Donnerstag, 25. Oktober 2007

Systeme und Strukturen

In den letzten Tagen habe ich wieder intensiver über Systeme nachgedacht und dabei ist mir der Gedanke gekommen, dass man vermutlich besser zwischen Systemen und Strukturen unterscheiden sollte. Beide wechselwirken in einer intensiven Art und Weise miteinander, bedingen einander, das ist klar. Die Struktur übt aber eine überaschend bestimmenden und auch Hemmenden Einfluss auf die Möglichkeiten und Freiheitsgrade, die ein System hat aus (und das ist vielleicht der überraschendere Teil der Überlegung):

Ich denke, die meisten sind sich über die systemische Natur unserer Umwelt im weitesten Sinne bewusst, denken aber, das diese prinzipiell recht flexibel und modifizierbar sind. Also bspw. das politische System eines Landes, die Struktur eines Unternehmens, Lebensstil, oder die Art und Weise wie Wissenschaft gemacht wird. In diesem Sinne sind die systemischen Eigenschaften eher die dynamischen, auf Interaktion bezogene Eigenschaften also z.B. die direkt an den Menschen gekoppelt sind, also eben das Verhalten der Menschen selbst, die Kommunikation im allgemeinen (wer kommuniziert mit wem, wann, wie...), die getroffenen Aussagen im besonderen, die Mobilität (z.B. Reisen), Finanzflüsse etc. Die strukturellen Eigenschaften wären dann eher Artefakte, statische Dinge wie Gebäude, Kommunikationsnetze, Strassen, Flughäfen, aber auch Bibilotheken, Bücher, Filme (nicht der Inhalt derselben, sondern die "Hardware", also die Formate, Art und Weise wie diese produziert werden).

Die Strukturen sind also, in der ersten Betrachtung, ein Produkt der Systeme. Um ein Beispiel vom letzten Posting aufzugreifen: wenn ich ein Auto erfinde, und dieses sich systemisch/konzeptionell beginnt durchzusetzen so benötigt dies weitere Änderungen die sich aber nun strukturell niederschlagen: Tankstellen, ein Tanstellenversorgungssystem, Ölindustrie, Tanker, Strassen usw. dies ist eine Mischung aus neuen Systemen die entstehen (also z.B. petrochemische Betriebe) aber auch Strukturen die geschaffen werden (z.B. die Tankstellen, der Strassenbau), zunächst nur der Unterstützung eines neuen Systemes (dem Autoverkehr) dienen.

Beharrende Effekte von Strukturen

Dies ist aber eben nur die erste Betrachtung, und vielleicht sollte in dieser Hinsicht mein voriger Artikel etwas erweitert werden. Systeme sind in sich schon häufig äußerst resistent gegenüber Veränderungen (bzw. werden in ihrere Komplexität und Vernetzung dramatisch unterschätzt und Änderungen an Parametern haben ganz andere Auswirkungen als geplant). Bleiben wir aber zunächst beim Auto-Beispiel: Selbst wenn die Auto Industrie bessere (weniger umweltschädliche) Autos herstellen könnte, bspw. basierend auf alternativen Energieformen so müsste sie starke innere systemischen Widerstände beseitigen um diese auf den Markt bringen zu können. Bspw. ist das Marketing auf klassische Autos geschult, ebenso die Verkäufer und Mechaniker. Weiters ist die "Fachpresse" also Automagazine, Fernsehshows, Film, Unterhaltung sowie das "Mindset" des Konsumenten auf eben diesen bekannten Typ von Fahrzeug geprägt, so lächerlich das bei neutraler Betrachtung auch erscheinen mag. Daß dies ganz unwahrscheinliche Dimensionen annehmen kann kann man an verschiedenen Beispielen sehen:

Mercedes brachte in den 80er oder 90er Jahren Modelle auf den Markt wo man von den 8 Zylindern einige abschalten konnte um ökonomischer fahren zu können. Ein Fehlschlag, der Köufer wollte das nicht, das war nicht das "Fahrerlebnis" das er gewohnt war. Egal wie viel Benzin wir unnötig verbrauchen weil die Leistung nicht benötigt wird, wir wollen 8 Zylinder hören... Elektroautos kämpfen scheinbar mit Akzeptanzproblemen, weil Fahrer an die Dynamik von Benzinmotoren gewohnt sind, und Elektromotoren nunmal ein etwas anderes Fahrverhalten zeigen. Oder man denke an die unglaublich bornierte Diskussion die in Europa über Jahrzehnte gelaufen ist, wo sich die Automatikschaltung lange nicht durchsetzen konnte. Nicht etwa aus rationalen Motiven (bspw. weil diese etwas mehr Benzin verbrauchte, was natürlich ein wichtiges Argument gewesen wäre!) sondern weil die Fahrer ihr Stangerl hin und her schieben wollten, und sich davon nicht lösen wollten. Die Industrie hat diesen Fahrern dann de facto Automatikautos verkauft wo sie dann doch noch ein wenig mit dem Schaltknüppel rumrudern konnten wenn ihnen danach war.

