Montag, 30. Dezember 2013

Das unerwartete Ende politischer Freiheit

Für mich war das Kriterium Karl Poppers, was einen Staat politisch frei macht, immer eine wesentliche Richtschnur in der Beurteilung politischer Systeme: 
"Ein Staat ist politisch frei, wenn seine politischen Institutionen es seinen Bürgern praktisch mögliche machen, ohne Blutvergießen einen Regierungswechsel herbeizuführen, falls die Mehrheit einen solchen Regierungswechsel wünscht. Oder kürzer ausgedrückt: Wir sind frei, wenn wir unsere Herrscher ohne Blutvergießen loswerden können.", Manfred Geier (Aufklärung, das europäische Projekt) zitiert Karl Popper
Die Eleganz dieses Kriterium liegt darin, dass es auf des Wesentliche reduziert ist und eigentlich bis heute Gültigkeit haben sollte. (Man mag an Staaten wie Nordkorea oder Saudi Arabien denken, die dieses Bedingung offensichtlich nicht erfüllen.) Die Entwicklungen des letzten Jahres legen aber auf sehr subtile Weise nahe, dass auch wir im Westen, nach Poppers Kriterium, keine freien politischen Staaten mehr sind.

Zwar werden in den meisten westlichen Staaten (vielleicht mit Ausnahme der USA) politische Gegner nicht mehr exekutiert, aber ein Regierungswechsel muss möglich bleiben, sonst macht das Kriterium keinen Sinn. Es fällt also die Entscheidung an einer Stelle, die vielleicht sogar Popper überrascht hätte. Denn die Beurteilung nach Popper setzt voraus, dass wir überhaupt definieren können, wer die Macht in den Händen hält, sprich: wer eigentlich regiert. Und genau dies ist uns in den letzten Jahrzehnten offensichtlich mehr und mehr entglitten. 

Es stimmt, wir wählen Politiker und Regierungen. Aber es wird immer offensichtlicher, dass diese zu Fernseh-, Facebook- und Twitter-tauglichen Marionetten verkommen. Ein politisches Deutschland sucht den Superstar, oder Container TV, wo Personen ausgebuht, herausgewählt oder "geliked" werden, wo wir aber ob des ganze Getöses übersehen, dass diese Personen immer weniger zu sagen haben. 

Sie sind Spielbälle komplexer Systeme geworden, die niemand mehr zu durchschauen in der Lage ist. Ist man aber inmitten von Freihandelsabkommen, die staatliche Autonomien ad absurdum führen oder Geheimdiensten, die jeden unserer Schritte (real wie virtuell) überwachen und gegebenenfalls auch verhindern oder verändern, nicht mehr in der Lage zu erkennen, wer die Fäden zieht, so erübrigt sich auch die Frage, ob man die Regierung (welche Regierung?) ohne Blutvergießen entfernen könnte. Wir können sicherlich Regierungen entfernen – dies passiert in stetiger Regelmässigkeit – nur diese sind, frei nach Angela Merkel, ohnedies Alternativlos in den meisten Entscheidungen. Warum sollten wir und also die Mühe überhaupt noch machen? 
"Wir sind der „Diktatur der Alternativlosigkeit“ erlegen, wie der brasilianische Gesellschaftstheoretiker Roberto Unger dies genannt hat. Wir sollen akzeptieren, dass Gmail der beste und einzig mögliche Weg zum Verschicken von E-Mails und Facebook der beste und einzig mögliche Weg zum Social-Networking sei. Nach dem NSA-Skandal hat das Vertrauen in staatliche Institutionen solch einen Tiefstand erreicht, dass alle alternativen Lösungen undenkbar erscheinen – vor allem solche, in denen staatliche Einrichtungen eine größere Rolle spielten.", Evgeny Morozov
Staatliche Autorität wiederherstellen? Facebook, Apple und Google wissen ohnedies was gut für uns ist (und in Zukunft sein wird!), und die freie Finanz- und Marktwirtschaft arbeitet, wie wir wissen, optimal im Sinne aller Bürger. Im Notfall schreibt jemand eine Smartphone-App, die uns hilft lästige Probleme wie Arbeitslosigkeit oder Klimawandel zu lösen – vielleicht in Form eines unterhaltsamen Spiels?

Es ist doch schön zu sehen, dass wir Poppers Kriterium gar nicht mehr brauchen. Alles Gute für 2014!

Samstag, 14. Dezember 2013

Physik – die "einfachere" Biologie?

Alles ist Physik?

Es herrscht heute häufig die Ansicht vor, die Physik wäre der Gold-Standard in der Wissenschaft. Pointiert formuliert wird Physik gerne als die Basis aller anderen Wissenschaften gesehen.  Dies trifft vorzugsweise natürlich für die Naturwissenschaften zu, teilweise wird sie aber auch als Modell für die Geisteswissenschaften gefordert, denen es nach manchen Kritikern an Schärfe fehlt. Alle Wissenschaften wären, dieser Logik folgend, von der Physik abgeleitete Wissenschaften. (Etwas spezifischer vielleicht von der Physik abgeleitet und wenn möglich in der Sprache der Mathematik ausgedrückt.) Chemie wäre nach diesem Bild Physik an Molekülen – alle Eigenschaften chemischer Substanzen und Reaktionen ließen sich aus fundamentalen physikalischen Prinzipien ableiten. Biologie ist Chemie und Physik mit Tieren und Pflanzen, Medizin ist Physik, Chemie und Biologie am Menschen, usw. 

Dieses Bild ist allerdings angreifbar. Zwar stimmt es, dass es keine Biologie oder Medizin gibt, die chemischen oder physikalischen Prinzipien widerspricht, der Umkehrschluss ist allerdings gewagt: nur weil sich Biologie in den Grenzen der Physik abspielt, bedeutet dies noch nicht (zwangsläufig), dass sich alle biologischen Prinzipien aus physikalischen heraus ableiten lassen. Auch die Praxis zeigt bisher die Grenzen sehr deutlich: Selbst in der Chemie (die der Physik sicherlich wesentlich näher steht als die Biologie) ist es bisher nicht gelungen, die Eigenschaften komplizierterer Moleküle und deren Reaktionen aus rein physikalischen Prinzipien heraus vorherzusagen.  

Um dies noch an einem weiteren Beispiel deutlich zu machen: Jedes (gedruckte) Buch ist durch die Eigenschaften des Mediums Buch begrenzt: es kann nur aus Text und Abbildungen bestehen, hat eine definierte Länge, eine linare, unveränderliche Struktur usw. Diesen Bedingungen muss sich jedes Werk unterwerfen. Daraus folgt jedoch nicht, dass ich jedes zukünftig erscheinende Buch aus diesen Grundprinzipien vorhersagen oder ableiten könnte. Das Medium mag begrenzt sein, erlaubt aber in der Begrenzung eine enorme Zahl an Möglichkeiten, in denen sich Autoren bewegen können. Ähnlich könnte man auch das Zusammenspiel von Physik, Biologie und Chemie sehen.

Oder andersrum: Physik ist die einfachere Biologie?

Interessant ist allerdings die Idee, den Gedanken umzudrehen: Nicht die Biologie ist eine komplexere Version der Physik, sondern vielmehr wäre die Physik ist eine einfachere (reduzierte) Form der Biologie (das Prinzip lässt sich auf alle “abgeleiteten” Wissenschaften denken)!

