Dienstag, 30. April 2013

Politische Verantwortung und langfristiges Denken

Langfristiges Denken

Sir John Armitt kennen hierzulande vermutlich nur wenige als Verantwortlichen für die Organisation und Vorbereitung der olympischen Spiele in London. Noch weniger bekannt ist vielleicht, das hervorragende Projektmanagement dieser Spiele, die sogar die Budget-Vorgaben einhalten konnten.

Interessanter erscheint mir allerdings die derzeitige Initiative von John Armitt: Eines der gravierendsten und gleichzeitig fundamentalsten Problem, das wohl alle Demokratien derzeit teilen, ist der Mangel an langfristigem Denken. Wichtige Projekte und Entscheidungen werden in Legislaturperioden und Wahlkämpfen zermahlen, verdünnt und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Nur was sich in zwei, drei oder vier Jahren publikumswirksam darstellen lässt ist hoch auf der Agenda heutiger Politik. 

Leider sind die größten Probleme, mit denen wir konfrontiert sind gerade nicht von derartig kurzfristiger Natur, um nur einige wenige zu nennen: Klimawandel, Energieversorgung, Umbau des Wirtschafts- und Finanzsystems, Erhalt der Biodiversität. John Armitt bezeichnet die fundamentale Herausforderung wie folgt:
"[…] what is the institutional infrastructure that we would benefit from in the UK that would enable us to make better long-term decisions about our infrastructure requirements and our infrastructure policies and how can we avoid flip- flopping backwards and forwards between one government and another in terms of any policies that we may have, or indeed within one government in terms of what policy are we actually following."
Also mit anderen Worten: ist es möglich, eine Infrastruktur zu institutionalisieren, die es erlaubt bessere langfristige Entscheidungen zu treffen ohne diese bei jedem Regierungswechsel wieder aufs neue zu hinterfragen und wenig zielführend zu verändern. John Armitt definiert dabei "langfristig" als einen Zeitraum von 20–30 Jahren. Er analysiert auch ähnliche Institutionen und Prozesse in Singapur, Frankreich und Holland. 

Das Konzept ist noch in Erarbeitung, aber für mich ist schon die Diskussion in höchstem Maße relevant, weil sie den Finger genau auf den Wunden Punkt moderner Demokratien legt. In manchen elitären Kreisen wird oft hinter gar nicht mehr so vorgehaltener Hand das Ende des demokratischen Modells beschworen. Eine "sanfte" Form eines autoritären Staates könnte die Probleme der Zeit besser regeln. China würde uns den Weg in die Zukunft zeigen. Ohnedies wäre den Menschen Freiheit und Demokratie ziemlich egal, solange die Führung für eine solide ökonomische Situation sorgt.

Demokratie im Rückzugsgefecht

Tatsächlich erleben wir auch in Europa eine Demokratie im Rückzugsgefecht. Ist Terrorismus oder die Rettung des Finanzsystem an der Tagesordnung, spielt die Meinung der Bürger bei Entscheidungen keine Rolle mehr. Die von Deutschland der ganzen EU verordnete Austeritätspolitik spricht eine klare Sprache. Und letzteres, wohlgemerkt, wohl nicht aus tatsächlich politischem Kalkül heraus, sondern sich dem vermeintlichen Druck der Märkte beugend. Mit anderen Worten: kommt es zu einem Konflikt zwischen Markt und Bevölkerung, oder anders ausgedrückt zwischen wichtigen Aktoren und Bürgern, so sind wir heute schon sehr gerne bereit die "Spielerei" Demokratie bleiben zu lassen und "ernsthafte" Entscheidungen zu treffen. Da müssen wir dann halt durch. You'll thank me later...