Dies sind alles systemische Eigenschaften und Probleme, und noch dazu unglaublich banale, ja geradezu dumme möchte man sagen. Nun scheitert(e) so manche Innovation schon an solchen lächerlichen systemischen Problemen. Hinzu kommen aber, und das ist nun der oben angeführte Gedanke, zusätzlich noch strukturelle Probleme. Ich bleibe beim Auto Beispiel: es werden sich bestimmte Antriebe auf lange Zeit nicht durchsetzen weil die vom vorigen System (flüssige Kohlenwasserstoffe) geschaffenen Strukturen noch viel persistenter sind als die systemischen Eigenschaften wie z.B. das Tankstellensystem. Für Wasserstoffautos bräuchte man ganz andere Tanksysteme, ebenso für innovative neue Ansätze wo Metallhydrate in Pellet-Form "getankt" werden usw. Dies wird auf massive strukturelle Widerstände stossen.

Die innovativste :-) aller Strukturen: Die Wissenschaft

Ein anderes Beispiel aus der Wissenschaft. Wir sind an die Art und Weise gewohnt, wie Wissenschaft sich austauscht: Konferenzen, Publikationen in Zeitschriften und Büchern. Dies hat systemische Aspekte (in unseren Köpfen) aber auch strukturelle: z.B. Konferenztourismus, Verlagshäuser mit Publikationstradition, Verankerung dieser Traditionen in universitären Strukturen.

Nun könnte man, meine ich, mit großer Berechtigung die Frage stellen, ob der oft geradezu mit Langeweile durchgeführte Prozess einer wissenschaftlichen Konferenz wirklich noch die Struktur hat, die für heutige Wissensvermittlung erforderlich ist? Wir erfahren heute viel über das Internet, natürlich auch noch Bücher (die immer mehr zu lebendige elektronische Formen werden, siehe Strategien wie O'Reilly Safari Books), Foren, Podcasts, Videos, Interviews etc. wir haben digitale Bibliotheken wo wir bei Bedarf in Publikationen suchen können. Ist die traditionelle Form der Konferenz überhaupt noch sinnvoll, oder eigentlich nur mehr ein strukturelles Vehikel, damit Wissenschafter die geforderten Publikationen irgendwo abliefern können?

Natürlich gibt es "Leuchttürme" in der Konferenzlandschaft, aber auch dort ist doch eigentlich meist das interessanteste die eingeladenen "Keynote" Speaker sowie selektierte Vorträge und natürlich der soziale Aspekt Kollegen treffen zu können und Erfahrungen auszutauschen (und dieser Aspekt ist sicherlich nicht zu unterschätzen!).

Warum haben wir also nicht den Mut zu sagen: Hören wir doch auf mit diesem dummen "Session" Modell, wo in n-parallel Sessions jeder Teilnehmer seine Powerpoint Folien vorliest, die Zuhörer zu 1/3 zuhören, zu 1/3 schlafen und zu 1/3 im WLAN surfen, Mails schreiben und andere Arbeiten erledigen. Dann irgendwann am Nachmittag gehen wir noch gelangweilt bei den ausgestellten Postern vorbei. Was soll das? Dieses Modell ist strukturell aus dem letzten Jahrhundert und fühlt sich genauso an. Diese Strukturen sind systemisch und strukturell geprägt von der Art und Weise wie es "immer" (zumindest in den letzten hundert Jahren) gemacht wurde, wie Hotels und Unis konstruiert sind, wie Verlage und wissenschaftliche Reputationsgewinnung funktioniert. Haben wir nicht den Mut festzustellen, dass das Vorlesen irgendwelcher Folien heute einfach keinen Platz mehr hat? Warum fokussieren wir uns nicht z.B. mehr auf den kommunikativen Aspekt? Auf konkrete Diskussions-Sessions beispielsweise wo ein bestimmtes Thema im Vordergrund steht und nicht eine Reihe von Präsentationen, wo die Vertreter der entsprechenden Publikationen mit anderen über ihre Erkenntnisse diskutieren, anstatt diese vorzutragen. Nur um eine Idee zu bringen. Es gibt auch andere Ansätze z.B. Barcamps. Alles wäre einen Versuch wert.