Auch historisch gesehen ist dies eigentlich naheliegend. Schon in der Antike haben sich die Menschen mit den komplexen Phänomenen beschäftigt: Medizin, Astronomie, Philosophie. Die damaligen Erkenntnisse haben in den meisten Fällen die Prüfung der Zeit nicht überstanden. Erst im 18., 19. und 20. Jahrhundert haben wir die fundamentaleren Prinzipien der Physik begonnen zu verstehen. Vielleicht war es eben die Ausprägung der Physik und Chemie nach der Neuzeit – und hier eigentlich das Programm des Materialismus und v.a. des Reduktionismus –, die den Weg geebnet hat.

Reduktionismus bedeutet ja, verkürzt gesagt, nichts anderes, als zu versuchen, komplexe Zusammenhänge so klein zu schneiden, bis die verbliebenen Teilprobleme vielleicht noch recht kompliziert, aber eben nicht mehr komplex sind. Voilá: die Physik ist geboren als Wissenschaft der fundamentalen Prinzipien, die gerade noch kompliziert aber gerade nicht mehr komplex sind.

Komplex oder kompliziert?

Im alltäglichen Sprachgebrauch wird gerne übersehen, dass “komplex" und “kompliziert” zwei fundamental unterschiedliche Konzepte sind. Um dies an einem Beispiel zu erläutern: eine mechanische Uhr mag äußerst kompliziert sein, komplex aber ist sie nicht. Ein Ökosystem, die Weltwirtschaft (zumal unsere hoch-vernetzte und wenig regulierte Wirtschaft) sind hochkomplexe Systeme. 

Kompliziert ist ein Begriff, der andeutet, dass man bestimmte Kompetenzen benötigt um das entsprechende System oder Ding zu verstehen. Komplizierte (aber nicht komplexe) Systeme überraschen aber nicht sondern sind – sofern man sie verstanden hat – in ihrem Verhalten klar zu beschreiben, zu verstehen und vorherzusagen.

Komplexe Systeme hingegen können sogar aus sehr einfach zu verstehenden Teilen bestehen, die aber über verschiedenste Rückkopplungen und Interaktionen zwischen eben diesen Teilen verfügen. Aus diesen Interaktionen kann komplexes Verhalten entstehen, das selbst Experten immer wieder zu überraschen vermag. Das zeitlich/dynamische Verhalten von komplizierten und komplexen Verhalten ist daher sehr unterschiedlich. Vergleichen wir die Flugbahn einer Marssonde mit einem Schachspiel. Ersteres ist sehr kompliziert zu berechnen, stellt aber für Experten heutzutage kein Problem mehr dar. Die Flugbahn ist durch Gleichungen beschreibbar und – sofern man keinen Fehler bei der Rechnung macht – präzise vorhersagbar / bestimmbar. Das Schachspiel hingegen basiert auf einfach zu verstehenden Regeln (die selbst Anfängern leichter zu erklären sind als die Prinzipien von Raumsondenflugbahnen), dennoch kann sich sehr komplexes Verhalten und Variabilität im Spiel ergeben. Viele verschiedene Figuren interagieren jeweils nach einfachen Regeln und dennoch entsteht daraus komplexes, schwer vorherzusagendes Verhalten.

Aus den aktuellen Flugdaten einer Marssonde kann ein Experte mit hoher Präzision die Flugbahn vorhersagen. Aus einer (einigermaßen ausgeglichenen) Schachposition hingegen ist es kaum möglich den weiteren Verlauf auf mehrere Züge hinweg vorherzusagen. Natürlich gibt es auch Systeme die sowohl komplex als auch kompliziert sind (dies trifft auf die meisten Wissenschaften zu; denken wir an die Medizin oder die Klimaforschung).

Physik ist einfach!

Kommen wir damit zurück zur Wissenschaft: Physik ist im Grunde genommen schon per Definition “einfach”. “Einfach” im Sinne von “nicht-komplex”, denn sehr kompliziert kann sie durchaus sein!  Die Erfolgsgeschichte liegt gerade darin nicht zu versuchen komplexe Systeme “ad hoc” zu erklären, sondern diese in immer kleinere (und weniger komplexe) Systeme zu zerlegen, diese zu verstehen und elementare Prinzipien abzuleiten, die wir auch Naturgesetze nennen. Anders gesagt: was nicht auf “einfache” und elementare Prinzipien zurückzustutzen ist, ist definitionsgemäß keine Physik mehr. Sobald es komplex wird, sprechen wir von Astronomie, Astrophysik oder Kosmologie; der Biologie, Medizin, Soziologie und Psychologie. 

Ist dies ein Vorwurf an die Physik? Natürlich nicht! Diese Trennung in fundamentale (“einfache” / nicht komplexe) Prinzipien und Phänomene, die zwar auf diesen einfachen Prinzipien beruhen aber komplexes Verhalten zeigen, hat sich wissenschaftshistorisch sehr bewährt. Ist man gewillt diesem Gedanken zu folgen, wird es aber schwierig, die Standards die sich in der Physik bewähren, auch auf die komplexeren Wissenschaften anzuwenden. Die eigentliche Frage, die nun im Raum steht, ist nicht mehr wie wir Biologie und Soziologie von den Prinzipien stärker an die Physik anlehnen, sondern wie es gelingen kann, in den komplexen Fächern hohe Standards zu gewährleisten, gerade weil sie nicht wie die Physik funktionieren. Und hohe Standards sind unbedingt notwendig, weil gerade Aussagen über Systeme großer Komplexität nicht einfach zu beurteilen sind. Entsprechend viele falsche, irreführende, unscharfe und auch unsinnige Ideen und Theorien findet man dann natürlich auch in diesen komplexen Disziplinen vor.

Sonntag, 15. September 2013

Freiheit und Unfreiheit

Willensfreiheit wurde in den letzten 10 Jahren in den Medien, im Feuilleton, bei Suhrkamp und Spektrum der Wissenschaft auf und ab diskutiert. Was bleibt nach dieser Diskussion? Ein äußerst schaler Nachgeschmack. Bei mir jedenfalls. Das allermeiste blieb oberflächlich oder ist schon in den ersten Sätzen, meist semantisch, untergegangen. Selbst vermeintlich hochkarätige Experten verlieren sich gerne in der Bedeutung der Worte, beziehungsweise wollen nicht erkennen, dass es keinen Sinn macht über Willensfreiheit zu diskutieren, wenn der Begriff "freier Wille" nachgerade beliebig ist, weil jeder der Diskutanten etwas anderes darunter versteht. Wenn dann noch dazu Experimente der Hirnforschung naiv interpretiert werden und andere von einem feststehenden Ergebnis ("es gibt freien Willen" – alles andere wäre ungehörig und unvorstellbar, so haben wir es schon im Kindergarten  oder in der Kirche gelernt) auf die Prämisse schließen, so ist kaum relevante Erkenntnis zu erwarten. 