Aber vielleicht haben die Märkte ja recht? Ist es nicht wirklich für uns alle besser, wenn Markt-Marionetten (wie die heutige politische "Elite") den dummen Massen Demokratie vorspielen, tatsächlich aber das Richtige veranlassen? Märkte wären ja letztlich nichts anderes als globale Strukturen, deren unsichtbare Hand unfehlbar (wir wir ja aus Erfahrung wissen) den richtigen Weg weist. Und wieder werden wir im Kreis gedreht und verwirrt. In dem Krisen-, Terrorismus- und Märkte-Geschwätz verlieren wir aus den Augen, warum über Jahrhunderte für Demokratie gekämpft wurde. Es ging nie in erster Linie um kurzfristigen ökonomischen Wohlstand. Mit Karl Poppers Worten: "Die Demokratie erlaubt uns, schlechte oder untüchtige tyrannische Herrscher ohne Blutvergießen loszuwerden." Wir wählen nicht in erster Linie für jemanden, sondern für das Recht jemanden vergleichsweise einfach loszuwerden. Das alleine halte ich für eine der fundamentalsten Errungenschaft moderner Gesellschaften. 

Interessanterweise wird gerade diese Grundfunktion der Demokratie von einer Seite bedroht, die vielleicht sogar Karl Popper überrascht hätte: Denn die Bedrohung kommt weniger daher, dass politische Parteien demokratische Prinzipien aushöhlen oder unterminieren würden (obwohl auch das geschieht). Um schlechte oder untüchtige Herrscher loswerden zu können muss vielmehr eine andere Voraussetzung gegeben sein: zuordenbare Verantwortung. Der Diktator, der Massenmord veranlasst, der Menschen foltert, handelt falsch, aber transparent. Die heutige Politik wird aber so verworren gestaltet, dass häufig gar nicht mehr nachvollziehbar ist, wer welche Gesetzte geschrieben hat, wer welche politischen Aktionen verantwortet. Wer sind denn bitte "Märkte"? (Noch dazu in einer Zeit, wo Groß-Investoren und Institutionen Marktpreise nach belieben manipulieren können.) Wer hat die "Terrorgefahr" eingeschätzt? Experten, Geheimdienste. Aha. Wer hat die Entscheidung über den Irak-Krieg getroffen. Der Präsident. Wirklich? Ein Mann, der den Irak kaum auf einer Landkarte gefunden hätte? Wer blockiert dringend notwendige Entscheidungen um die Klimakatastrophe in Schach zu halten. Ein republikanischer Senator, der das Schmelzen von Gletschern auf der Erde mit dem Schmelzen von Gletschern auf dem Mars vergleicht? Ein Politiker, der Wettbewerbsnachteile für Frankreich, Österreich oder Deutschland fürchtet. Wirklich? Oder ist es vielleicht eher die Kohle-, Öl-, Gas-, Waffen-, Autoindustrie, der es gelungen ist Marionetten zu installieren und uns glauben zu lassen, wir hätten eine Wahl gehabt?

Verantwortung und Schuld

Die Zuweisung von Verantwortung in komplexen Systemen ist schon prinzipiell schwierig genug. Die Demokratie hätte jedenfalls die Funktion Verantwortung von politischen Entscheidungen zu institutionalisieren und in Personen und Parteien zu fassen. Wenn wir dies nicht ernst nehmen und Entscheidungen tatsächlich intransparent in Hinterzimmern von Lobby-Organisationen fassen lassen, so haben wir die Demokratie verloren. Zuordnung von Schuld bei Fehl-Verhalten von komplexen Systemen an einzelne Stellen ist in der Regel nicht möglich. Zuordnung von Verantwortung von Entscheidungen hingegen schon. Mit anderen Worten: die am Kollaps des Finanzsystems unmittelbar schuldige Person oder konkrete Handlung mag nicht leicht zu verorten sein, und existiert vermutlich gar nicht. Die Struktur des Systems hat das massive Scheitern schon in sich getragen. Es sollte aber klar zuordenbare politische Entscheidungen geben, die eben diese Strukturen des Finanzsystems (die Regulative) verantworten. Lassen wir die Bänker selbst die Regulative schreiben und nur von Politikern darstellen, so wird Verantwortung zur Farce. Verantwortung setzt Fähigkeit und Autonomie voraus. (Übrigens ist auch die politische Entscheidung, die verantwortlichen Banken mit Steuergeldern zu retten und gleichzeitig die Manager im System zu belassen eine politische Entscheidung und ebenfalls verantwortbar. )