Wissenschaft ist doch Diskussion und Konfrontation von Ideen und nicht ein Vorlese- und Vortragswettbewerb, wo 20 Minuten vorgetragen und 5 Minuten kurz Fragen gestellt werden können. Was soll das? Es ist doch erbärmlich dass gerade die Community, die von sich selbst behauptet die innovativste zu sein, in Strukturen des vorigen Jahrhunderts verharrt! Aber eben auch hier haben wir Strukturen geschaffen die wir kaum mehr los werden und die uns gegen alle Vernunft treiben in relativ sinnentlehrten Strukturen weiterzumachen. Um eine alternativen Vorschlag zu machen: muss wirklich jeder seine Arbeit präsentieren? Warum selektiert man nicht eine kleine Anzahl an repräsentativen Arbeiten, die tatsächlich vorgetragen werden, die restlichen werden inhaltlich gruppiert von Session Chairs kurz zusammengefasst und dann unter Teilnahme der Autoren diskutiert und die Autoren auch tatsächlich gefordert ihre Ideen zu verteidigen und nicht nur gelangweilt zu präsentieren "weil es sich halt so gehört".

Vielleicht bin ich aber auch schon zu sehr am System verhaftet und es gibt noch viel bessere Ideen.

Vorschläge?

Jedenfalls, um die Beispiele zu verlassen und zum konkreten Thema zurückzukehren: Strukturen sind einerseits zunächst das Ergebniss von Systemveränderungen und von neuen Systemen, andererseits sind sie wie das Skelett von Lebewesen: einmal evolutionär entstanden gibt es kaum mehr einen Weg zurück, kaum mehr Änderungen und sie üben wiederrum eine massive strukturierende Wirkung auf die Systeme aus, die sich (schon entgegen inneren Widerständen) versuchen zu verändern. Dies ist der Grund, warum viele Reformen ein Gezänk an der Oberfläche bleiben, warum bestehende wirtschafts- und Finanzstrukturen auch wenn sie nachweisbar negative Effekte haben kaum zu ändern sind.

Strukturen und die Imitation des Menschen

Allerdings, und dies ist der letzte Punkt den ich einbringen möchte: Strukturen sind auch der Beweis dafür, dass systemische Ideen funktionieren. Ein Hochhaus übt also einen strukturellen Druck auf die Gesellschaft aus, zeigt aber zum gleichen Zeitpunkt auch, dass die Idee des Hochhauses (der Statik, Logistik, ...) funktioniert. Dasselbe gilt für Finanz- und Wirtschaftsstrukturen. Haben sich solche Strukturen (vielleicht sogar global) gebildet beweist dies zwar keinesfalls, dass diese die bestmöglichen sind, aber immerhin, dass die Systeme die darauf aufbauen in sich in in Bezug auf andere funktionieren (jedenfalls in einem bestimmten Kontext). Wir Menschen sind nun ganz massive "Nachahmungstäter", d.h. von Kindheit an (das ist jedem klar) bis zum Tod (das ist den wenigsten klar) ahmen wir nach, was wir um uns herum sehen, wir werden geprägt und strukturiert davon, was um uns herum geschieht. Systeme üben schon eine anziehende Wirkung aus, massive Strukturen aber sind für uns fast unwiderstehlich: Wir können uns dann kaum vorstellen, dass es anders auch gehen könnte; wenn es alle auf eine bestimmte Art und Weise machen (und dies durch die entsprechenden Strukturen wiedergespiegelt wird) so wird es schon das Richtige sein und es gibt uns Sicherheit weil wir das nicht weiter hinterfragen müssen: wie man wohnt, wie und ob man reist, wie man kommuniziert, was man liest, wie man Sex hat, wie man sich kleidet, was man richtig und falsch findet.

Sicher, manche sind manchmal in der Lage einzelnde Dinge zu hinterfragen, aber dann doch zumeist wieder innerhalb der möglichen Strukturen. Erlauben es die Strukturen nicht, so gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten: (1) Das Denken und kritische Hinterfragen bleiben lassen und sich auf das zurückziehen, was die Strukturen erlauben (2) Man versucht die Strukturen zu ändern und neue zu schaffen (3) Man sucht sich andere Strukturen.