Bemerkenswert erscheint, dass Schopenhauer bereits vor rund 200 Jahren den Kern des Problems  wohl besser verstanden hat, als die allermeisten heutigen Wortspender. Vielen Dank an Matthias Eckoldt (aktuelle SWR2 Aula – Transkript):
"Ich bin frei, wenn ich tun kann, was ich will. Wenn ich will, kann ich mein Geld den Armen geben, sagte der philosophische Experte des Willens, Arthur Schopenhauer. Natürlich kann man so etwas tun, wenn man es will, aber eben nur, wenn man es will. Schopenhauer weiter: „Aber ich vermag nicht es zu wollen. Hingegen wenn ich einen anderen Charakter hätte, dann würde ich es wollen können: Dann würde ich auch nicht umhin können, es zu wollen, würde es also tun müssen.“ […] In seinem Gedankenexperiment sieht man schön die zwei Dimensionen des Problem der Freiheit. Einerseits gibt es da die Handlungsfreiheit – man könnte machen, was man will – und andererseits die Willensfreiheit – man kann nur machen, was man will. So ist uns Menschen zwar eine äußere Freiheit als Möglichkeitsraum von Handlungen gegeben, wir verfügen aber nicht über die innere Freiheit, unseren Willen nach Gutdünken zu beherrschen."
Ergänzend möchte ich den in eine sehr ähnliche Richtung gehenden Beitrag von Bettina Walde erwähnen: Ein Fingerschnipsen ist noch keine Partnerwahl. Ein Gespräch in Hirnforschung und Willensfreiheit, Christian Geyer (Hg.), Suhrkamp (2004)

Freitag, 23. August 2013

Wir Internet-Versteher - Eine Polemik


Eine geladene Pistole liegt auf dem Tisch. Der Tisch inmitten einer Schar zehnjähriger Kinder.

Foto von lanier67(flickr)

Wäre irgendjemand überrascht, wenn Minuten später eines der Kinder mit der Waffe spielen und unabsichtlich einen Spielkameraden oder sich selbst erschießen würde? Kaum. Die Ausgangslage trägt die Katastrophe bereits in sich. Natürlich ist dies ein extremes Beispiel, auch wenn es leider immer wieder vorkommt. Erst vor wenigen Monaten waren amerikanische Familien in den Schlagzeilen, deren Kinder Vater oder Spielkameraden erschossen haben.

Was hier so offensichtlich scheint, übersehen wir in anderen, an und für sich ebenso offensichtlichen Situationen. Die Begeisterung ob neuer Möglichkeiten versperrt uns die Sicht. Innovatoren sind meist Idealisten. Sie sehen positiven Aspekte und blenden die Gefahren aus. 

***

Treten wir etwa 30 Jahre zurück. Wir beginnen die Computer der Welt mit Datennetzen zu verbinden. Eines dieser Netzwerke war das Arpanet und später daraus hervorgehend das Internet. Zugegeben, das waren (wie so viele Forschungsinitiativen in den USA) militärische Projekte; dennoch waren von Anfang an "Hippie-Hackern" höchst einflussreich. Die Idee einer Bottom-Up Demokratisierung, die daraus in späteren Jahrzehnten, vor allem in den 90ern gewachsen ist, war verlockend wie kaum ein anderes Projekt seit der Aufklärung.

Ich selbst war angesteckt von der Goldgräberstimmung der 90er Jahre. Freie Meinungsäußerung. Open Source und Open Protocol. Damit wird das Netz zu einer Plattform für jedermann. Neue Projekte ohne extrem teure Lizenzen an Microsoft, IBM oder Oracle. Gleichberechtigung aller Anbieter (heute auch Netz-Neutralität genannt). Kein Zwang einen Verlag oder eine Zeitschrift zu suchen, die einen Artikel publiziert, einen Radiosender, der einen Bericht ausstrahlt.

Was könnte man hier nicht mögen? Vieles hat sich tatsächlich zum positiven verändert.

Heute herrscht – jedenfalls bei mir – Katerstimmung. Das Internet ist, so könnte man es ganz vereinfacht ausdrücken, in der Unterschichtslogik von RTL, Bild, Krone und Heute angelangt. Der Großteil der (tatsächlich konsumierten) Angebote stammt nur aus wenigen Quellen (wenngleich es die PSYs natürlich gibt). Die Qualität des Crowdsourcing erkennt man jederzeit, wenn man Kommentare unter Artikeln liest. Hier muss man nicht Heise-Foren oder YouTube bemühen. Auch Die Zeit oder der Guardian sind ausreichend desillusionierend. Gut, es gab immer eine große Zahl dummer Menschen. Nur scheint es, dass das Internet gerade auch den Zurückgebliebenen und Spinnern nie dagewesene Möglichkeiten bietet (von wegen, Computer sind kompliziert zu benutzen...).

Aber das ist nur ein (ärgerlicher) Nebenschauplatz. Viel wichtiger: die Freiheit der Graswurzel-Aktivisten wurde zum unmittelbaren Instrument staatlicher, nein, globaler Überwachung und Unterdrückung. Wir klären eben nicht nur auf (als Aktivisten) sondern werden auch Teil der staatlichen Aufklärung und sind besser überwacht und kontrolliert als je zu vor. Und das nicht nur in der "Achse des Bösen". Ironischerweise sind die Epizentren der Unterwanderung der Aufklärung, der Anti-Demokratie die früheren Vorbilder parlamentarischer Demokratie: die USA und Großbritannien.

Wie günstig, dass alle großen Internet-Dienste in den USA betrieben werden. Da geht das Abschnorcheln auf dem kurzen Dienstweg.

Auch wird die US-Industrie nichts dagegen einzuwenden haben, wenn unter dem Deckmantel der "Terror"-Bekämpfung großflächig für sie (noch dazu kostenschonend mit Steuermitteln) Industriespionage betrieben wird.

Und die Politiker? Da brauchen wir uns keine Sorgen machen. Die kennt niemand mehr. Die Drehbücher der Politik werden in den Schatten-Organisationen der Geheimdienste und der finanzstarken Industrien geschrieben. Obama und Co haben dann die ehrenwerte Aufgabe diese publikumswirksam zu inszenieren. Bei der Aufmerksamkeitsspanne der Wählerschaft ist auch keine Investition in begabte Autoren erforderlich. Der Praktikant schreibt die Rede in der Mittagspause. Für  Pofalla reicht das allemal. Wir wissen jetzt: die Diskussion ist vom Tisch. Denn man hat eh auch mit der NSA gesprochen, und es hat sich als ein großer Irrtum herausgestellt. Puh. Glück gehabt. Und außerdem: die USA hat sogar ein Fax geschickt, dass man ganz sicher nicht mehr spionieren wird.

Ehrenwort!

***

Zurück zum Anfang. Am meisten ärgert mich, dass diese Entwicklung absolut vorhersehbar war. Seit Anfang der 90er Jahre. Selten waren Intellektuelle und Nerds so naiv wie in den letzten zwanzig Jahren. Haben wir gelacht. Über die Internet-Ausdrucker. Aber von wegen, Internet-Versteher. Das Lachen bleibt jetzt im Hals stecken. Es stellt sich heraus: die wahren Internet-Checker sind Merkel, Cameron, Obama und Co. Es tut weh das so spät zu erkennen.

Aber wir lassen unsere Vision einer glorreichen Netz-Zukunft keinesfalls stören! Von den Piraten lernen wir endlich, wie man als Digital Native das Netz zu nutzen hat um Politik zu machen. Diesmal aber richtig!  Nicht so wie die alten Knacker. Von Amazon lernen wir, wie man steuer-, dafür aber weniger Mitarbeiterschonend im Web 2.0 Geschäfte zu machen hat. Und die Hackerclubs erklären die richtige Verwendung des Alu-Hutes. Und so sitzt in irgendeinem Keller in Berlin ein Hacker und "kommuniziert" mit einem anderen Hacker in einem anderen Keller in einer anderen Metropole, sagen wir, in Graz, verschlüsselt mit PGP. Diese beiden haben zwar nichts relevantes zu besprechen (Hacker, wie gesagt), aber erledigen dies immerhin auf höchstem Sicherheitsniveau.