Als Nebenbemerkung: wir sollten die beiden Begriffe Schuld und Verantwortung nicht verwechseln. Ein Politiker kann nach bestem Wissen gehandelt haben und ist insofern verantwortlich für die Folgen der Politik, aber nicht notwendigerweise schuldig. Wenigstens die Verantwortung sollte zuordenbar sein, selbst wenn die Schuld dies nicht ist. Schuld gibt es (außer bei böswilligem Handeln) häufig gar nicht, sondern das ungünstige Ergebnis einer systemischen Dynamik wird als solche interpretiert.

Zurück an den Anfang...

Das ursprüngliche Problem bleibt ungelöst: wie gehen wir mit langfristigen Problemen um, an denen die derzeitige Politik offensichtlich scheitert. Eine Möglichkeit ist der derzeitig eingeschlagene Weg: Politik deligiert langfristige Entscheidungen tatsächlich an nicht legitimierte Stellen wie die Märkte oder Lobbies. Eine andere, das Zerreden der Probleme in (internationalen) Kommissionen und auf Konferenzen (wir denken an die Klima-Gipfel). 

Sir John Armitt schlägt eine Kommission vor, die politisch institutionalisiert ist, aber zu einem gewissen Maß entkoppelt von der Parteipolitik agieren kann. Sie interagiert mit Politikern, Wissenschaftern, Vertretern der Bevölkerung, NGOs, Industrie, trifft aber wohl letztlich eigene Entscheidungen. Diese Kommission würde nach seinen Vorstellungen (in Großbritannien) direkt dem Parlament berichten/unterstehen und sich in 10-Jahresintervallen einer fundamentalen Prüfung  unterziehen lassen. Ob diese Kommission über eigene Mittel verfügt oder nur in beratender Funktion tätig ist, steht ebenfalls zur Debatte.

Ebenso offen ist aus meiner Sicht — und damit zurück zur Verantwortung — wie uns der Spagat gelingen soll, Institutionen zu schaffen, die in der Lage sind, langfristiges Denken in den politischen Diskurs zu bringen und dabei weder tagespolitischem Kleingeld zum Opfer zu fallen, noch die Form einer unkontrollierbaren und damit nicht-verantwortbaren Schattenregierung einzunehmen. Dies ist für mich eine Grundfrage der politischen Weiterentwicklung unserer Systeme. Lösen wir sie nicht, delegieren wir sie implizit an Akteure, die wir weder genau zuordnen und damit nicht zur Verantwortung ziehen können. Noch grundsätzlicher gefragt: Wäre eine solche Kommission bereits ein Gegenvorschlag zur Demokratie? Denn notwendige Autonomie steht im Gegensatz zu regelmässig ausgeübter Demokratie. Aber vielleicht ist unsere Demokratie zwar geeignet lokale, regionale Probleme zu lösen (und unsere Strukturen im Grunde auf diese Probleme ausgerichtet), muss aber an globalen, langfristigen Problemen scheitern? Was aber ist dann die Alternative?

Andererseits müssen wir uns vielleicht darüber gar nicht den Kopf zerbrechen, denn solche strukturellen Änderungen benötigen in der Regel die Zustimmung über Parteigrenzen hinweg. Die Konservativen in Großbritannien verweigern zur Zeit schon die Kooperation; somit wird diese Kommission vielleicht nie das Stadium eines Konzeptes verlassen. Und, wozu eine gegenseitige Blockade politischer Kräfte fähig ist, sehen wir derzeit in den USA. Ist dies die "Demokratie" der Zukunft?

Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)