Etwas konkreter zu Punkt (1) dies ist offensichtlich die Strategie die die meisten Menschen fast immer und praktischalle Menschen meistens anwenden; (2) ist manchmal eine Möglichkeit: in einem Land, wo Zensur herrscht könnte man versuchen Untergrundmedien zu gründen, oder sich in anderer Weise zu vernetzen; man könnte auch Umweltaktivist sein, und mit dem Auto(bus) zur Demonstration gegen die Klimaerwärmung fahren; jedenfalls ist es typischerweise ein langfristiger Prozess und zu (3) man könnte bspw. Auswandern. Dies war beispielsweise der klassische Weg mancher Dissidenten zu Zeiten des Ostblocks. Allerdings dürfen wir eines nicht vergessen: wir leben tatsächlich in einer immer stärker globalisierten Welt wo gleichartige Strukturen sich gnadenlos und gleichmässig über die ganze Welt verteilen (unter anderem auch, weil gleichartige Strukturen weltweit natürlich effizienter sind, als Systembrüche, das wurde noch gar nicht erwähnt. Auch dann, wenn individuelle Strukturen lokal besser sein könnten).

Ich schreibe diesen Artikel gerade in Hong Kong. Hong Kong ist China und China eines der letzten (pseudo-)kommunistischen Länder. Wenn ich hier aus dem Fenster blicke bin ich von mehr westlich orientierten Wirtschaftsstrukturen umgeben als in jedem anderen europäischen Land, das ich kenne. Die 7-Eleven Dichte pro Quadratmeter ist vermutlich sogar höher als in New York. Ist der 7-Eleven und McDonalds und Nokia Samen mal gefallen so pflanzt er sich also scheinbar in einer immer massiveren Sogwirkung globaler Strukturen auch weiter fort.

Fazit

Die Lehre ist also vermutlich, dass deutliche Systemänderungen in der heutigen Zeit ebenso massive Strukturänderungen zur Folge haben müssen, dass man also gegen zwei massiv Widerstand leistende Effekte ankämpfen muss, und dass neue Systeme meist eben auch neuer Strukturen bedürfen. Je globaler und persistenter diese Strukturen nun sind, desto drängender müssen die Probleme und Motivationen sein, die in der Lage sind diese Widerstände zu überwinden.

Dies ist auch genau einer der Gründe, warum es in der Geschichte der Menschen so gut wie niemals weiter vorausschauende Politik gegeben hat, weil eben die Motivationen, die Probleme die ein bestimmtes momentanes System in der Zukunft auslösen kann/könnte (1) nie so sicher waren, dass man es nicht verdrängen konnte und (2) eben weil die Effekte deutlich in der Zukunft liegen der Leidensdruck im Jetzt nicht groß genug war. Heute ist der erste Punkt aber bei manchen Problemen nicht mehr gegeben, weil die Wissenschaft in manchen Prognosen ziemlich sicher sein kann (z.B. Klimaprognosen); der zweite Punkt ist aber leider nach wie vor gültig.

Und dies ist einer der Gründe warum es so schwierig ist eine globale Klimapolitik zu machen, bevor Hamburg und New York unter Wasser stehen. Dasselbe gilt für eine Wirtschaftspolitik die nicht nur die (im Augenblick! mächtigen) Gewinner im Auge hat.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Zum Thema 'Systeme und Strukturen' fiel mir der Weg des geringsten Wiederstands von Robert Fritz ein. Er hantiert zwar ein anderes Strukturbegriff, hat dafür ein bekannter Systemiker (Peter Senge) als Fan. Und das Buch kann ich nur raten. Und da mir auffiel, dass wir viele Interressen gemeinsam haben, bin ich so frech und empfehle auch 'Swarm Creativity' von Peter Gloor.

Schöne Grüße,
Johan Steunenberg

Alexander Schatten hat gesagt…

Vielen Dank für die interessanten Kommentare. Werde mir die Empfehlungen mal näher ansehen!

Es scheint, dass wir in der Tat an sehr ählichen Themen Interesse haben...

Zum Abschluss...

Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mein Blog zu lesen. Natürlich sind viele Dinge, die ich hier diskutiere aus einem subjektiven Blickwinkel geschrieben. Vielleicht teilen Sie einige Ansichten auch nicht: Es würde mich jedenfalls freuen, Kommentare zu lesen...

Noch ein Zitat zum Schluß:

"Ich verhielt mich so, als wartete ein Heer von Zwergen nur darauf, meine Einsicht in das Tagesproblem, zur Urteilsfindung von Gesellschaft und Politik zu übersetzen. Und nun stellt sich heraus: Dieses Heer gibt es nicht.

Ganz im Gegenteil erweist sich das kulturelle Getriebe als selbstimmunisierend gegen Kritik und Widerlegung. Es ist dem Lernen feind und wehrt sich in kollektiver Geschlossenheit gegen Umdeutung und Innovation.", Rupert Riedl, Evolution und Erkenntnis, Piper (1985)

:-)