Draußen in der Welt teilen Bürger tatsächlich vertrauliche Informationen über Facebook und Skype. Vor PGP fürchten sie sich zurecht, denn bekanntlich ist das ein Gift, das in den 70er Jahren verboten wurde und das man mittlerweile schon im Fett von Pinguinen nachweisen kann.

Die Visionen der Keller haben das Tageslicht nicht überlebt. Was Visionäre als verteiltes, demokratisches Informationsnetzwerk verstanden haben, hat sich den Realitäten traditioneller Ökonomie und etablierten Geheimdiensten schneller gebeugt als wir unseren Eltern Smartphones aufschwatzen konnten. Verteilt? War einmal: Cloud Computing, Facebook, YouTube, Google. Jeder hat eine Stimme? Schon. Die will nur niemand hören. Die größte Bibliothek der Welt wollten wir wir schaffen. Bekommen haben wir Wikipedia. Freiheit und Demokratie wollten wir voranbringen. Bekommen haben minutenaktuelle Berichte intimster Details unseres Lebens in den Rechenzentren von Google, Amazon, Facebook und vieler, vieler Geheimdienste und Behörden.  Man kann getrost feststellen: ein voller Erfolg.

***

In Ordnung. Die Alu-Hüte haben gewonnen. Zurück zum Telefon. Packen wir die Fax-Geräte wieder aus! — aber moment, die stabilen und redundanten Telefonnetze haben wir ja auch weg-innoviert, weil IP ja total die Zukunft war. Gestern. 


Schöne neue Welt.

Sonntag, 30. Juni 2013

Verhaltensauffällige Eliten im Angesicht des Unterganges

Ergänzend zu meinem letzten Posting "Die Welt in 2050" noch ein Zitat von Jared Diamond aus Kollaps:
"Und wie die Häuptlinge der Osterinsel, die immer größere Statuen errichteten und sie am Ende noch mit den pukao krönten, oder wie die Herrscher der Anasazi, die sich mit Halsketten aus 2000 Türkisperlen schmückten, so wollten auch die Mayakönige sich mit immer größeren, mit immer eindrucksvolleren Tempeln gegenseitig übertreffen. Die Tempel waren mit immer dickerem Verputz bedeckt – und das wiederum erinnert durchaus an den auffälligen Konsum heutiger amerikanischer Spitzenmanager. Vervollständigt wird unsere Liste der beunruhigenden Parallelen durch die Untätigkeit der Häuptlinge auf der Osterinsel und der Mayakönige angesichts echter, großer Gefahren, die ihre jeweiligen Gesellschaften bedrohten."
Ein interessanter Gedanke: während ihre jeweiligen Gesellschaften dem Untergang entgegensteuern, werden die "Eliten" zunehmend verhaltensauffällig, nutzen die letzten Ressourcen zur eigenen Dekoration, bleiben der drohenden Gefahr gegenüber aber im wesentlichen untätig.

Sonntag, 9. Juni 2013

Die Welt um 2050 – eine Aufforderung zur Diskussion

Singularisten und andere Scharlatane

Was soll dieses Posting? Gute Frage, daher vorweg ein paar Anmerkungen: Ich halte wenig von Propheten, Singularisten, den meisten "Zukunftsforschern" und anderen Scharlatanen, die uns erklären wollen, wie die Welt in 30, 50, 100 Jahren aussehen wird. Es gibt viel zu viele Einflussfaktoren, die die Entwicklung in eine jeweils völlig andere Richtung treiben könnten. Entsprechend viel Unsinn finden wir in diesem Bereich. Die meisten Akteure sind Selbstdarsteller, die zumeist sich selbst vermarkten wollen. Daher überrascht es kaum, dass Vorhersagen über die heutige Zeit, etwa vom Anfang des 20. Jahrhunderts, in den meisten Fällen kaum zutreffend sind. Sehr häufig wird der kurzfristige Effekt neuer Entwicklungen weit überschätzt und die langfristigen Effekte unterschätzt. Auch ist es oftmals überraschend, wie wenig sich manche Dinge über lange Zeiträume hinweg verändern.

Szenarien als Entscheidungsgrundlage

Das bedeutet aber nicht, dass ich es für eine schlechte Idee halte, sich mit möglichen und wahrscheinlichen Entwicklungen auseinanderzusetzen. Hier gibt es feine, aber wichtige Unterschiede. Im ersten Fall sprechen selbsternannte Propheten, die uns erklären, wie die Zukunft sein (oder nicht sein) wird. Im zweiten Fall analysieren wir ernsthaft die aktuelle Situation, Probleme, Risiken, Herausforderungen, Forschung und Trends, die sehr wohl absehbar sind, und überlegen uns (auf der Basis verschiedener Szenarien und nicht eindimensionaler Prognosen) mit welchen Entwicklungen wir zu rechnen haben. Dies bedeutet nicht, dass die identifizierten Trends sich fortsetzen müssen oder dass Risiken schlagend werden – denn in vielen Fällen haben wir die Wahl gegenzusteuern. Um aber entsprechende Entscheidungsgrundlagen zu haben, ist es notwendig die großen Trends und Risiken und deren wahrscheinliche Konsequenzen ("business as usual") zu identifizieren und zu verstehen. Natürlich gilt auch hier, dass die Unsicherheiten groß sind. Der Szenario-basierte Ansatz versucht nicht  unbedingt vorherzusagen, wie die Situation in der Zukunft genau sein wird, sondern wie sie wahrscheinlich sein wird, wenn bestimmte Rahmenbedingungen gelten. Daher können auch verschiedene Szenarien nebeneinander stehen, die bestimmte wahrscheinliche Entwicklungen unter bestimmten Rahmenbedingungen darstellen.

Ein Beispiel: Wenn ich mit 100km auf eine Klippe zufahre und noch 2 km entfernt bin, so ist es für einen externen Beobachter nicht vorherzusagen, ob ich abstürzen werde, oder nicht. Dies ist es aber, was die genannten Pseudowissenschafter versuchen. Allerdings kann ich verschiedene plausible Szenarien darlegen. Ich kann beispielsweise vorhersagen, dass das Auto zerstört werden und der Fahrer mit größter Wahrscheinlichkeit sterben wird, wenn das Auto nicht bremst und über die Klippe stürzt. Ich kann ebenfalls anhand der Automarke, des Untergrundes und der Geschwindigkeit recht genau abschätzen, wann der letzte Zeitpunkt ist, zu dem noch gebremst werden kann um den Absturz zu verhindern. Mit anderen Worten, ich kann mit ziemlicher Präzision den Point of no Return berechnen, den Punkt also, ab dem selbst eine Vollbremsung den Absturz nicht mehr vermeiden kann. Dies ist Szenario-Entwicklung einer recht einfachen Problemstellung.

