem Umfang eine "Funktion" von Geist/Gehirn und Körper ist (sehr interessant beschreibt dies Antonio Damasio in Descartes Irrtum oder im englischen: Descartes Error). Diesem beliebte Irrum fallen leider gerade solche Menschen oft anheim, die sich selbst für spirituell halten und verschiedene Leben-nach-dem-Tod Szenarien spinnen und die eigentliche Persönlichkeit des Menschen völlig "entmaterialisiert" sehen. Dies ist ein beliebter, aber massiver Irrtum, dem ich in einem anderen Posting weiter nachgehen möchte.

So, ich habe mir wieder einmal erlaubt kräftig vom Thema abzuschweifen, aber die Gedanken fliegen zu lassen ist doch eine der wesentlichen Eigenschaften dieses Blogs, man möge also Nachsicht mit mir üben.

Dennoch: ein Fazit?!

Zusammenfassend kann man feststellen, dass sich die Historiker des 21. und 22. Jahrhunderts vermutlich mit einer gespaltenen Situation auseinandersetzen werden müssen: Einerseits wird ungeheuer viel Material einfach verloren gegangen sein, weil es eben nicht weiter kopiert und migriert worden ist, weil es zum Zeitpunkt der Erstellung als nicht wichtig erachtet wurde (wieviel wird aus jedem Schnipsel Papier das von Göthe, Mozart usw. irgendwo gefunden wird, und von ihnen selbst kaum als wesentlich erachtet wurde, heraus-analysiert). Dies ist besonders darum problematisch, weil somit vermutlich hauptsächlich "offizielles" Material übrigbleibt und nicht das oft interessantere Material aus dem persönlichen Bereich, aus dem Hintergrund.

Auf der anderen Seite wird es unfassbare Mengen an digitaler Information geben, wo natürlich auch wesentliche Informationen zu finden sein können, diese aber in schier unfassbaren Mengen an digitalem Müll untergehen werden. Wenn Speicher nichts kostet, so macht man sich auch nicht so sehr die Mühe auszusortieren und auszuwählen! Und dies ist wirklich eine historische Besonderheit: Von früheren Generationen hat Information überlebt, die mit einem gewissen (finanziellen) Aufwand aufbereitet wurde und auf dauerhafte Materialien notiert wurde (Stein, Papier, Fotos). Eben diese (finanzielle) Hürde gibt es nicht mehr. Das bedeutet: Ein Historiker in 200 Jahre, sofern er an mir interessiert ist, wird entweder fast gar nichts finden, oder Petabytes an Information in verschiedensten Formaten deren durchforsten vermutlich eine Lebensaufgabe darstellt.

Und die Metadaten?

Eine weitere Anmerkung zum Artikel sei mir noch gestattet: Das Problem der Metadaten wurde leider völlig vergessen: selbst wenn wir (so unwahrscheinlich das ist) wieder dazu übergehen würden, Datenträger auf Film etc. analog zu transferieren, so bleibt die Frage, wie diese zu katalogisieren sind. Jede moderne Bibliothek mustert die Papier-basierten Ordnungssysteme aus, und ersetzt diese durch Computersysteme. Die Konsequenz: wir haben dann wieder alles auf Mikrofilm oder ähnlichem, finden es aber möglicherweise nicht mehr, weil die wesentlichen Metadaten (die Indizes) verloren gegangen sein werden.


So bleibt die ursprüngliche Frage offen: werden wir die erste Generation sein, von der wenig bis gar nichts Relevantes überliefert werden wird? Eine Generation des digitalen Dammbruches, wo wichtiges von banalem, irrelevantem und falschem überschwemmt wird, in der es den nächsten Generationen verunmöglicht wird wesentliches von unwesentlichem und bedeutendes von unbedeutendem zu unterscheiden. Es steht zu befürchten.

Montag, 6. November 2006

Richard Dawkins, Agnostizismus, A(th/d)eismus und andere -ismen

Richard Dawkins in Science Friday

Richard Dawkins. Interessanterweise war dieses Interview im Science Friday Programm von NPR News die erste Gelegenheit für mich Dawkins zu hören. Ich habe natürlich Bücher von ihm gelesen und war sowohl von den seinen Ideen als auch vom Stil beeindruckt, aber es ist auch ein Erlebnis ihn sprechen zu hören.

Vermutlich sind viele seiner Theorien etwas überhöht, oder werden von Kritikert so gesehen, aber sie geben doch üblicherweise sehr stimmige und auch eindrucksvolle Bilder, die wenigstens zum nachdenken stimulieren (DNA als "A River out of Eden"...).

The God Delusion

Wie auch immer: das Thema dieses Interviews ist Dawkins' neuestes Buch: The God Delusion. Leider habe ich das Buch selbst noch nicht gelesen, wird aber bald folgen. Im Moment steht noch Breaking the Spell von Dawkins "amerikanischen Zwilling" Daniel Dennett im Regal und harrt dort seiner Bestimmung. Dawkins jedenfalls, vertritt in diesem Interview eine sogar für mich als Kritiker des Atheismus recht überzeugende Position des Atheismus.

Ich sah in der Stellung des Atheisten immer dieselbe Schwäche wie in der eines Gläubigen. Beide definieren sich über einen Gottesbegriff und dies ist in sich problematisch. Meiner Überzeugung nach ist der Begriff "Gott" ausgesprochen fragwürdig, und zwar auf verschiedensten Ebenen. Es beginnt mit der eigentlichen Definition, was unter "Gott" verstanden wird und dann allen aus der Gottes-Idee abgeleiteten Erscheinungen . Schon über den ersten Punkt könnte man lange diskutieren: Es reicht von überraschend volksütmlichen und offensichtlich kindlichen Vorstellungen und bis zu sehr abstrakten "intellektuellen" Vorstellungen.

