Montag, 9. August 2010

Das Ende der Universität und andere Dystopien

Kürzlich wurde ich von einem Kollegen via Twitter auf folgendes Interview von Bill Gates hingewiesen. Das Kernzitat dieses Interviews ist folgendes:
"Five years from now on the web for free you’ll be able to find the best lectures in the world," Gates said at the Techonomy conference in Lake Tahoe, CA today. "It will be better than any single university,"
Die Technik- und Internetgläubigkeit hat natürlich auch vor der Lehre nicht halt gemacht. Man erinnere sich an den Hype des "E-Learning" vor etwa 10 Jahren. Völlig überzogene Erwartungen was didaktische Fortschritte betrifft auf der einen Seite, ebenso überzogene Erwartungen was mögliche Einsparungen betrifft, auf der anderen. Langsam ist aber Ernüchterung eingekehrt. Wir haben gelernt, dass das elektronische Verteilen von Skripten und Bücher nicht E-Learning ist, und damit keinen nennenswerten qualitativen Gewinn bringt. Dass aber zur Produktion guter E-Learning Inhalte wesentlich mehr Aufwand in die Erstellung der Inhalte für die neuen Medien investiert werden muss. 

Insofern ist ein Kern an Wahrheit in dem Interview zu finden. Nur wenige können es sich leisten gute (multimediale) Inhalte für Online-Kurse zu erstellen. Auch ist es richtig, dass die prinzipiell verfügbare Information durch das Internet deutlich gewachsen ist. Die Betonung liegt aber auf "prinzipiell". Im übrigen wird dies auch in einem Nebensatz in dem Interview klar gesagt: 
"Well, provided they’re self-motivated learners..." 
Gemeint sind die Studenten. Bildung bedeutet eben gerade nicht Studenten oder Schüler vor den Computer zu setzen und sie mehr oder weniger moderiert sich selbst zu überlassen. Wobei es in der Praxis eher beim "weniger" bleiben wird, bedenkt man wie schlecht schon heute die Betreuungsverhältnisse an den meisten Unis sind. Kritisches Denken, das Hinterfragen und Aufarbeiten von Quellen setzt Vorwissen, eben Bildung und Erfahrung voraus; muss also gelernt und gelehrt werden. Die Studenten dabei sich selbst zu überlassen und zu erwarten, dass dann "magisch" durch die "Macht der Gruppe", oder um einen Hype zu nennen (der zum Glück schon wieder im abklingen ist) durch "Crowdsourcing" gefunden wird, ist bestenfalls eine Illusion.

Ich möchte in einem Punkt nicht falsch verstanden werden: das Internet, neue Medien etc. können in der Ausbildung sehr wertvolle Dienste leisten: durch leichter verfügbare Informationsquellen oder durch Kollaborationsmöglichkeiten oder interaktive Inhalte wie Simulationen. Die Rolle des Lehrers wird dadurch aber nicht unwichtiger sondern im Gegenteil viel wichtiger. Ebenso die Rolle der Universität oder Schule. Das Ergebnis von schlecht betreuten Studentenarbeiten können wir heute an jedem Eck finden: Seminar- und Diplomarbeiten die sich im wesentlichen darauf beschränken die ersten Google Hits zu verwenden oder Absätze aus dem erstbesten Wikipedia-Artikel unkritisch abzuschreiben, oder bei ganz fleißigen: diese immerhin umzuformulieren. 

Es kommt noch ein weiterer sehr problematischer Punkt als Folge von Gates relativ unkritischer Technikgläubigkeit hinzu: die Annahme nämlich, es gäbe "eine beste Vorlesung". Diese würde natürlich nach heutiger Universitätslogik vom MIT, Stanford oder ähnlichen "Eliteuniversitäten" kommen. Mit dieser Annahme wird aber gerade die Kernidee der Universität zumindest ausgehöhlt, wenn nicht zerstört. Es gibt einen guten Grund, warum "Freiheit" in der Lehre immer ein wichtiges Gut war und beispielsweise auch wesentlicher Teil der venia ist. Der Grund ist gerade der, dass es besonders in der Universitätslehre eben häufig nicht eine beste Vorlesung gibt. In der Vielfalt und der kritischen Diskussion liegt die Stärke: Das Internet erlaubt allerdings den motivierteren Studenten die Aussagen ihrer eigenen Professoren mit denen anderer Universitäten abzugleichen und damit zu verorten.

Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Gates Vision zum Teil wahr werden wird und es darauf hinausläuft, dass wir die Lehre letztlich völlig aufs Abstellgleis schieben und wir dann vom Studiendekan nur mehr den Hinweis bekommen, es gäbe ja eh eine "super" Vorlesung aus Stanford. Warum verwenden wir nicht einfach diese anstatt uns selbst die Mühe zu machen uns mit dem Thema auseinanderzusetzen.  Damit wird der faule Professor, der schon heute nichts anderes macht als Präsentationen aus dem Internet zusammenzukopieren zur Norm. "Copy and Paste" auf der nächsten Ebene, statt kritischer Evaluierung und Nutzung verschiedenster Quellen. 

Ein tolles Beispiel für die Studenten und eine würdige Vision für die Zukunft der Lehre! Zum Abschluss noch ein weiteres Zitat vom Didaktik-Visionär Gates:
"One particular problem with the education system according to Gates is text books. Even in grade schools, they can be 300 pages for a book about math. "They’re giant, intimidating books," he said. "I look at them and think: what on Earth is in there?"
Nun möchte ich nicht behaupten, dass Schulbücher immer gut sind (ganz besonders nicht in den USA). Hierzu gibt es aber einen wesentlich berufeneren und lesenswerteren Kommentar von Richard Feynman.

Worauf Gates Kommentar aber meiner Ansicht nach hinausläuft ist genau die Bildungsfeindlichkeit die uns heute aus jeder Fernsehserie entgegenschlägt: "Wer braucht schon 100 Seiten Mathematik, zieh dir doch drei YouTube Videos rein, das reicht auch". Unsinn. Lernen ist manchmal schwierig, oft langwierig und eben nicht immer das reine Vergnügen. Wer etwas anderes behauptet lügt sich selbst und seinen Schülern etwas vor. Ja, multimediale Angebote, Spiele, Videos, Simulationen können manches leichter und verständlicher machen; Bücher können verbessert werden, dennoch: Lernen ist eben nicht nur vergnügtes Spielen sondern auch harte Arbeit. Auch das, oder gerade das sollte ein Lehrer vermitteln können. 

Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)