Ebenso können wir bestimmte Entwicklungen unter bestimmten Rahmenbedingungen (etwa, dass es keine massiven Katastrophen wie Atomkriege, Totalkollaps der Wirtschaft oder Asteroideneinschläge gibt) der Welt abschätzen: etwa die Bevölkerungsentwicklung, Energiebedarf, Rohstoffbedarf usw. Trotz aller Unsicherheiten: selbst wenn diese Szenarien keine Vorhersage darstellen, so machen sie doch deutlich, mit welchen Entwicklungen wir zu rechnen haben, wenn wir bestimmte Entscheidungen treffen (oder nicht treffen).

Vorwort zu den Szenarien

"Wir haben es heute mit den gleichem Umweltproblemen zu tun, die auch frühere Gesellschaften zu Fall brachten, und zusätzlich kommen vier weitere hinzu: vom Menschen verursachter Klimawandel, Anhäufung von Umweltgiften, Energieknappheit und die vollständige Nutzung der weltweiten Photosynthesekapazität durch den Menschen. Die meisten dieser [...] Gefahren werden den Voraussagen zufolge in den kommenden Jahrzehnten eine kritische Phase erreichen: Entweder haben wir die Probleme bis dahin gelöst, oder die Probleme werden nicht nur Somalia zugrunde richten, sondern auch die Gesellschaft in den Industriestaaten. Wahrscheinlicher als ein Weltuntergangsszenario, in dem die Menschen aussterben oder die industrielle Zivilisation einen apokalyptischen Zusammenbruch erlebt, ist eine Zukunft mit 'nur' erheblich geringerem Lebensstandard, einer größeren ständigen Gefährdung und dem Verfall dessen, was wir heute für unsere zentralen Werte halten. Ein solcher Zusammenbruch kann sich in verschiedenen Formen ereignen, beispielsweise durch die weltweite Verbreitung von Krankheiten oder aber durch Kriege, die ihre Ursachen letztlich in der Knappheit der Umweltressourcen haben. Wenn diese Überlegung richtig ist, bestimmen wir mit unseren heutigen Bemühungen über den Zustand der Welt, in der die Generation der derzeitigen Kinder und jungen Erwachsenen in ihren mittleren und späteren Jahren leben wird.", Jared Diamond, Kollaps

Ich habe mich in den letzten Jahren intensiv mit nachhaltiger Entwicklung auseinandergesetzt und versucht aus meinen persönlichen Erkenntnissen globale Szenarien zu skizzieren, die ich für wahrscheinlich halte. Die Szenarien sind in drei Kategorien eingeteilt:

  1. Szenarien, die im wesentlichen positiv für die Menschheit sind
  2. Szenarien deren Ausgang unklar ist oder für verschiedene Regionen sehr unterschiedliche Ergebnisse bringt, sowie "Business as Usual" Szenarien, also solche, die im wesentliche das derzeitige Handeln fortschreiben
  3. Szenarien, die negativ für die meisten Menschen sind. Bei jedem Szenario versuche ich die Grundannahmen stichwortartig darzulegen und die daraus aus meiner Sicht wahrscheinlichste Entwicklung. Diese Szenarien sind auch eine Liste sehr fundamentaler Bedrohungen, die unter bestimmten Bedingungen schlagend werden können.
Die einzelnen Szenarien sind nicht notwendigerweise isoliert; eine Mischung ist teilweise ohne weiteres denkbar und ist teilweise auch in den Kommentaren angedeutet.

Warum mache ich dies? Es würde mich sehr freuen, wenn dieses Posting als Kristallisationskeim für eine Diskussion wirkt. Mit anderen Worten: ich veröffentliche diese nicht ganz reife Analyse in der Hoffnung ernsthafte Kritik und Anregungen zu bekommen. Die Szenarien, die im unten stehenden Dokument gelistet sind, stellen nach meiner Ansicht Megatrends beziehungsweise Optionen dar. Jedes Szenario hat für sich genommen eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, die einerseits von nicht leicht beeinflussbaren Faktoren (Naturkatastrophen, außer Kontrolle geratene Technologien) sowie von den Entscheidungen, die wir als Gesellschaft treffen abhängig ist.

Die eigentlichen Szenarien sind als PDF-Dokument verfügbar, weil sie "work in progress" sind in einem Outliner von mir gewartet werden. Ein Umformen in Fließtext ist mir offen gestanden zu mühsam und wäre auch nicht gut zu lesen. Welche konkreten Kommentare würde ich mir erhoffen:

  • Persönliche Einschätzung und Diskussion der Wahrscheinlichkeiten
  • Diskussion der Szenarien: sind manche überflüssig, irrelevant, übertrieben? Fehlen wichtige Szenarien oder Einflussgrößen
  • Empirische Belege, ergänzende Literaturempfehlungen

Dienstag, 30. April 2013

Politische Verantwortung und langfristiges Denken

Langfristiges Denken

Sir John Armitt kennen hierzulande vermutlich nur wenige als Verantwortlichen für die Organisation und Vorbereitung der olympischen Spiele in London. Noch weniger bekannt ist vielleicht, das hervorragende Projektmanagement dieser Spiele, die sogar die Budget-Vorgaben einhalten konnten.

Interessanter erscheint mir allerdings die derzeitige Initiative von John Armitt: Eines der gravierendsten und gleichzeitig fundamentalsten Problem, das wohl alle Demokratien derzeit teilen, ist der Mangel an langfristigem Denken. Wichtige Projekte und Entscheidungen werden in Legislaturperioden und Wahlkämpfen zermahlen, verdünnt und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Nur was sich in zwei, drei oder vier Jahren publikumswirksam darstellen lässt ist hoch auf der Agenda heutiger Politik. 

Leider sind die größten Probleme, mit denen wir konfrontiert sind gerade nicht von derartig kurzfristiger Natur, um nur einige wenige zu nennen: Klimawandel, Energieversorgung, Umbau des Wirtschafts- und Finanzsystems, Erhalt der Biodiversität. John Armitt bezeichnet die fundamentale Herausforderung wie folgt:
"[…] what is the institutional infrastructure that we would benefit from in the UK that would enable us to make better long-term decisions about our infrastructure requirements and our infrastructure policies and how can we avoid flip- flopping backwards and forwards between one government and another in terms of any policies that we may have, or indeed within one government in terms of what policy are we actually following."
Also mit anderen Worten: ist es möglich, eine Infrastruktur zu institutionalisieren, die es erlaubt bessere langfristige Entscheidungen zu treffen ohne diese bei jedem Regierungswechsel wieder aufs neue zu hinterfragen und wenig zielführend zu verändern. John Armitt definiert dabei "langfristig" als einen Zeitraum von 20–30 Jahren. Er analysiert auch ähnliche Institutionen und Prozesse in Singapur, Frankreich und Holland. 

Das Konzept ist noch in Erarbeitung, aber für mich ist schon die Diskussion in höchstem Maße relevant, weil sie den Finger genau auf den Wunden Punkt moderner Demokratien legt. In manchen elitären Kreisen wird oft hinter gar nicht mehr so vorgehaltener Hand das Ende des demokratischen Modells beschworen. Eine "sanfte" Form eines autoritären Staates könnte die Probleme der Zeit besser regeln. China würde uns den Weg in die Zukunft zeigen. Ohnedies wäre den Menschen Freiheit und Demokratie ziemlich egal, solange die Führung für eine solide ökonomische Situation sorgt.