Absurd oder nutzlos?

Das interessante an dieser Stelle erscheint folgendes Dilemma: Je konkreter die Gottesvorstellung ist, desto offensichtlich absurder ist sie wenn sie zu Ende gedacht wird. Je abstrakter sie aber ist (sie nähert sich dann oft einer pantheistischen Idee an) desto nutzloser wird sie aber. Ein Beispiel: gestattet man (in seinem Glaubenssystem) Gott sich in den täglichen "Ablauf der Welt" einzumischen so führt dies zu einer Menge an fragwürdigen Folgen, bspw. wäre damit das Ursache/Wirkungsprinzip der Physik und vermutlich auch viele andere Prinzipien in Frage gestellt. Nebenbei gesagt gibt es keinerlei Erkennbare Anzeichen welcher Art auch immer, dass dies irgendwo passieren würde.

Auch der freie Wille (so wie ihn besonders gläubige Menschen gerne sehen wollen) wäre damit zumindest teilweise unterwandert. Ganz davon abgesehen, dass ein in das "Tagesgeschäft" eingreifender Gott auch in ethischer Hinsicht recht fragwürdig wäre. Man müsste dann bspw. erklären, warum Gott grauenhafte Naturkatastropen zulässt, junge Mütter bei Autounfällen ums Leben kommen usw. Wir sind dann sehr schnell wieder bei mittelalterlichen Vorstellungen des strafenden und belohnenden Gottes, der im wesentlichen ein Machinstrument der jeweils regierenden Führung war. Aber dies möchte ich ein anderes Mal diskutieren.

Initialfunken

Daher greifen Gläubige heute oft auf die Annahme zurück, Gott hätte nur den Initialfunken geliefert (mit Ausnahme der "radkialen" mancher Glaubensrichtungen, die gerne auch heute noch von der "Strafe" Gottes reden, wenn tausende einer Flutwelle zum Opfern fallen). Auch der Kreationismus in neuem Gewand: Intelligent Design geht oft von dieser These aus. Aber auch dies hat einige unerfreuliche Konsequenzen, wenn man dies zu Ende denkt (was ich in einem nächsten Posting versuchen möchte). Daher wird von "aufgeklärten" Gläubigen gerne eine metaphysischere Begründung geliefert, die auf den ersten Schritt plausibler ist aber in Wahrheit von der Grundproblematik ablenken möchte: Man erklärt, Gott hätte nur die Initalzündung geliefert, die Naturgesetze definiert usw. Er hätte uns (woher wusste er eigentlich, dass wir entstehen, wenn er nur den Initialfunken gelegt hatte?) ja freien Willen gegeben, und den sollen wir doch auch nutzen.

Auch wenn dies auf den ersten Blick sehr plausible und weitsichtige Ideen zu sein scheinen, halten auch diese einer näheren Betrachtung kaum stand; sie sind im wesentlichen eine Ausflucht um die logischen Probleme zu vermeiden, die ein täglich wirkender Gott unabwendbar verursachen würde. Dazu mehr an anderer Stelle.

Es ist also zusammenfassend so, als müsse man sich zwischen einem nutzlosen aber theoretisch wenigstens plausiblen und einem "nutzbringenden" aber völlig unplausiblen Gott entscheiden.

Agnostizismus...

Mir erschien daher immer der Begriff "Gott" an sich ein sehr schwacher und hochgradig irreführender zu sein und bei näherer Betrachtung auch ein ziemlich überflüssiger. Sobald man sich seiner bedient hat man schon den ersten substantiellen Fehler begangen. Das ist, als nehme ein Pazifist an einer Diskussion teil, welche Waffe nun am ehesten zu rechtfertigen wäre. Ist er aus welchen Gründen auch immer überzeugter Pazifist, so hat er schon durch die Teilnahme an der Diskussion verloren und seiner Idee und Überzeugung substantiell geschadet. Denn es berufen sich beide Ideen: Theismus (Deismus? Dawkins unterscheidet zwischen diesen begriffen) und Atheismus auf den Begriff Gott. Erkennt man als, dass der Begriff "Gott" an sich problematisch ist und in keiner mir bekannten Anwendung mehr Sinn als Verwirrung stiftet, so relativiert sich auch eine Position die Gott verneint—eben die des Atheismus. Denn um etwas zu Verneinen, muss ich es als Entität irgendeiner Güte anerkennen. Eben dies stelle ich in Frage.

... oder doch Atheismus?

Nun muss ich zugeben, dass Dawkins sehr stark argumentiert; vielleicht werde ich die Dinge auch nach der Lektüre seines neuen Buches anders sehen, aber bis dahin wird mir der Begriff des Agnostizismus näher sein als derjenige des Atheisten. Ich halte den Agnostiker für wesentlich stärker, da er die Diskussion schon an einer früheren Stelle unterbricht, nämlich bevor Gott als Begriff zugelassen wird; eben in der frühen Erkenntnis dass ein Zulassen des Begriffen keinen erkennbaren Sinn stiftet. Lasse ich den Begriff aber zu und Streite gegen diesen (eben als Atheist) so begebe ich mich in die Gefahr mehr anzuerkennen als mir eigentlich lieb ist.

Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)