Demokratie im Rückzugsgefecht

Tatsächlich erleben wir auch in Europa eine Demokratie im Rückzugsgefecht. Ist Terrorismus oder die Rettung des Finanzsystem an der Tagesordnung, spielt die Meinung der Bürger bei Entscheidungen keine Rolle mehr. Die von Deutschland der ganzen EU verordnete Austeritätspolitik spricht eine klare Sprache. Und letzteres, wohlgemerkt, wohl nicht aus tatsächlich politischem Kalkül heraus, sondern sich dem vermeintlichen Druck der Märkte beugend. Mit anderen Worten: kommt es zu einem Konflikt zwischen Markt und Bevölkerung, oder anders ausgedrückt zwischen wichtigen Aktoren und Bürgern, so sind wir heute schon sehr gerne bereit die "Spielerei" Demokratie bleiben zu lassen und "ernsthafte" Entscheidungen zu treffen. Da müssen wir dann halt durch. You'll thank me later...

Aber vielleicht haben die Märkte ja recht? Ist es nicht wirklich für uns alle besser, wenn Markt-Marionetten (wie die heutige politische "Elite") den dummen Massen Demokratie vorspielen, tatsächlich aber das Richtige veranlassen? Märkte wären ja letztlich nichts anderes als globale Strukturen, deren unsichtbare Hand unfehlbar (wir wir ja aus Erfahrung wissen) den richtigen Weg weist. Und wieder werden wir im Kreis gedreht und verwirrt. In dem Krisen-, Terrorismus- und Märkte-Geschwätz verlieren wir aus den Augen, warum über Jahrhunderte für Demokratie gekämpft wurde. Es ging nie in erster Linie um kurzfristigen ökonomischen Wohlstand. Mit Karl Poppers Worten: "Die Demokratie erlaubt uns, schlechte oder untüchtige tyrannische Herrscher ohne Blutvergießen loszuwerden." Wir wählen nicht in erster Linie für jemanden, sondern für das Recht jemanden vergleichsweise einfach loszuwerden. Das alleine halte ich für eine der fundamentalsten Errungenschaft moderner Gesellschaften. 

Interessanterweise wird gerade diese Grundfunktion der Demokratie von einer Seite bedroht, die vielleicht sogar Karl Popper überrascht hätte: Denn die Bedrohung kommt weniger daher, dass politische Parteien demokratische Prinzipien aushöhlen oder unterminieren würden (obwohl auch das geschieht). Um schlechte oder untüchtige Herrscher loswerden zu können muss vielmehr eine andere Voraussetzung gegeben sein: zuordenbare Verantwortung. Der Diktator, der Massenmord veranlasst, der Menschen foltert, handelt falsch, aber transparent. Die heutige Politik wird aber so verworren gestaltet, dass häufig gar nicht mehr nachvollziehbar ist, wer welche Gesetzte geschrieben hat, wer welche politischen Aktionen verantwortet. Wer sind denn bitte "Märkte"? (Noch dazu in einer Zeit, wo Groß-Investoren und Institutionen Marktpreise nach belieben manipulieren können.) Wer hat die "Terrorgefahr" eingeschätzt? Experten, Geheimdienste. Aha. Wer hat die Entscheidung über den Irak-Krieg getroffen. Der Präsident. Wirklich? Ein Mann, der den Irak kaum auf einer Landkarte gefunden hätte? Wer blockiert dringend notwendige Entscheidungen um die Klimakatastrophe in Schach zu halten. Ein republikanischer Senator, der das Schmelzen von Gletschern auf der Erde mit dem Schmelzen von Gletschern auf dem Mars vergleicht? Ein Politiker, der Wettbewerbsnachteile für Frankreich, Österreich oder Deutschland fürchtet. Wirklich? Oder ist es vielleicht eher die Kohle-, Öl-, Gas-, Waffen-, Autoindustrie, der es gelungen ist Marionetten zu installieren und uns glauben zu lassen, wir hätten eine Wahl gehabt?

Verantwortung und Schuld

Die Zuweisung von Verantwortung in komplexen Systemen ist schon prinzipiell schwierig genug. Die Demokratie hätte jedenfalls die Funktion Verantwortung von politischen Entscheidungen zu institutionalisieren und in Personen und Parteien zu fassen. Wenn wir dies nicht ernst nehmen und Entscheidungen tatsächlich intransparent in Hinterzimmern von Lobby-Organisationen fassen lassen, so haben wir die Demokratie verloren. Zuordnung von Schuld bei Fehl-Verhalten von komplexen Systemen an einzelne Stellen ist in der Regel nicht möglich. Zuordnung von Verantwortung von Entscheidungen hingegen schon. Mit anderen Worten: die am Kollaps des Finanzsystems unmittelbar schuldige Person oder konkrete Handlung mag nicht leicht zu verorten sein, und existiert vermutlich gar nicht. Die Struktur des Systems hat das massive Scheitern schon in sich getragen. Es sollte aber klar zuordenbare politische Entscheidungen geben, die eben diese Strukturen des Finanzsystems (die Regulative) verantworten. Lassen wir die Bänker selbst die Regulative schreiben und nur von Politikern darstellen, so wird Verantwortung zur Farce. Verantwortung setzt Fähigkeit und Autonomie voraus. (Übrigens ist auch die politische Entscheidung, die verantwortlichen Banken mit Steuergeldern zu retten und gleichzeitig die Manager im System zu belassen eine politische Entscheidung und ebenfalls verantwortbar. )

Als Nebenbemerkung: wir sollten die beiden Begriffe Schuld und Verantwortung nicht verwechseln. Ein Politiker kann nach bestem Wissen gehandelt haben und ist insofern verantwortlich für die Folgen der Politik, aber nicht notwendigerweise schuldig. Wenigstens die Verantwortung sollte zuordenbar sein, selbst wenn die Schuld dies nicht ist. Schuld gibt es (außer bei böswilligem Handeln) häufig gar nicht, sondern das ungünstige Ergebnis einer systemischen Dynamik wird als solche interpretiert.

Zurück an den Anfang...

Das ursprüngliche Problem bleibt ungelöst: wie gehen wir mit langfristigen Problemen um, an denen die derzeitige Politik offensichtlich scheitert. Eine Möglichkeit ist der derzeitig eingeschlagene Weg: Politik deligiert langfristige Entscheidungen tatsächlich an nicht legitimierte Stellen wie die Märkte oder Lobbies. Eine andere, das Zerreden der Probleme in (internationalen) Kommissionen und auf Konferenzen (wir denken an die Klima-Gipfel). 

Sir John Armitt schlägt eine Kommission vor, die politisch institutionalisiert ist, aber zu einem gewissen Maß entkoppelt von der Parteipolitik agieren kann. Sie interagiert mit Politikern, Wissenschaftern, Vertretern der Bevölkerung, NGOs, Industrie, trifft aber wohl letztlich eigene Entscheidungen. Diese Kommission würde nach seinen Vorstellungen (in Großbritannien) direkt dem Parlament berichten/unterstehen und sich in 10-Jahresintervallen einer fundamentalen Prüfung  unterziehen lassen. Ob diese Kommission über eigene Mittel verfügt oder nur in beratender Funktion tätig ist, steht ebenfalls zur Debatte.

Ebenso offen ist aus meiner Sicht — und damit zurück zur Verantwortung — wie uns der Spagat gelingen soll, Institutionen zu schaffen, die in der Lage sind, langfristiges Denken in den politischen Diskurs zu bringen und dabei weder tagespolitischem Kleingeld zum Opfer zu fallen, noch die Form einer unkontrollierbaren und damit nicht-verantwortbaren Schattenregierung einzunehmen. Dies ist für mich eine Grundfrage der politischen Weiterentwicklung unserer Systeme. Lösen wir sie nicht, delegieren wir sie implizit an Akteure, die wir weder genau zuordnen und damit nicht zur Verantwortung ziehen können. Noch grundsätzlicher gefragt: Wäre eine solche Kommission bereits ein Gegenvorschlag zur Demokratie? Denn notwendige Autonomie steht im Gegensatz zu regelmässig ausgeübter Demokratie. Aber vielleicht ist unsere Demokratie zwar geeignet lokale, regionale Probleme zu lösen (und unsere Strukturen im Grunde auf diese Probleme ausgerichtet), muss aber an globalen, langfristigen Problemen scheitern? Was aber ist dann die Alternative?

Andererseits müssen wir uns vielleicht darüber gar nicht den Kopf zerbrechen, denn solche strukturellen Änderungen benötigen in der Regel die Zustimmung über Parteigrenzen hinweg. Die Konservativen in Großbritannien verweigern zur Zeit schon die Kooperation; somit wird diese Kommission vielleicht nie das Stadium eines Konzeptes verlassen. Und, wozu eine gegenseitige Blockade politischer Kräfte fähig ist, sehen wir derzeit in den USA. Ist dies die "Demokratie" der Zukunft?

Samstag, 30. März 2013

Warum sich Politik (manchmal) nicht auf öffentliche Meinung stützen darf (und schnell handeln sollte)


In den letzten Jahren begegnen wir immer wieder gesellschaftlichen Problemen, wo sich deutlich zeigt, dass die Motivation des Einzelnen diametral gesellschaftlichem Nutzen entgegensteht. Man könnte Beispiele aus der Finanzindustrie oder des Umweltschutzes bringen. Besonders deutlich wird dieses Dilemma derzeit aber am Beispiel der Diskussion um verschärfte Waffengesetzgebung in den USA.

Von politischer/gesellschaftliche Seite betrachtet, ist das Thema eigentlich seit Jahrzehnten völlig klar: Privater Waffenbesitz führt zu höherer Gewalt, mehr Toten, mehr Verletzten, mehr (gefährlichen) Straftaten. Der Besitz einer Waffe führt zu einer höheren Gefährdung, nicht zu mehr Sicherheit. Hier kann man, wie etwa die National Rifle Association versuchen die wirrsten Gegenargumente zu bringen, aber näherer Betrachtung halten sie nicht statt. Daher ist auch in den meisten Industrienationen der private Waffenbesitz streng geregelt. Automatische Waffen und Kriegswaffen sind selbstverständlich verboten.

Nicht so in den USA. 

Interessant ist es nun, die Motivation des Individuums zu betrachten. Seit Präsident Obama anlassgetrieben die Waffengesetzgebung wieder einmal zum Thema gemacht hat, werden mehr Waffen als je zuvor verkauft. Und dies aus sehr gutem Grund! Denn was gut für die Gesellschaft ist, muss (aus Sicht des Individuums) nicht gut für den Einzelnen sein. Lebt man in einer Gesellschaft, die am zerbrechen ist – man denke an die Kreditkrise, die bröckelnde Infrastruktur, der politische Stillstand seit Jahren – so darf es niemanden wundern, dass sich Bürger immer weniger auf staatliche Maßnahmen verlassen wollen. Lebt man ohnedies schon in einer gefährlichen Nachbarschaft, oder stellt man sich die Frage, ob die nächsten Budgetkürzungen Polizei und andere Einsatzkräfte betreffen werden, so führt dies zu einer weiteren Verunsicherung.

In einigen Ländern Süd-Amerikas lässt sich erkennen, wo der Zug bei immer stärkerer Polarisierung der Gesellschaft in Super-Reiche und Arme hinfährt: "Gated Communities", also freiwillige, bewachte Gefängnisse, in die sich die Reichen mit ihren Leibwächtern zurückziehen und bewachen lassen. Soweit ist es in den USA wohl noch nicht, aber es ist zu befürchten, dass es in diese Richtung geht.

Foto von fczuardi (flickr)

Steigt die Verunsicherung auf der einen Seite und sinkt auf der anderen Seite das (ohnedies traditionell geringe) Vertrauen in staatliche Maßnahmen, so ist die logische Konsequenz der Wunsch, den Schutz der Familie in die eigene Hand zu nehmen. Nächste Station: Waffenhändler. Durch die auch durch die Medien transparent gemachte zunehmende Hochrüstung der Bürger, wird die Situation noch gefährlicher, was wieder als Motivation für weitere Aufrüstung gesehen werden kann. Je länger die Politik nur ankündigt und nicht handelt, desto schlimmer wird es naturgemäß. Sehe ich mich umgeben von bis an die Zähne bewaffneten Nachbarn, und erfahre ich weiters, dass es möglicherweise bald keine Waffen mehr zu kaufen gibt (oder der Kauf jedenfalls deutlich erschwert wird) – was wird die natürliche Reaktion sein?

Ein Rüstungswettlauf, der zwischen Staaten seit Jahrzehnten nichts Neues ist, erfasst nun die Bervölkerung. Das genaue Gegenteil dessen, was Obama eigentlich erreichen will. Derzeit betrifft es die USA. Geht es in Europa so weiter, wie die Krise vermuten lässt, wird wohl auch dieser Trend – wie so viele andere zuvor – aus den USA zu uns kommen. 

Was für den Einzelnen vernünftig ist – schadet der Gesellschaft massiv. Die bekannte "Tragik der Allmende" (tragedy of the commons) beruht auf denselben Prinzipien. Ebenso die fundamentalen Fehler der Finanz-Industrie. Und darin liegt ein Ur-Problem moderner Gesellschaft. Wie geht man mit Problemen um, bei denen die Motivation des Einzelnen sich dramatisch von der Motivation der Gesellschaft unterscheidet?

Sonntag, 3. Februar 2013

"Fear"-"Uncertainty" and "Doubt": Lehrlinge der Tabaklobby


Dass wir bei dem notwendigen Umbau unserer Gesellschaft und Wirtschaft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten hin zu einer nachhaltigeren Gesellschaft auch auf erhebliche Widerstände stoßen werden, ist offensichtlich. Die Eigenschaft komplexer Systeme spielt  Lobbyisten und fragwürdigen Interessensverbänden in die Hände. Lassen wir uns nicht verunsichern, auch nicht von einer Taktik, die in den letzten Jahrzehnten perfektioniert wurde. Die Amerikaner nennen das Prinzip "FUD": Fear, Uncertainty and Doubt; also "Furcht", "Unsicherheit" und "Zweifel". Die Strategie ist einfach aber wirkungsvoll und wurde vermutlich das erste Mal in großem Maßstab von der Tabak-Lobby eingesetzt. Die Klimawandel-Leugner verwenden diese Strategie ebenso wie die Gentechnik-Kritiker, Handy-Strahlen-Angstmacher oder Proponenten des Kreationismus (Anti-Evolutionstheorie). Um die Strategie besser zu verstehen, werfen wir einen Blick auf die Propaganda-Erfolgsgeschichte der Tabaklobby (in den USA): 

Bereits in den 1930er Jahren zeigen Wissenschafter in Deutschland, dass Rauchen Krebs verursachen kann. Die Nazis betreiben sogar erste Anti-Raucher Kampagnen. Mit Erkenntnissen von "Nazi-Wissenschaftern" war aus verständlichen Gründen nach dem Krieg kein Staat zu machen. Spätestens seit den 1950er Jahren kommen aber amerikanischen und europäische Forschern zu denselben Ergebnissen. Die experimentellen und epidemiologischen Befunde gelten als bei weitem ausreichend und im Jahr 1957 erklärt das US-amerikanische Gesundheitsministerium, dass Rauchen die Hauptursache für die Zunahme an Lungenkrebs darstellt. 1959 erklären führende Wissenschafter sogar, dass der Zusammenhang zwischen Rauchen und Krebs nicht mehr angezweifelt werden kann.

In Hinsicht auf die Folgen des Tabak-Konsums ist die Situation in den 1950er und 1960er Jahren vergleichbar mit dem Kenntnisstand über den Klimawandel in den 1980er und 1990er Jahren. Wissenschaftlich ist das Thema geklärt. Es gibt zahlreiche offene Detailfragen, aber der prinzipielle Zusammenhang ist unstrittig. Im Jahr 1960: Rauchen verursacht Krebs; im Jahr 1990: wir Menschen verursachen einen (wahrscheinlich katastrophalen) Klimawandel. 

So weit, so eindeutig. Was dann ab den 1950er Jahren passiert, ist nicht nur von historischem Interesse: Die Tabakindustrie erkennt die Gefahr, die durch die Erkenntnisse der Wissenschafter droht (ebenso wie die Öl- und Kohle-Lobby heute). Auch kommen die eigenen Wissenschafter zu vergleichbaren Erkenntnissen, was die Gefährlichkeit des Tabaks angeht. Es wird noch schlimmer: bereits in den 1960er Jahren ist der Tabakindustrie auch bekannt, dass Nikotin süchtig macht. Eine Tatsache, über die in der allgemeinen Öffentlichkeit noch bis in die 1980er Jahre (!) diskutiert wird.

Die Industrievertreter hatten eine vergleichsweise einfache, aber wirkungsvolle Strategie entwickelt: Eine Vielzahl an wissenschaftlichen Instituten erhielt größere Mengen an finanziellen Mitteln. Darunter waren natürlich auch einige wenige, die Studien publizierten, die genau auf der Linie der Industrie lagen, oder gar Gefälligkeitsgutachten verfassten. Mehr als einzelne "Abweichler" waren nicht nötig. Journalisten fühlten sich damals verpflichtet vermeintlich "ausgewogen" zu berichten. Viele waren auch nicht in der Lage zu erkennen, dass nur eine ganz geringe Zahl an Wissenschaftern eine dem Konsens abweichende Meinung vertrat, und dies selbstverständlich nicht gleichwertig mit einem wissenschaftlichen Konsens dargestellt werden darf. (Außerdem verkaufen sich hitzige Debatten und Kontroversen besser als klare Erkenntnisse.) Sie hatten weiters nicht erkannt, dass die meisten dieser ohnedies schon geringen Zahl an Zweiflern von der Tabakindustrie bezahlt wurden. 

All dies führte letztlich dazu, dass es bis in die 1970er und 1980er Jahre eine Diskussion in der Öffentlichkeit und in den Medien gab. Ja sogar in den 1990er Jahren wurde noch von Einzelnen lautstark bezweifelt, dass Passivrauchen schädlich sei. In den meisten Industrieländern wurden daraus mittlerweile (wenn auch Jahrzehnte zu spät) Konsequenzen gezogen. In Österreich ist es aber selbst im Jahr 2013 noch möglich (wider jeder Vernunft) in Gaststätten zu rauchen!

Es ist wichtig zu verstehen, dass es für die Tabakindustrie nie darum ging diese Diskussion zu gewinnen. Die Fakten waren klar und jeder in der Industrie wusste das. Die wesentliche Erkenntnis war die folgende: Argumente zählen nicht – sie sind irrelevant. Man gewinnt nicht mit Argumenten, sondern es ist ausreichend, eine Diskussion zwischen vermeintlichen Experten in der Öffentlichkeit aufrecht zu halten und damit Unsicherheit und Zweifel zu stiften. Journalisten berichten und die Menschen hören ohnedies nur mit einem Ohr zu (besonders, wenn die Botschaft eine unbequeme ist). Was die Öffentlichkeit aber fälschlicherweise mitnimmt ist, dass es ganz offenbar noch eine Diskussion zwischen Experten gibt (denn sonst wären sie ja nicht in den Medien), und die Sachlage folglich noch nicht geklärt wäre. Wichtig ist also nur die Präsenz und damit das Vermitteln des Eindrucks, die Faktenlage wäre noch unklar.

Eine völlig falsche Erkenntnis in der Sache, aber das perfekte Ergebnis für die (Tabak)industrie. "Uncertainty" (Unsicherheit) und "Doubt" (Zweifel) gewinnen, wichtige politische und gesellschaftliche Entscheidungen werden verzögert.

Die Tabakindustrie hat vorgezeigt, wie man die Bevölkerung ohne größere Anstrengung mehr als 30 Jahre hinters Licht führen kann. Die Kohle-, Öl- und Auto-Lobby, aber auch Kreationisten und religiöse Fanatiker oder Impfgegner übernehmen heute dieselben Praktiken. Solange man noch irgendeinen Wirrkopf mit akademischem Titel (besser noch einen Arzt) finden kann, der in der Öffentlichkeit den Eindruck eines Diskurses unter Wissenschaftern vermittelt, haben sie gewonnen. Es ist dieselbe Strategie, mit der Ergänzung des dritten Faktors "Fear" (Angst). Veränderung verunsichert viele Menschen und so wird zu der jahrzehntelang erprobten Tabak-Taktik eben noch "Angst" hinzugefügt: es wäre nicht möglich ohne Kohle und Öl auszukommen; der Umstieg wäre wirtschaftlich ruinös; alle anderen machen es auch nicht, "wir" können uns das alleine nicht leisten; Millionen Arbeitsplätze (ganz besonders Ihrer) wäre gefährdet; fossile Energie ist freie Marktwirtschaft – und wir alle wollen ja keinen Kommunismus oder Planwirtschaft; wir lösen das Problem mit anderen (technischen) Mitteln, Stichwort "clean coal", usw. Die meisten Argumente sind unsinnig, längst widerlegt oder stehen jedenfalls in keinem Verhältnis zu den angerichteten Schäden. Aber sie fügen der Unsicherheit und dem Zweifel noch Angst hinzu. 

Wenn es diesen Lobbyisten gelingt, wesentliche  politische Entscheidungen gegen den Klimawandel – vergleichbar der Tabaklobby – für weitere Jahrzehnte hinauszuzögern, so werden die Konsequenzen für uns alle mit großer Wahrscheinlichkeit katastrophal sein. Aber nicht nur Industrievertreter wenden diese "FUD" Strategie mit großem Erfolg an, sondern auch "die andere Seite", nämlich viele Umweltschutz-Organisationen. Wir können das Wort "Tabakindustrie" oder "Kohlelobby" auch durch "Gentechnik-Gegner" ersetzen, und finden dieselben Prinzipien wieder. Diese Polarisierung auf beiden Seiten, die in den letzten Jahrzehnten kultiviert wurde, führt zu einer völlig irrationalen Schlammschlacht, die nur Verlierer kennt.

Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)